Die Abgasaffäre kostet VW Milliarden. Nun wird die Forderung laut, der Aufsichtsrat solle Schadensersatz vom Vorstand einfordern. Doch so lang dessen Verantwortung nicht geklärt ist, kann eine Klage zum Bumerang werden, meint Tobias de Raet.
Ferdinand Piëch war in seiner Zeit als VW-Aufsichtsratsvorsitzender nicht dafür bekannt, Manger übermäßig zu schonen. Sein Nachfolger als VW-Vorstandsvorsitzender, Bernd Pischetsrieder, musste im November 2006 gehen, nachdem er bei Piëch in Ungnade gefallen war. Er habe "den Falschen gewählt" und dies "mit Mühe im vergangenen November korrigiert", bekannte Piëch auf der VW-Hauptversammlung im April 2007. Als er im Jahr 2009 – kurz nach dem Ende der Übernahmeschlacht zwischen VW und Porsche – von Journalisten gefragt wurde, ob Porsche-Chef Wiedeking noch sein Vertrauen habe, antwortete Piëch trocken: "Zurzeit noch. Das 'noch' können Sie streichen." Wiedeking war damit erledigt und trat wenig später zurück. Im April vergangenen Jahres sorgte Piëch schließlich mit den Worten "Ich bin auf Distanz zu Winterkorn." für Aufsehen.
Seine Äußerungen kamen für die Öffentlichkeit häufig überraschend, galten gleichwohl als kalkuliert und gut überlegt. Als im Jahr 2013 Spekulationen über seinen Rücktritt als VW-Aufsichtsratschef gestreut wurden, stellte Piëch gegenüber dem SPIEGEL klar, wie er mit dem Urheber dieser Gerüchte verfahren wolle: "Guillotinieren werde ich erst, wenn ich sicher bin, wer es war." Piëch hat damit treffend zum Ausdruck gebracht, welche Leitlinien für Aufsichtsratsmitglieder gelten, wenn es um ein etwaiges Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern geht.
Erst Ermitteln, dann Verfolgen
Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 1997 in der sogenannten ARAG/Garmenbeck-Entscheidung die Pflichten des Aufsichtsrats wie folgt spezifiziert: Der Aufsichtsrat muss auf einer ersten Stufe zunächst den Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ermitteln. Kommt er zu dem Ergebnis, dass der Gesellschaft Schadenersatzansprüche gegen ein Vorstandsmitglied zustehen, muss er auf einer zweiten Stufe eine Prozessriskoanalyse vornehmen.
Durchsetzbare Ansprüche muss der Aufsichtsrat grundsätzlich geltend machen. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen darf er im Interesse des Unternehmens von der Verfolgung absehen. Der Schutz eines verdienten Vorstandsmitglieds gehört nicht dazu. Mit der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung hat der Bundesgerichtshof eine Unsitte beendet, die in den 1990er Jahren insbesondere in dem als "Deutschland AG" bezeichneten Netzwerk aus Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen gängig war. Die Vorstandsmitglieder dieses Old Boys-Clubs hatten meist wenig zu befürchten, da die zu ihrer Kontrolle berufenen Aufsichtsräte infolge personeller und interessensmäßiger Verstrickungen wenig beißfreudig waren.
Dies ist heute schon aus Eigeninteresse nicht mehr möglich. Macht der Aufsichtsrat bestehende und durchsetzbare Ansprüche des Unternehmens gegen Vorstandsmitglieder nicht geltend, droht den Aufsichtsratsmitgliedern ihrerseits die persönliche Haftung.
Voreilige Entscheidungen können zum Bumerang werden
In der VW-Abgasaffäre wurden zuletzt Stimmen laut, der Aufsichtsrat müsse endlich Klage gegen die Vorstandsmitglieder erheben. So forderte der renommierte Aktienrechtsprofessor Marcus Lutter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Mai unter der Überschrift "Aufsichtsrat muss handeln" das VW-Kontrollgremium auf, Haftungsklagen vorzubereiten sowie die Vorstandsgehälter zu einem großen Teil einzubehalten.
Derartige Empfehlungen sind gefährlich. Aufsichtsräte sollten sich nicht von der öffentlichen Meinung dazu drängen lassen, Entscheidungen übers Knie zu brechen. Ein Aufsichtsrat, der vor Klärung der Sach- und Rechtslage Vorstandsmitglieder entlässt oder Haftungsklagen einleitet, setzt sich genauso einem Haftungsrisiko aus wie ein Aufsichtsrat, der auch danach noch untätig bleibt. Stellt sich nämlich später heraus, dass die entlassenen oder in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieder ihre Pflichten nicht verletzt haben und der Aufsichtsrat dies bei einer sorgfältigen Ermittlung der Sach- und Rechtslage hätte erkennen können, haften die Aufsichtsratsmitglieder für den der Gesellschaft entstandenen Schaden. Dies können z.B. Abfindungszahlungen an Vorstandsmitglieder oder Anwaltskosten sein.
2/2: Vorstand haftet nicht für sämtliche Rechtsverletzungen im Unternehmen
An diesem Aufklärungsbedarf ändert auch die Tatsache nichts, dass VW sich bereits mit dem US-Justizministerium sowie den amerikanischen Umweltbehörden EPA und Carb auf einen Vergleich geeinigt hat, der das Unternehmen zu hohen Entschädigungszahlungen in der Abgasaffäre verpflichtet. Denn damit hat der Konzern zwar ein Fehlverhalten eingeräumt, aber nichts darüber ausgesagt, wer für dieses Fehlverhalten intern verantwortlich war.
Denn es ist es zwar grundsätzlich Aufgabe der Vorstandsmitglieder, dafür Sorge zu tragen, dass das Unternehmen so organisiert und beaufsichtigt wird, dass keine Gesetzesverletzungen eintreten. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie automatisch für sämtliche Rechtsverletzungen im Unternehmen haften. Nicht jede Rechtsverletzung indiziert, dass das vom Vorstand geschaffene Compliance-System versagt hat. Das Landgericht München I hat die Compliance-Pflichten des Vorstands im Jahr 2013 in einer vielbeachteten Entscheidung zur Korruptionsaffäre bei Siemens wie folgt zusammengefasst: Vorstandsmitglieder müssen im Rahmen ihres Organisationsermessens ein Compliance-System schaffen, das nach Art, Größe, Organisation des Unternehmens, den zu beachtenden Vorschriften, der geografischen Präsenz und Verdachtsfällen aus der Vergangenheit angemessen ist. Zudem müssen sie dieses System ordnungsgemäß überwachen und bei Bedarf anpassen. Haben sie dies nicht getan, haften sie.
65 Millionen Dokumente sollen ausgewertet werden
Dies verdeutlicht, warum Ermittlungen zur Vorstandshaftung oftmals viele Monate dauern und der Aufsichtsrat meistens nur unter Hinzuziehung externer Rechtsanwälte und sonstiger (z.B. technischer) Berater klären kann, ob Vorstandsmitglieder für Compliance-Verstöße verantwortlich sind. Der Aufsichtsrat muss unter anderem beurteilen, ob das vom Vorstand initiierte Compliance-Programm angemessen war, der Vorstand dessen Einhaltung überwacht hat und Verstöße geahndet hat. VW selbst hat in einer Pressemitteilung Ende April erklärt, dass etwa 65 Millionen Dokumente zum Zwecke der Aufarbeitung zur digitalen Auswertung zusammengestellt worden seien, von denen mehr als zehn Millionen zur Durchsicht an Anwälte von Volkswagen weitergeleitet worden seien. Es ist also damit zu rechnen, dass die Aufarbeitung noch einige Zeit dauern wird.
Der VW-Aufsichtsrat ist daher gut beraten, die Guillotine noch nicht fallen zu lassen. Ob er das Wort "noch" streichen kann, wird vom Ergebnis seiner Ermittlungen abhängen.
Der Autor Dr. Tobias de Raet ist derzeit Foreign Temporary Associate bei der US-Kanzlei Davis Polk & Wardwell LLP in New York.*
* Die Autorenangaben wurden am 25.5.2016 um 10:23 Uhr geändert (LTO-Redaktion).
Dr. Tobias de Raet, Vorstandshaftung in der VW-Abgasaffäre: Nicht den Falschen guillotinieren . In: Legal Tribune Online, 24.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19449/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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