Frauenquote im Deutschen Bundestag: Keine Normen gegen röh­rende Platz­hir­sche

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus F. Gärditz

19.11.2018

Eine verbindliche Geschlechterparität im Deutschen Bundestag wäre mit der Gleichheit der Wahl unvereinbar. Bessere Geschlechterrepräsentanz im Parlament bedarf anderer politischer Strategien, erklärt Klaus F. Gärditz.

Mit Recht wird beklagt, dass der Frauenanteil im Deutschen Bundestag seit der letzten Wahl nach einem kontinuierlichen Aufwärtstrend wieder deutlich gesunken und weiterhin enttäuschend niedrig ist. Jüngst wurde gefordert, eine Parität mit Mitteln des Wahlrechts zu erzwingen, etwa durch die sanktionierte Verpflichtung, Listenplätze der Wahlvorschläge alternierend nach Geschlecht zu besetzen. Demokratietheoretisch wie verfassungsrechtlich ist dieser Regelungsansatz fragwürdig.

Die Geschichte des Wahlrechts moderner Verfassungsstaaten ist die der Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten. Demokratie als Konsequenz egalitärer Selbstbestimmung setzt die prinzipielle Urteilsfähigkeit aller voraus. Urteilsfähige Menschen lassen sich aber nicht dauerhaft von der Teilhabe an der Legitimation öffentlicher Herrschaftsgewalt fernhalten. In dieser Traditionslinie, zu deren größten Erfolgen das beharrlich errungene Frauenwahlrecht zählt, stünde eine verbindliche Geschlechterparität im Parlament nicht. Denn insoweit wird den Wahrberechtigten (Frauen eingeschlossen) gerade misstraut, selbst über die soziale Zusammensetzung ihrer Repräsentation nach eigener politischer Präferenz zu entscheiden.

Geschlecht ist nur eines von zahlreichen Kriterien, das eine Wahlentscheidung beeinflussen kann und für die meisten Wahlberechtigten wahrscheinlich nicht einmal besonders wichtig. Präferenzen sind auch nicht stabil. Früher haben etwa Religion* und Konfession eine dominante Rolle gespielt, die heute verblasst ist (soweit nicht Ressentiments gegen Muslime ausgelebt werden). Politische Lösungsangebote, Stimmungen, Popularität einzelner Personen oder Frustration mit der Streitkultur einer Regierung werden für die allermeisten Menschen an der Wahlurne entscheidender sein als das Geschlecht im Wahlvorschlag. Und wem es wichtig war, dass eine Frau Kanzlerin bleibt, hat im Zweifel dem parteizugehörigen Mann die Erststimme gegeben. Das ist gelebte politische Selbstbestimmung.

Identitäre Gruppendemokratie als Irrweg

Die Prämisse, jede(r) werde am besten durch Angehörige der "eigenen" sozialen Gruppe repräsentiert, führt in die Abgründe identitärer Demokratiemodelle. Die eher irrlichternde Idee, Demokratie gründe auf einer substanzhaften Homogenität des Volkes, die eine Identität der Regierenden mit den Regierten sicherstelle, hatte sich eigentlich (jenseits sektiererischer Carl Schmitt-Apologeten) erledigt. Pluralistische Demokratiemodelle integrieren über formale Verfahren und distanzierende Repräsentation, um mit akzeptierter Inhomogenität auf der Basis formaler Gleichheit konstruktiv umzugehen.

Nunmehr tauchen identitäre Repräsentationsmodelle wieder auf: rechts altbacken völkisch, links unter dem Deckmantel vermeintlicher Vielfalt, die nach substanzhafter Repräsentanz vordefinierter Gruppenidentitäten verlangt. Volksmythologie wird lediglich durch einen anderen Kollektivismus ausgetauscht, der Menschen ebenfalls nicht als selbstbestimmte Individuen wahrnimmt, sondern als Partikel einer soziokulturellen Essenz. Materiale Gruppenrepräsentanz bedeutet indes nicht Vielfalt, sondern identitärer Ständestaat, der nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende ins politische Zentrum rückt. Frank Schorkopf (Staat und Diversität, 2017) hat dies treffend als neuen Tribalismus charakterisiert. In den USA lässt sich beobachten, wohin die Obsessionen sich gegenseitig aufschaukelnder rechter wie linker Identitätspolitik führen.

Auch eine fiktive Paritätsregelung konstruiert "die Frauen" und "die Männer" als homogene Interessengruppen, die sowohl demokratischen Verfahren als auch individueller Freiheit vorgelagert sind. Essentialisierte Geschlechterpolitik gerät in die identitäre Sackgasse.

Formale Gleichheit von Wahl und Repräsentation

In einem identitären Modell werden Abgeordnete nicht mehr als Repräsentanten einer inhomogenen, aber in gleicher Freiheit vereinten Allgemeinheit wahrgenommen, sondern als Vertreter stereotyp geformter Gruppen: ein schwarzer Abgeordneter nicht als Bildungspolitiker, sondern als Repräsentant schwarzer Deutscher; eine Abgeordnete mit türkischen Eltern nicht als Expertin für Finanzpolitik, sondern instrumentell als Vorzeigemigrantin. Und weibliche Abgeordnete als Repräsentantinnen der Frauen? Die Idee der Gesamtrepräsentanz, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) leitbildhaft formuliert ("Vertreter des ganzen Volkes"), war hier schon immer inklusiver als eine identitätsverbissene politische Kultur.

Verbindliche Vorgaben, die die Zusammensetzung der Wahlvorschläge nach geschlechts- oder anderen gruppenbezogenen Merkmalen materiell steuern, verletzen die passive Wahlrechtsgleichheit nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, die von der Rechtsprechung als strikt formal verstanden wird. Formale Gleichheit bedeutet, dass jede Vorstellung von Gemeinwohl und das damit untrennbar verbundene Personaltableau als grundsätzlich gleichwertig akzeptiert und die Entscheidung hierüber den Wählenden überlassen wird. Gerade Gleichstellungspolitik ist ein exzellentes Konfliktthema, über das man streiten darf. Eine Partei mit feministischer Agenda wird anderes Personal rekrutieren und aufstellen als eine, die mit patriarchaler Besitzstandswahrung wirbt. Beides ist gleichermaßen zulässig. Eine Paritätsregelung schränkt hingegen die Freiräume zur Kandidatur ein und diktiert letztlich ein gleichstellungsorientiertes Personalangebot sowie damit eine konkrete Politik, zu der keine Partei verpflichtet werden kann.

Auch finanzielle Nachteile für eine Nichterfüllung der Parität (wie im relativ erfolglosen französischen Modell) wären mit der formalen Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG) unvereinbar, denen es auf eigenes Risiko freisteht, sich gegenüber materialen Gleichstellungszielen ablehnend zu positionieren.

Keine Rechtfertigung durch Gleichstellungsauftrag

Das Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung fördert und bestehende Nachteile beseitigt, ist auf eine Steuerung demokratischer Wahlergebnisse nicht anwendbar. In einem System freier Wahlen kann es per se keine materielle Gerechtigkeit oder Erfolgsgarantien geben. Die Wahl der politischen Repräsentation ist immer Willkür der Wählenden. Ohne Voluntarismus ist Demokratie nicht zu haben. Und ein wahlabhängiges Mandat ist kein Job, über dessen Vergabe diskriminierungsfrei entschieden werden muss. Eine wahlrechtliche Parität ist daher auch nicht mit einer – unter bestimmten Voraussetzungen zulässigen – "Frauenquote" in Unternehmen oder im öffentlichen Dienst vergleichbar.

"Geschlechtergerechtigkeit" lässt sich demokratieverträglich letztlich nur über eine kluge Personalpolitik der Parteien erreichen. Jede Partei ist für ihre Attraktivität und Zukunftstauglichkeit selbst verantwortlich. Das gilt nicht nur für ausgewogene Geschlechterverhältnisse, sondern auch für die Einbindung von Migrantinnen und Migranten. Frauen könnten ihre Macht als Wählerinnen dafür einsetzen, einen höheren Anteil weiblicher Abgeordneter in Parlamenten zu erzwingen, indem sie Parteien wählen, die Parität nicht nur als Lippenbekenntnis fordern, sondern auch praktizieren. Vielleicht geschieht dies ohnehin längst, wenn man den Erfolgskurs der Grünen beobachtet. Und wenn die CDU ihren überproportionalen Wahlerfolg bei Wählerinnen fortsetzen will, der zuletzt vielleicht auch mit einer Frau als Kanzlerin zusammenhing, wird sie die Geschlechterfrage gewiss nicht ignorieren können.

Mehr Macht den Wählenden!

Natürlich gibt es strukturelle geschlechtsspezifische Probleme in Parteien: Männerseilschaften funktionieren immer noch oft. Und die Direktkandidatur in den Wahlkreisen fördert eher eine Kultur röhrender Platzhirsche. Ausgewogenere Landeslisten kommen dann bei überproportionalen Erststimmenerfolgen nur noch begrenzt zum Zug. Vielleicht benachteiligt zudem das gelebte – aber auch anders gestaltbare – Berufsprofil des Vollblutpolitikers faktisch Frauen.

Demokratiekompatible Korrekturen dürfen jedoch nicht bei einer faktischen Vorwegnahme des Wahlergebnisses ansetzen, wie dies eine Paritätsregelung täte. Das Wahlrecht könnte den Wählenden mehr Macht einräumen, über die Personalzusammensetzung ihres Parlaments selbst zu entscheiden. Eine verfassungskonforme Möglichkeit bestünde darin, das Panaschieren und Kumulieren zu erlauben. Insoweit könnten gerade Wählerinnen, wenn sie dies wollen, gezielt Frauen "nach oben befördern". Diskutabel erschiene es auch, in den Wahlkreisen geschlechtsverschiedene Doppelkandidaturen zu ermöglichen, auf die eine Stimme mit Präferenz abgegeben werden kann. Die Partei gewinnt dann das Direktmandat mit relativer Mehrheit, das der Kandidatur zufällt, die die meisten auf die siegreiche Partei abgegebenen Stimmen auf sich vereint.

Der freiheitliche Gewinn eines repräsentativen Herrschaftssystems liegt nicht darin, gesellschaftliche Gruppenstrukturen abzubilden. Dass das Parlament "Abbild" der Gesellschaft sein solle, ist nur ein weiteres populistisches Missverständnis. Formale Repräsentation ermöglicht in einer pluralistischen Gesellschaft gegenseitige Freiheit gerade durch Nichtidentität. Der Deutsche Bundestag repräsentiert uns, nicht weil er der Bevölkerung substanzhaft ähnelt, sondern weil wir uns alle im Wahlakt als Gleiche begegnen und selbst frei entscheiden, wer uns repräsentieren soll. Das Ergebnis muss nicht zwingend schön sein.

Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.

*Religion ergänzt am 20.11.2018, 10.07 Uhr

Zitiervorschlag

Frauenquote im Deutschen Bundestag: Keine Normen gegen röhrende Platzhirsche . In: Legal Tribune Online, 19.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32177/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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