Revisionsverhandlung im Mordfall Lübcke vor dem BGH: Wer einmal lügt, dem kann man trotzdem glauben?

von Dr. Felix W. Zimmermann

28.07.2022

Stephan Ernst hat diverse Aussagen präsentiert, immer wieder gelogen. Darf man ihm deswegen prinzipiell misstrauen, wenn er Dritte beschuldigt? Dies und eine mysteriöse Quittung beschäftigen den BGH. Felix W. Zimmermann war vor Ort. 

Wer will was von wem woraus - dieser aus dem Zivilrecht bekannte Merksatz zur Ordnung komplexer Sachverhalte konnte einem assoziativ auch in der Revisionsverhandlung im Mordfall Lübcke in den Sinn kommen. Allein das "von wem" ist mit dem zuständigen 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) die Konstante, ansonsten herrscht ein komplexes Durcheinander:

Der wegen Mordes verurteilte Stephan Ernst versucht mit der allgemeinen Sach- und Verfahrensrüge die Aufhebung des Mordurteils gegen ihn zu erreichen. Er meint, es liege nur ein Totschlag vor. Die Bundesanwaltschaft ist der Überzeugung, dass Ernst auch wegen versuchten Mordes am Geflüchteten Ahmed I. hätte verurteilt werden müssen. Nebenkläger I. selbst ist der gleichen Auffassung, hat ebenfalls Revision eingelegt. 

Die Bundeanwaltschaft wendet sich zudem gegen den Freispruch wegen Beihilfe zum Mord für den Mitangeklagten Markus H. Ebenso die auch heute vor Ort anwesende Familie Lübcke, die über die Bundesanwaltschaft hinausgehend von einer Mittäterschaft von Markus H. überzeugt ist. Der wiederum macht Revision wegen eines Waffendelikts geltend.

Unzulässige Beweisregel: Wer einmal lügt?  

Der 3. Strafsenat unter dem Vorsitz von Jürgen Schäfer ließ keine Tendenz erkennen, ob und inwieweit der Senat das Urteil des OLG Frankfurt (OLG) halten wird. Die Fragen des Vorsitzenden machten aber zumindest deutlich, dass der Senat über einige Aspekte intensiv nachdenkt.  

Vor allem über die Frage, ob das OLG beim Freispruch von Markus H. wegen Beihilfe zum Mord den Rechtsfehler der überspannten Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung begangen hat. Konkret sprach Richter Schäfer eine Passage im OLG-Urteil an, die den BGH stutzig macht. So formuliert das OLG, der Senat habe eine Aussage von Ernst, die Markus H. belastet, "nur insoweit zu seiner Überzeugungsbildung heranziehen können, als diese durch andere Beweismittel bestätigt worden sind". 

Vor allem das "können" verdutzte den Vorsitzenden. Wollte das Gericht damit etwa eine in der Strafprozessordnung angesichts der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) nicht zulässige Beweisregel aufstellen? Und zwar, dass einem Angeklagten ohne weitere Indizien nicht geglaubt werden kann, wenn er zuvor der Lüge überführt wurde?

Die vielen Geschichten des Stephan Ernst 

Warum das OLG so formulierte, kommt nicht von ungefähr: Der Hauptangeklagte Ernst wurde im Verfahren vielfach der Lügen überführt und er präsentierte insgesamt drei unterschiedliche Tatversionen. Zunächst wollte er alleine am Tatort gewesen sein, wo er den Kassler Regierungspräsidenten erschossen habe. Sodann gemeinsam mit Markus H. vor Ort, H. habe dabei Lübcke erschossen. Hiernach die Mittellösung: Zwar seien beide zusammen dort gewesen, doch den Schuss habe er, Ernst, abgegeben. Zuletzt zog sich Ernst im Prozess im Wesentlichen zurück auf die erste Tatversion. 

In genau dieser ersten Tatversion beschuldigte Ernst seinen ehemaligen Kumpel H. nicht der Mittäterschaft. Aber er schilderte Umstände, die für die Bundesanwaltschaft Anlass gaben, H. der psychischen Beihilfe zum Mord anzuklagen. Nämlich: Gemeinsame Schießübungen, Besuche von rechten Demonstrationen und die Teilnahme an der Bürgerversammlung in Lohfelden, auf der Lübcke auftrat und die ihm zum Verhängnis wurde. Vor allem aber, dass zwischen ihm und H. Einigkeit bestanden habe, dass man gegen verantwortliche Politiker "etwas machen" müsse.  

Doch für diesen letzteren Punkt, also konkrete Gespräche zwischen Ernst und H. darüber, gegen Politiker vorzugehen, ergaben sich im gesamten Prozess keine Beweise. Trotz umfangreicher Zeugenvernehmungen konnte keine dritte Person derartige Dialoge klar bestätigen, Chatverkehr war – evtl. wegen Löschung – ebenfalls nicht ergiebig. 

GBA: "Auf Nummer sicher gehen ist falscher Maßstab" 

So hätte das OLG Frankfurt zur Verurteilung wegen psychischer Beihilfe – wenn überhaupt – nur kommen können, wenn es den von Ernst behaupteten Dialog darüber, "etwas machen" zu müssen, Glauben geschenkt hätte – Markus H. selbst schwieg zu sämtlichen Vorwürfen. Doch hierzu sah sich das OLG außerstande. Stattdessen schrieben die Richter ins Urteil den oben erwähnten Satz, wonach Aussagen von Ernst nur bei Hinzutreten anderer Beweismittel bestätigt werden können. 

Die Beteiligten vor dem BGH diskutierten nun, wie dieser Satz des OLG auszulegen sei. Bundesanwalt Johann Schmid wollte dem OLG zwar nicht unterstellen, dass dieses hiermit eine (nicht existente) Beweisregel formulieren wollte. Doch sei die Formulierung exemplarisch für die überspannte Beweiswürdigung.  

Das OLG wollte bei der Frage der Schuld des H. "absolut auf Nummer sicher gehen, das ist aber nicht unser Beweiswürdigungsmaßstab, sondern nur das denklogisch keine Zweifel bestehen", so Schmid. Die zu strengen Anforderungen für eine Verurteilungen zögen sich "wie ein roter Faden durch die Beweiswürdigung". 

"Wer einmal lügt" soll nicht im Strafrecht gelten

Konkret verkenne das OLG in Bezug auf Ernst, dass die Alltagstheorie "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht" im Strafrecht gerade keine Geltung beanspruche. Es sei immer und zu jeder einzelnen Aussage zu hinterfragen, ob naheliegende Motive für eine Falschbezichtigung bestünden.

Im konkreten Fall hätte Ernst solche Lügenmotive zwar in Bezug auf die späteren Aussagen haben können, wonach H. am Tatort gewesen sei oder selbst sogar geschossen habe. Denn in diesem Fall hätte sich dies womöglich auf den Schuldspruch für Ernst ausgewirkt. Doch irgendwelche Motive für die Falschbezichtigung einer bloßen Beihilfehandlung bestünden nicht. Denn das Ausmaß der Strafe für Ernst sei davon unabhängig.

Das Falschbelastungsinteresse von Ernst, H. der Beihilfe zu beschuldigen, werde vom OLG aber nicht beantwortet, die Frage werde nicht einmal gestellt, so Bundesanwalt Schmid. Das Urteil sei schon deswegen rechtsfehlerhaft. Diese Auffassung vertrat auch der Vertreter der Familie Lübcke, Rechtsanwalt Ali B. Norouzi. Partielle Falschangaben führten nicht dazu, dass ein Gericht einer Aussage zwingend nicht mehr folgen könne.

Dem entgegnete H.s Rechtsanwalt Dr. Björn Clemens, es sei bei Ernst nicht um "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht" gegangen, sondern um ständige Falschangaben und vor allem darum, dass er im Prozess selbst nichts Verifizierbares vortragen konnte, was H. belasten würde. Der Prozess vor dem OLG habe zudem im Gegenteil klar gezeigt, dass die Theorie von Markus H. als "Denker" hinter dem "Macher" Ernst nicht zutreffe.

Hat OLG Beihilfe mit Anstiftung verwechselt?

Bundesanwalt Schmid monierte weiter, das OLG habe den Maßstab der psychischen Beihilfe verkannt. So habe es festgestellt, dass H. in gemeinsamen politischen Gesprächen nicht "tonangebend" und "bestimmend" gewesen sei. Dies seien aber keine Merkmale der psychischen Beihilfe, sondern diejenigen der Anstiftung. Für die Beihilfe reiche es aus, dass der Täter "bestärkt" werde. Auch Lücken in der Beweiswürdigung und Erörterungsfehler wollte Bundesanwalt Schmid ausfindig gemacht haben.

Der weitere Nebenklägervertreter der Familie Lübcke, Holger Matt, konzentrierte sein Plädoyer vor allem auf einen vermeintlichen Fehler des OLG. Dies habe festgehalten, dass nicht bekannt sei, ob H. vor oder nach der Ermordung von Lübcke Chats gelöscht hat. Dies sei allerdings falsch, da sich aus dem Vermerk eines Hauptkommissars klar eine Löschung nach der Ermordung ergebe. Dies deutet auf eine Tatbeteiligung von H. hin, was das OLG rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt habe.

Der 3. Strafsenat reagierte skeptisch. Der Vermerk des Hauptkommissars könne ebenso so ausgelegt werden, dass es sich nur um die Daten der gelöschten Chats handele und nicht um das Datum der Löschung. Insoweit schloss Matt mit der Bemerkung ab, dass jedenfalls diese Widersprüche vom OLG hätten geklärt werden müssen.

Zum Ende des Komplexes zum Mordfall ergriff die Lübcke-Witwe Irmgard Braun-Lübcke das Wort. Für die Verarbeitung des Mordes innerhalb der Familie sei es "so wichtig", die "volle Wahrheit" zu erfahren, gerade über die letzten Sekunden des Lebens ihres Mannes. Das Urteil ließe so einige Fragen offen, die die Familie noch geklärt wissen wolle. Sie schloss mit den Worten, dass Lübcke für seine Überzeugung, dass wir in einem freien Land leben, in dem jeder ohne Angst seine Meinung sagen kann, letztlich gestorben sei.

Kaufquittung: Entlastung für Ernst oder Legendierungskauf?

Es folgte der Komplex Ahmed I., den Ernst laut Anklage von hinten niedergestochen haben soll. Indiz für die Tat war unter anderem ein bei Ernst sichergestelltes Messer, an dem DNA-Mischspuren des Tatopfers gefunden wurden. Doch weil Ernst eine Quittung für das Messer vorweisen konnte mit Kaufdatum nach dem Anschlag auf I., kam das OLG zu dem Schluss, dass das Messer nicht das Tatmesser sei. Umstände, dass sich die Quittung auf ein anderes Messer bezogen hätte, seien nicht zu Tage getreten.

Für Bundeanwalt Schmid und den Nebenklägervertreter Rechtsanwalt Alexander Hoffmann ein rechtsfehlerhafter Zirkelschluss. Denn die Quittung selbst könne kein Beweis dafür sein, dass es sich beim sichergestellten Messer um das Messer aus der Quittung handelt, sondern nur eine Vermutung. Das OLG hätte umfassend prüfen müssen, welche Gründe oder Motive der Angeklagte hatte, dass er gerade diese Quittung bewusst gespeichert hat, so Schmid.

Hoffmann sprach konkret von einem "Legendierungskauf". Ernst habe die Quittung behalten, um sie als Entlastung vorzeigen zu können. Das OLG habe dies nicht hinreichend in Betracht gezogen, wozu allerdings bekannte Aufzeichnungen von Ernst dazu, wie man Ermittlern falsche Fährten setzt, Anlass gegeben hätten. Ernst Anwalts Mustafa Kaplan entgegnete hierzu, dass Nebenkläger und Bundesanwaltschaft allein das Ergebnis der Beweiswürdigung angriffen, dies sei aber unzulässig.  

Urteilsverkündung am 25. August 2022

Dass der BGH in seiner Überprüfungskompetenz eingeschränkt ist, darauf wies der Vorsitzende Schäfer gleich zu Beginn der Verhandlung hin. Die Annahme eines Freispruchs müsse vom BGH grundsätzlich hingenommen werden. Er referierte die ständige Rechtsprechung des BGH, wonach sich die Begutachtung des Urteils darauf beschränkt, ob die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt oder der Tatrichter überspannte Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung gestellt hat. 

Ohne Rechtsfehler könne der BGH eben nichts machen, auch wenn eine abweichende Würdigung sogar näherliegend sei, so Schäfer. Das Revisionsgericht sei auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt. Schäfer stellte indes klar, dass diese Ausführungen nicht im Sinne einer Festlegung verstanden werden sollten, wie der BGH den Fall sieht, sondern der Senat es für notwendig hält, die Maßstäbe noch einmal klar zu ziehen. Um ein zumindest gewisses Erwartungsmanagement dürfte es sich hierbei allerdings wohl handeln.  

Der Bundesgerichtshof wird am 25. August 2022 sein Urteil sprechen.
 

* In einer Vorfassung des Artikels war von freier Beweiswürdigung in der "ZPO" die Rede. Richtig ist in diesem Zusammenhang die freie Beweiswürdigung in der Strafprozessordnung (StPO). Neuversion von 19:45 Uhr.

Zitiervorschlag

Revisionsverhandlung im Mordfall Lübcke vor dem BGH: Wer einmal lügt, dem kann man trotzdem glauben? . In: Legal Tribune Online, 28.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49180/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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