Russischer Angriffskrieg in der Ukraine: Ver­liert das Völ­ker­recht an Bedeu­tung?

Gastbeitrag von PD Dr. Felix Lange

03.09.2022

Russland ignoriert das Völkerrecht und versucht in der Ukraine militärisch Fakten zu schaffen. Was bedeutet das für die Rolle des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen? Einige Sorgen scheinen unbegründet, wie Felix Lange skizziert.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat schon länger schwelende Skepsis gegenüber dem Stellenwert des Völkerrechts befeuert. Was sagt es über eine Rechtsordnung aus, wenn sie nicht verhindern kann, dass Macht und Gewalt sich Bahn zu brechen scheinen?

Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler konstatiert mit Blick auf den russischen Angriffskrieg das Scheitern des "Projekt[s] der universalen Werte und Normen" in einer Phase der "Rückkehr der klassischen Machtpolitik". Der Hamburger Staatsrechtler Karl-Heinz Ladeur bezeichnet den Krieg als "Alarmsignal für die Dominanz der Unordnung", die das "(Völker)Recht[…] der Uneindeutigkeit" mitbestimme. 

Sind die lange dominanten Fortschrittserzählungen im Völkerrecht somit an ihrem Ende angelangt? Hatte der an der Columbia Universität lehrende Wolfgang Friedmann in den 1960er Jahren angesichts der wachsenden Kompetenzen von internationalen Organisationen doch die Herausbildung eines Kooperationsrechts ausgemacht, das neben das ältere Koexistenzrecht getreten sei. Hatten sich gerade Teile der deutschsprachigen Völkerrechtswissenschaft seit den 1990ern Jahre doch der These von der Konstitutionalisierung des Völkerrechts verschrieben, da Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit im Völkerrecht an Bedeutung gewannen und sich die Völkerrechtsordnung dem normativen Modell von Verfassungsstaaten anzunähern schien.

UN-Sicherheitsrat ohne Handhabe?

Die Reaktion der Organe der Vereinten Nationen auf den russischen Angriffskrieg kann als ein Indikator dafür gesehen werden, wie es um das Völkerrecht bestellt ist. Die Charta der Vereinten Nationen legt die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit in die Hände des Sicherheitsrats. Nach Ende des Kalten Krieges schien sich das System der Friedenssicherung zu bewähren. Der Sicherheitsrat ermächtigte die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Vornahme von Sanktionsmaßnahmen in bisher ungekannter Dichte und Reichweite. Besonders auf die irakische Annexion des Kuwait 1990 folgte eine massive Reaktion. So verlangte der Sicherheitsrat einen unverzüglichen und bedingungslosen Rückzug der irakischen Streitkräfte und erließ ein Wirtschafts-, Finanz-, und Waffenembargo. Schließlich ermächtigte der Sicherheitsrat die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mit zwölf zu drei Stimmen "alle erforderlichen Maßnahmen" zu ergreifen, also auch militärische. Lediglich Jemen und Kuba stimmten dagegen, China enthielt sich. Auf Grundlage dieser Resolution befreite eine Koalition von Staaten unter der Führung der USA Kuwait. Der Sicherheitsrat war dem Verstoß gegen das Gewaltverbot effektiv entgegengetreten.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine scheiterte dagegen eine Resolution des Sicherheitsrats, die den Abzug der russischen Truppen forderte. Elf der 15 Mitglieder des Sicherheitsrats unterstützten die Resolution, während sich China, Indien und die Vereinigte Arabische Emirate enthielten. Russland übte sein ihm als ständigem Mitglied zustehendes Vetorecht aus. Erst drei Monate nach Kriegsbeginn konnte sich der Sicherheitsrat zu einer Resolution durchringen, in der lediglich die "starke Unterstützung für die Bemühungen des Generalsekretärs bei der Suche nach einer friedlichen Lösung" ausgedrückt wird. Stattdessen erließ ein Verbund großteils westlicher Staaten weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen russische Unternehmen und Einzelpersonen. Seiner Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens scheint der Sicherheitsrat nicht gerecht zu werden.

Allerdings ist es in der Charta mit dem Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder angelegt, dass Sanktionen des Sicherheitsrats gegen die ständigen Mitglieder nur schwer möglich sind. Auch andere Verstöße gegen das Gewaltverbot wie der von den USA und Großbritannien geführte Krieg gegen den Irak 2003 oder die russische Annexion der Krim 2014 wurden vom Sicherheitsrat nicht sanktioniert. Zudem können andere Organe der Vereinten Nationen im Angesicht eines blockierten Sicherheitsrats, umso wichtiger werden. Im Rahmen der Aushandlung des Getreideabkommens zwischen Russland und Ukraine, durch das die Blockade der ukrainischen Häfen (zumindest zunächst) gelöst werden konnte, trat der UN-Generalsekretär neben der Türkei als Vermittler auf. Auch wenn das nur als geringer Beitrag zur Konfliktlösung erscheinen mag, ist eine Befriedung des Russland-Ukraine-Konflikts ohne Einbindung der Organe der Vereinten Nationen nur schwer vorstellbar.

Sind 141 Stimmen viel oder wenig?

Neben dem Sicherheitsrat hat sich auch die Generalversammlung mit dem Ukraine-Konflikt befasst. Eine (nicht-bindende) Resolution aus dem März 2022 verurteilte den Angriff und verlangte den sofortigen Abzug der russischen Truppen mit 141 zu fünf Stimmen bei 35 Enthaltungen. Auffallend war, dass sich mit China, Indien und Südafrika geopolitische Schwergewichte enthielten, obwohl der Verstoß gegen das Gewaltverbot offensichtlicher kaum sein konnte. Sind diese Enthaltungen Ausdruck des abnehmenden Respekts für das Gewaltverbot? 

Ein Blick in die Geschichte des Kalten Kriegs zeigt, dass sich gegen eine Vetomacht zwar Mehrheiten organisieren lassen, mit Enthaltungen und Gegenstimmen jedoch zu rechnen ist. So wurde die Resolution, mit der der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 verurteilt wurde, mit 104 Stimmen gegen 18 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen angenommen. Die US-Invasion in Grenada wurde 1983 von 108 Staaten verurteilt, bei neun Gegenstimmen und 27 Enthaltungen. Auch 2022 lässt sich der mangelnden Einmütigkeit in der Generalversammlung vermutlich eher mit dem außenpolitischen Gewicht der Vetomacht Russland erklären, als dass man daran die Nichtachtung des Gewaltverbots festmachen könnte. Zudem ist beachtlich, dass die Resolution, mit der die russische Annexion der Krim 2014 verurteilt wurde, nur 100 zustimmende Stimmen erhielt (bei 11 Gegenstimmen und 58 Enthaltungen). 41 Staaten zusätzlich sahen sich nach dem Angriff vom 24. Februar 2022 veranlasst, den Verstoß gegen das Gewaltverbot deutlich zu kritisieren. Die Resolution der Generalversammlung zum Ukraine-Konflikt stellt demnach ein starkes Signal der internationalen Gemeinschaft dar und kann nicht als Argument für einen Bedeutungsverlust des Völkerrechts dienen.

Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs ohne Auswirkung?

Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) ist mit den Vorkommnissen des 24. Februar befasst worden. Da sich weder Russland noch die Ukraine ad-hoc oder generell dessen Gerichtsbarkeit unterworfen hatten, konnte die Ukraine die Frage des Verstoßes gegen das Gewaltverbot nicht vor den IGH bringen. Als Grundlage für dessen Jurisdiktion kommt jedoch die von Russland und der Ukraine ratifizierte Völkermordkonvention in Betracht. Danach ist der IGH zuständig für Streitigkeiten zwischen Vertragsparteien über die Auslegung, Anwendung und Erfüllung der Konvention. Die Ukraine beantragte den Erlass vorsorglicher Maßnahmen und trug vor, dass Russland die Konvention als Rechtfertigung für den Angriffskrieg missbraucht habe. Denn Wladimir Putin hatte die "militärische Spezialoperation" mit Völkermord durch die Ukraine in Luhansk und Donezk begründet.

Der IGH ordnete am 16. März mit 13 zu zwei Stimmen an, dass Russland unverzüglich alle militärischen Aktionen auf dem Hoheitsgebiet der Ukraine einzustellen habe (nur die chinesische Richterin und der russische Richter trugen die Entscheidung nicht mit). Im Verfahren über vorläufige Maßnahmen genüge die Feststellung, dass der IGH nicht im Besitz von Beweisen ist, die die Behauptung eines auf ukrainischem Gebiet begangenen Völkermords belegten. Es sei zudem zweifelhaft, ob die Konvention die einseitige Anwendung von Gewalt durch eine Vertragspartei im Hoheitsgebiet eines anderen Staates zulässt, um einen angeblichen Völkermord zu verhindern oder zu bestrafen. Die Ukraine habe somit plausibel ihr Recht nach der Konvention dargelegt, nicht mit einer falschen Behauptung des Völkermords konfrontiert zu werden, mit der eine Militäroperation gegen sie begründet wird.

Freilich hat sich Russland, das bereits dem Verfahren ferngeblieben war, nicht an die erlassene Anordnung des IGH gehalten. Der Krieg in der Ukraine tobt weiter. Dennoch sollte die Bedeutung der Entscheidung nicht unterschätzt werden. Das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen hat festgestellt, dass Russland verpflichtet ist, die "Spezialoperation" zu beenden. Auch wenn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens noch offen ist, klingt in der Begründung an, dass die völkerrechtliche Rechtfertigung für die Invasion – soweit sie auf die Behauptung eines begangenen Völkermords rekurriert – auf zweifelhafter Grundlage steht. Das ist wichtig: denn rechtliche Wertungen des IGH haben eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts auch jenseits des Streitfalls. Den Entscheidungen des IGH wird eine hohe autoritative Kraft beigemessen.

Zwischen Krise und Resilienz

Der russische Angriffskrieg stellt die Vereinten Nationen vor große Herausforderungen. Einen Beitrag zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts kann man vom in vielen Fragen blockierten Sicherheitsrat sicher nicht erwarten. Die Generalversammlung kann die internationale Stabilität nicht im gleichen Maße garantieren. Dennoch zeigt auch die jüngste Entwicklung: eine deutliche Mehrheit der Staaten ist nicht bereit, den Angriffskrieg eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats zu akzeptieren und das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen hat festgestellt, dass Russland seine militärische Operation beenden muss. Dem russischen Angriffskrieg wird nicht nur durch dezentrale Sanktionen, sondern auch auf UN-Ebene entschieden begegnet. Ein Anlass für Abgesänge auf das Völkerrecht besteht nicht.

PD Dr. Felix Lange, LL.M. (NYU), M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kollegforschungsgruppe "The International Rule of Law – Rise or Decline?". Er vertritt im Wintersemester 2022/2023 die Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Potsdam.

Anm. d. Red.: Beitrag in der Version vom 21.09.2022, 11:57 Uhr, korrigiert wurde die Anzahl der Enthaltungen in der Generalversammlung, es waren 35 statt 47.

Zitiervorschlag

Russischer Angriffskrieg in der Ukraine: Verliert das Völkerrecht an Bedeutung? . In: Legal Tribune Online, 03.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49512/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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