Vorstandshaftung in der VW-Abgasaffäre: Nicht den Fal­schen guil­lo­ti­nieren

von Dr. Tobias de Raet

24.05.2016

2/2: Vorstand haftet nicht für sämtliche Rechtsverletzungen im Unternehmen

An diesem Aufklärungsbedarf ändert auch die Tatsache nichts, dass VW sich bereits mit dem US-Justizministerium sowie den amerikanischen Umweltbehörden EPA und Carb auf einen Vergleich geeinigt hat, der das Unternehmen zu hohen Entschädigungszahlungen in der Abgasaffäre verpflichtet. Denn damit hat der Konzern zwar ein Fehlverhalten eingeräumt, aber nichts darüber ausgesagt, wer für dieses Fehlverhalten intern verantwortlich war.

Denn es ist es zwar grundsätzlich Aufgabe der Vorstandsmitglieder, dafür Sorge zu tragen, dass das Unternehmen so organisiert und beaufsichtigt wird, dass keine Gesetzesverletzungen eintreten. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie automatisch für sämtliche Rechtsverletzungen im Unternehmen haften. Nicht jede Rechtsverletzung indiziert, dass das vom Vorstand geschaffene Compliance-System versagt hat. Das Landgericht München I hat die Compliance-Pflichten des Vorstands im Jahr 2013 in einer vielbeachteten Entscheidung zur Korruptionsaffäre bei Siemens wie folgt zusammengefasst: Vorstandsmitglieder müssen im Rahmen ihres Organisationsermessens ein Compliance-System schaffen, das nach Art, Größe, Organisation des Unternehmens, den zu beachtenden Vorschriften, der geografischen Präsenz und Verdachtsfällen aus der Vergangenheit angemessen ist. Zudem müssen sie dieses System ordnungsgemäß überwachen und bei Bedarf anpassen. Haben sie dies nicht getan, haften sie.

65 Millionen Dokumente sollen ausgewertet werden

Dies verdeutlicht, warum Ermittlungen zur Vorstandshaftung oftmals viele Monate dauern und der Aufsichtsrat meistens nur unter Hinzuziehung externer Rechtsanwälte und sonstiger (z.B. technischer) Berater klären kann, ob Vorstandsmitglieder für Compliance-Verstöße verantwortlich sind. Der Aufsichtsrat muss unter anderem beurteilen, ob das vom Vorstand initiierte Compliance-Programm angemessen war, der Vorstand dessen Einhaltung überwacht hat und Verstöße geahndet hat. VW selbst hat in einer Pressemitteilung Ende April erklärt, dass etwa 65 Millionen Dokumente zum Zwecke der Aufarbeitung zur digitalen Auswertung zusammengestellt worden seien, von denen mehr als zehn Millionen zur Durchsicht an Anwälte von Volkswagen weitergeleitet worden seien. Es ist also damit zu rechnen, dass die Aufarbeitung noch einige Zeit dauern wird.

Der VW-Aufsichtsrat ist daher gut beraten, die Guillotine noch nicht fallen zu lassen. Ob er das Wort "noch" streichen kann, wird vom Ergebnis seiner Ermittlungen abhängen.

Der Autor Dr. Tobias de Raet ist derzeit Foreign Temporary Associate bei der US-Kanzlei Davis Polk & Wardwell LLP in New York.*

* Die Autorenangaben wurden am 25.5.2016 um 10:23 Uhr geändert (LTO-Redaktion).

Zitiervorschlag

Dr. Tobias de Raet, Vorstandshaftung in der VW-Abgasaffäre: Nicht den Falschen guillotinieren . In: Legal Tribune Online, 24.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19449/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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