Parlamentswahl in Ungarn: Ein­ze­men­tierte Veto­po­si­tionen?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper

29.03.2022

 

Trotz Kritik durch die Venedig Kommission hat Ungarn zahlreiche Gesetze an eine Zweidrittelmehrheit im Parlament geknüpft. Und die ist über ein problematisches Wahlsystem für Orbans Partei leicht für sich zu nutzen, erklärt Herbert Küpper. 

Am 3. April 2022 wird in Ungarn gewählt. Erstmals hat es die zersplitterte Opposition von ganz links bis ganz rechts geschafft, sich zu einen. Angenommen, damit erringen sie die Mehrheit der Stimmen und auch der Mandate: Behält Fidesz (Fiatal Demokraták Szövetsége = Bund Junger Demokraten) Machtpositionen, die ihr ein Veto gegen die neue Regierung einräumen? Das ist denkbar. 

Denn die Partei unter Führung von Viktor Orbán errang in den Parlamentswahlen 2010 etwas mehr als 50 Prozent der Zweitstimmen, was zusammen mit den Erfolgen in den Einzelwahlkreisen für eine Zweidrittelmehrheit der Mandate reichte. Mit dieser Zweidrittelmehrheit machte sich Fidesz daran, die gesamte Rechtsordnung umzubauen. Dazu gehörte der Erlass einer neuen Verfassung (Ungarns Grundgesetz vom 25. April 2011 – GrundG) und eines neuen Wahlrechts, das ab den folgenden Parlamentswahlen 2014 Anwendung fand. In den Parlamentswahlen 2014 und 2018 errang Fidesz teils etwas mehr, teils etwas weniger als die Mehrheit der Stimmen, was stets reichte, um eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze zu erlangen.  

Wenn hier von "Fidesz" die Rede ist, ist zu bedenken, dass es sich tatsächlich um einen Bund aus zwei Parteien handelt: Fidesz und die KDNP (Christdemokratische Volkspartei). Die KDNP ist allerdings in diesem Bündnis zu einer Phantompartei verkommen, die Fidesz sich hält, um das kleine Lager der kirchengebundenen Wähler abzuschöpfen. Wegen der praktischen Bedeutungslosigkeit der KDNP ist hier durchgängig von Fidesz die Rede, auch wenn das Bündnis Fidesz-KDNP gemeint ist. 

Zahlreiche Gesetze erfordern Zweidrittelmehrheit 

Seit der Wende bindet die ungarische Verfassung zahlreiche Gesetze an eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Dies wurde 1989 von der demokratischen Opposition und der sozialistischen Staatspartei vereinbart, damit keine Seite für wichtig erachtete Entscheidungen alleine treffen kann. Das GrundG hat den Kreis der Fragen, die nur mit Zweidrittelgesetz geregelt werden können, leicht erweitert, v.a. um einige tagespolitische Materien.  

Im Vorfeld des Erlasses des GrundG mahnte die Venedig-Kommission an, dass Zweidrittelgesetze aus demokratiepolitischer Sicht bedenklich seien, weil sie die Zusammenarbeit von Regierung und Opposition erzwängen und somit demokratische Verantwortung verwischten. Unter Berufung auf die Tradition behielt Fidesz das Institut der Zweidrittelgesetze bei. 

Das eigentliche Problem: das Wahlsystem 

An dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit ist grundsätzlich jedenfalls für wichtige Personalentscheidungen des Parlaments nichts einzuwenden. Diese gibt es auch in Deutschland. Sie hat den Sinn, der jeweiligen Mehrheit zu verwehren, alleine wichtige Ämter zu besetzen. Bei Gesetzen allerdings sprechen die besseren Gründe dafür, die Fragen, für die erhöhter Konsens gelten soll, in die Verfassung aufzunehmen und alles andere der einfachen Parlamentsmehrheit zu überlassen, die sich dafür in den nächsten Wahlen verantworten muss. 

Ungarn hat sich anders entschieden. Das seit 2011 geltende ungarische Wahlsystem verwandelt schon weniger als 50 Prozent der Stimmen in eine Zweidrittelmehrheit der Mandate. Diese Wirkung ist extrem verzerrend.  

Einen gewissen Bonus für die stärkste Partei hält das ungarische Wahlrecht seit der Wende bereit. Das wurde 1989 am Runden Tisch zwischen Staatspartei und Opposition so vereinbart, um eine stabile Regierung zu garantieren. Das neue Wahlrecht nach 2011 hat über verschiedene Kompensationsmechanismen diesen Bonus bis weit über die Verzerrungsgrenze hinaus ausgebaut und zudem noch die Wahlkreise neu gezogen und hierbei kräftig "Gerrymandering" zu eigenen Gunsten betrieben.  

Hier liegt das eigentliche Problem: Das verzerrende Wahlsystem stattet den relativ Stärksten mit einer Zweidrittelmehrheit aus. Damit laufen checks and balances leer. Wenn Fidesz nur so viele Mandate bekäme, wie die Kandidaten Stimmen erringen, hätte die Partei keine Zweidrittelmehrheit, und das System von checks and balances in der Verfassung würde funktionieren.  

So aber wären einige Entscheidungen auch von einer neuen Regierung kaum zu ändern. 

Schnell noch neue Präsidentin gewählt 

Mit der noch vorhandenen Zweidrittelmehrheit wählte Fidesz am 10. März 2022 schnell ihre Kandidatin Katalin Novák zur Nachfolgerin in das Amt des Präsidenten. Das Amt steht in Ungarn etwa zwischen den Bundespräsidenten Deutschlands und Österreichs. Es ist vorwiegend symbolisch, kann aber in bestimmten Konstellationen das Parlament auflösen und hat dabei politisches Ermessen. Auch die Benennung eines Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt ist das Monopol des Staatsoberhaupts, das nicht gezwungen werden kann, einen für das Parlament wählbaren Kandidaten vorzuschlagen. Wenn die Wahl des Regierungschefs mehrfach scheitert, kann das Staatsoberhaupt das Parlament auflösen. 

Seit der Wiedereinrichtung dieses Amtes im Jahr 1990 wird der Präsident vom Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt. Die Wahl findet laut Art. 11 GrundG mindestens 30 und höchstens 60 Tage vor dem Mandatsende des Vorgängers statt. Die Amtszeit des jetzigen Präsidenten János Áder läuft am 10. Mai 2022 ab. 

Wegen des zwingenden verfassungsrechtlichen Zeitrahmens sowohl für die Präsidenten als auch für die Parlamentswahl ist eine Präsidentenwahl durch das neue Parlament nicht möglich. Das Staatsoberhaupt selbst kann nur durch ein aufwändiges Impeachment vorzeitig aus dem Amt entfernt werden. 

Verfassungsgericht ist geschwächt 

Auch für die Mitglieder des ungarischen Verfassungsgerichts gilt dank Fidesz seit 2010 die Zweidrittelregel (Art. 24 Abs. 8 GrundG). Bis dahin wurden sie in einem paritätischen Verfahren mit zwingender Beteiligung der Opposition gewählt. 

Mittlerweile sind alle Mitglieder des Verfassungsgerichts Regierungsernennungen. Einige sind allerdings auch qualifizierte Juristinnen und Juristen, die die Verfassung über die "Parteilinie" stellen. Das Verfassungsgericht kann mit seiner Befugnis, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären und aufzuheben, tief in die Regierungsarbeit eingreifen. Derartige Anträge können z.B. die parlamentarische Opposition oder auch das Staatsoberhaupt stellen. 

Auch zahlreiche andere Amtsträger wählt das Parlament mit Zweidrittelmehrheit: den Generalstaatsanwalt, die Ombudsleute, die Präsidenten der Nationalbank und des Rechnungshofs usw. Dies ist i.d.R. seit der Wende der Fall. Die meisten dieser Amtszyklen dauern deutlich länger als eine Legislaturperiode, z.B. zwölf Jahre für Verfassungsrichter oder neun Jahre für den Generalstaatsanwalt. Die Wahl etlicher Verfassungsrichter und anderer Amtsträger liegt länger zurück, sodass sie im kommenden Parlamentszyklus turnusgemäß aus dem Amt ausscheiden. 

Schwelle für Schuldenbremse stets überschritten 

Das GrundG von 2011 führte eine Schuldenbremse ein, die greift, wenn die Staatsverschuldung mehr als die Hälfte des BIP beträgt. Diese Schwelle wurde seit 2011 stets weit überschritten. Es ist nicht abzusehen, dass Ungarn in nächster Zeit den Schwellenwert wird einhalten können. Bis dahin greifen bestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben an den Staatshaushalt, z.B. zum Schuldenabbau.  

Zusammen mit der Schuldenbremse wurde 2011 ein neues Verfassungsorgan eingeführt: der Haushaltsrat. Das Parlament kann, solange der Schwellenwert der Schuldenbremse überschritten wird, das Haushaltsgesetz nur verabschieden, wenn der Haushaltsrat zuvor zustimmt (Art. 44 Abs. 3 GrundG). Diese Zustimmung darf er zwar nur verweigern, wenn das zur Durchsetzung der Schuldenbremse notwendig ist. Es gibt in Ungarn allerdings kein Verfahren wie den deutschen Organstreit, mit dem ein Haushaltsrat, der seine Zustimmung verfassungswidrig verweigert, gezwungen oder umgangen werden kann. Wenn das Parlament den Haushalt bis zum 31. März des laufenden Jahres nicht verabschiedet, gibt Art. 3 Abs. 3 Buchst. b) GrundG dem Staatsoberhaupt das Recht, das Parlament aufzulösen; hierüber entscheidet die Staatspräsidentin in freiem Ermessen.  

Zwar ist aus dem Zusammenhang klar, dass die Auflösung eine Pattsituation im Parlament bereinigen soll. Es gibt aber weder materiell-rechtliche noch prozedurale Mechanismen, das Staatsoberhaupt daran zu hindern, bestimmungswidrig das Parlament aufzulösen, weil der Haushaltsrat die Verfassung verletzt und seine Zustimmung nicht erteilt. Bereits beim Erlass des GrundG argwöhnten die Opposition und Teile der Rechtswissenschaft, dass die Hauptfunktion des Haushaltsrats darin bestehe, einer zukünftigen Nicht-Fidesz-Regierung das Regieren zu erschweren und eine Parlamentsauflösung herbeiführen zu können. 

Ämter im Haushaltsrat laufen aus

Mitglieder des Haushaltsrats sind der Präsident der Nationalbank, der Präsident des Rechnungshofs und der vom Staatsoberhaupt auf sechs Jahre ernannte Haushaltsratsvorsitzende. Der Nationalbankpräsident wurde 2019 ernannt; seine Amtszeit beträgt sechs Jahre und endet im März 2025. Der Rechnungshofpräsident amtiert seit 2010; seine zwölfjährige Amtszeit läuft im Juli 2022 ab. Der Vorsitzende des Haushaltsrats schließlich ist bis 2024 im Amt. Somit laufen sämtliche Ämter in der kommenden Legislaturperiode aus.  

Wenn eine neue Regierung keine neuen Amtsträger ernennt (mangels Zweidrittelmehrheit ernennen kann), ist der Haushaltsrat noch beschlussfähig, wenn zwei seiner Mitglieder zu einer Sitzung zusammenkommen. Spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem der Rat nur noch ein Mitglied hat, schlittert Ungarn in eine Verfassungskrise, denn gemäß Art. 44 Abs. 3 GrundG ist die vorherige Zustimmung des Haushaltsrats eine Voraussetzung für das Zustandekommen des Haushalts, und das GrundG enthält keine Regelung für den Fall, dass der Haushaltsrat beschlussunfähig ist. 

Neue Regierung hätte es schwer 

Tatsächlich kann eine neue Regierung, die nur über die einfache Mehrheit verfügt, die zahlreichen Zweidrittelgesetze weder ändern noch aufheben und auch keine neuen Gesetze in diesem Bereich erlassen. Was das bedeutet, bekam Fidesz bereits zu spüren, als in der Legislaturperiode 2014 bis 2018 wegen des Verlusts von Nachwahlen die Zweidrittelmehrheit längere Zeit weg war.  

Die erste Zeit kann eine Regierung sicherlich ohne Änderung von Zweidrittelgesetzen regieren, wie Fidesz zwischen 2014 und 2018 gezeigt hat. Auf Dauer wird dies aber zu einer Verfassungskrise führen. Diese ist aber auf mittlere Sicht ohnehin zu erwarten, wenn Ungarn eine andere Regierung bekommt, weil das GrundG in seinem Wertesystem dem Parteiprogramm der Fidesz entspricht und somit einer Regierungspolitik mit anderen Prioritäten und Werten im Wege steht. 

Weiterführende Literatur in Deutsch: 

Herbert Küpper: Ungarns Verfassung vom 25. April 2011. Einführung – Übersetzung – Materialien, Studien des Instituts für Ostrecht München Bd. 70, Peter Lang: Frankfurt/M. 2012 

Sonja Priebus: Das ungarische Wahlsystem im Zentrum eines strategischen Institutionendesigns, in Herbert Küpper / Zoltán Csehi / Csaba Láng (Hrsg.): Vier Jahre ungarisches Grundgesetz, Studien des Instituts für Ostrecht München Bd. 80, Peter Lang: Frankfurt/M. 2016, S 65-87 

Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper ist Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Referent für ungarisches des Instituts für Ostrecht in Regensburg.

Zitiervorschlag

Parlamentswahl in Ungarn: Einzementierte Vetopositionen? . In: Legal Tribune Online, 29.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47973/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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