Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz: Ein uneingelöstes Versprechen

von Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner

19.11.2012

Die Uhr tickt. Noch acht Monate bleiben den Ländern und Kommunen, um ausreichend Kitaplätze zu schaffen und damit den Rechtsanspruchs auf frühkindliche Förderung zu erfüllen. Je näher der Zeitpunkt rückt, desto größer werden die Zweifel, ob das gelingen kann. Zeit für einen Kindergipfel mit einem realistischen Konzept, meint Reinhard Wiesner.

Begonnen hat der Wettlauf vor sechs Jahren. Auf dem Krippengipfel im April 2007. Bund, Länder und Kommunen hatten sich damals darauf verständigt, dass künftig für mindestens jedes dritte Kind unter drei Jahren ein Kitaplatz geschaffen werden soll. Man ging damals davon aus, dass mit einer bundesweiten Quote von 35 Prozent der Bedarf gedeckt werden könnte. Die Kosten wurden auf zwölf Milliarden Euro geschätzt. Den Ländern und Kommunen, die die Zeche zu bezahlen haben, wurde das Geschäft durch eine finanzielle Beteiligung des Bundes in Höhe von vier Milliarden Euro versüßt.

Diese politische Vereinbarung setzte der Gesetzgeber mit dem Kinderförderungsgesetz um. § 24 SGB VIII tritt zwar erst mit fünfjähriger Verzögerung in Kraft, entwickelt sich aber immer mehr zu einer Zeitbombe: Ab dem 1. August 2013 hat jedes Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, einen "Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege". Das kostet nicht nur Geld, es gilt auch die Kitaplätze rechtzeitig einzurichten und qualifiziertes Personal auszubilden.

Kein Verweis auf das Betreuungsgeld

Den Anspruch einlösen müssen die Kreise und Städte gemeinsam mit nichtstaatlichen Einrichtungen, wobei letztere nicht zur Zusammenarbeit verpflichtet werden können.

Irrelevant ist die beim Krippengipfel vereinbarte 35-Prozent-Quote. Die Kommunen können Eltern auf Kitaplatzsuche für ihr Kind nicht den Einwand entgegenhalten, die Versorgungsquote sei bereits erfüllt. Die Zahl diente lediglich dazu, die bundesweiten Kosten des Rechtsanspruchs zu ermitteln.

Rechtswidrig wäre auch ein Verweis auf das Betreuungsgeld. Denn damit will der Gesetzgeber Eltern ja gerade ein Wahlrecht für die Erziehung ihrer Kinder einräumen.

Es fehlen 220.000 Plätze

Gibt es keinen Kitaplatz, kann das Kind, vertreten durch seine Eltern, den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten einschlagen. Da die Dauer des gerichtlichen Verfahrens die rechtzeitige Realisierung des Anspruchs gefährdet, kann das Gericht auf Antrag schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung treffen.

Eine solche Klage wird aber nicht erfolgreich sein. Eine Verpflichtung der Kommune durch ein Gericht würde ins Leere laufen: Nach den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts fehlten am 1. März 2012 bundesweit noch 220.000 Plätze.

Außerdem können die Gerichte einen Kreis oder eine Gemeinde nur dann verpflichten, einen Platz zur Verfügung zu stellen, wenn diese überhaupt selbst Krippen betreibt und die dortigen Kapazitäten noch nicht erschöpft sind. Einen Kitaplatz zu schaffen – dazu kann ein Gericht die Kommune nicht verpflichten. Erst recht kann nicht ein bestimmter Platz bei einer privaten Einrichtung eingeklagt werden.

Ersatz für die Kosten einer privat organisierten Betreuung

Mehr Erfolg verspricht dagegen eine Klage auf  Ersatz der Kosten für eine selbst organisierte Kinderbetreuung. Das Verwaltungsgericht (VG) Mainz hat das erst kürzlich vorexerziert. Das Kindertagesstättengesetz Rheinland-Pfalz kennt nämlich bereits jetzt einen Anspruch auf einen Kitaplatz ab dem zweiten Lebensjahr.

Anknüpfend an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben die Mainzer Richter einen Folgenbeseitigungsentschädigungsanspruch angenommen und den Eltern Schadensersatz für die Kosten einer selbstbeschafften Betreuung in einer privaten Kinderkrippe zugesprochen (VG Mainz, Urt. v. 10.05.2012, Az. 1 K 981/11).

Der Höhe nach können die vollen Betreuungskosten abzüglich des elterlichen Beitrags für einen städtischen Krippenplatz eingeklagt werden. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat die Entscheidung inzwischen bestätigt, aber wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zugelassen (Urt. v. 25.10.2012, Az. 7 A 10671/12.OVG).

Auch Verdienstausfall muss ersetzt werden

Eine Schadensersatzforderung könnten Eltern auch auf Amtshaftung stützen und vor den Landgerichten einklagen. Eine Kommune, die trotz Rechtsanspruchs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt, verletzt damit eine Pflicht, die im Interesse des Kindes liegt. Sie hat die Pflichtverletzung auch zu verschulden, da sie seit Verabschiedung des Gesetzes vor fünf Jahren nicht ausreichend Plätze geschaffen hat.

Auf dieser Grundlage können Eltern etwa einen Verdienstausfall einklagen, wenn sie nach der Elternzeit erst verspätet an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können, sie ihren Job zeitweise aussetzen müssen, um das Kind zu Hause zu betreuen, oder eine neue Stelle nicht annehmen konnten.

Auch die Kosten für eine anderweitig organisierte Betreuung sowie Rechtsanwaltskosten sind von dem Schadensersatzanspruch umfasst.

"Flexible Lösungen" sind keine Alternative

Inzwischen diskutieren vor allem die kommunalen Spitzenverbände über flexible Lösungen. Kita-Gruppen sollen vorübergehend vergrößert, bauliche Standards nicht ganz so genau genommen werden. Eine gruselige Vorstellung. Die Kinder sind zwischen ein und drei Jahren, deren Betreuung alles andere als eine einfache Sache.

Nicht nur im internationalen Vergleich wird bereits die derzeitige Qualität der Tagesbetreuung in Deutschland heftig kritisiert. Das Ziel, die kindliche Entwicklung zu fördern, würde in sein Gegenteil umschlagen, nämlich eine handfeste Gefährdung.

Bund, Länder und Kommunen sollten sich daher auf einem Kindergipfel auf ein realistisches Konzept verständigen. So könnte der Rechtsanspruch etwa zunächst auf Kinder beschränkt werden, die das zweite Lebensjahr vollendet haben. Eines darf jedenfalls nicht geschehen: Der Ausbau der Tagesbetreuung darf nicht parteipolitisch missbraucht werden und in eine Gefahr für das Wohl der Kinder ausarten.

Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner ist Rechtsanwalt und Honorarprofessor an der FU Berlin. Er war bis zum 30.06.2010 als Ministerialrat Leiter des Referats Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner, Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz: Ein uneingelöstes Versprechen . In: Legal Tribune Online, 19.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7579/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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