EuGH-Generalanwalt zu tariflicher Ausnahme: Aus­g­leich für Leih­ar­beiter, wenn es kein Equal Pay gibt

Gastbeitrag von Jörn Kuhn und Jennifer Bold

15.07.2022

Ein deutscher Fall vor dem EuGH wirft die Frage auf, ob Leiharbeiter nach Tarif schlechter bezahlt werden dürfen als das Stammpersonal. Jörn Kuhn und Jennifer Bold erläutern die Schlussanträge des Generalanwalts in diesem Fall.

Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gibt in seinen Schlussanträgen vom Donnerstag (14.07.2022, Az. C-311/21) nur formal grünes Licht für eine Ausnahme von der Equal-Pay-Regelung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). Die Schlussanträge sind für die Entscheidung des EuGH zwar nicht bindend, in aller Regel folgt der EuGH aber den Ausführungen des jeweils zuständigen Generalanwalts.

Die dem EuGH vom Bundesarbeitsgericht (BAG) vorgelegte Rechtsfrage hat weitreichende Bedeutung für das Tarifarbeitsrecht. Denn nach der Ausnahme in dem AÜG können in Tarifverträgen der Leiharbeitsbranche nämlich (zeitlich begrenzt) geringere Gehälter für Leiharbeiter als für das Stammpersonal festgelegt werden. Wenn ein Tarifvertrag aber auf diese Weise von dem Equal-Pay-Grundsatz abweicht, muss er weiterhin den strengen Anforderungen der europäischen Leiharbeitsrichtlinie genügen, fand nun der Generalanwalt. Tut er das nicht, dürften deutsche Gerichte solche tariflichen Regelungen im Zweifel unangewendet lassen.

Das heißt ganz praktisch: Schlechter als das Stammpersonal bezahlte Leiharbeiter müssen nach Auffassung des Generalanwalts einen Ausgleich bekommen.

Das AÜG ist nicht das erste Mal beim EuGH

Erst im März dieses Jahres hatte sich der EuGH mit Fragen der Leiharbeit nach deutschem Recht befasst (Urt. v. 17.03.2022 (Az. C-232/20)). Mit dem aktuellen Fall und den Schlussanträgen vom Donnerstag wird der EuGH die AÜG-Rechtsprechung konkretisieren.

Konkret hält der Generalanwalt im Ergebnis fest: Es bleibt den Tarifvertragsparteien nach dem AÜG weiterhin möglich, in den Tarifverträgen ein geringeres Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer zu vereinbaren. Dafür müsse der Tarifvertrag als Ausgleich für die geringere Vergütung aber andere Vorteile für die Leiharbeitnehmer gewähren - und diese Vorteile müssen auch Gewicht haben, in ihrer Bedeutung also dem Arbeitsentgelt als fundamentale Beschäftigungsbedingung gerecht werden.  

Unternehmen der Zeitarbeitsbranche werden sich voraussichtlich schon jetzt auf die verstärkte Forderung von Equal Pay und Klagen auf Differenzvergütung einstellen müssen, auch wenn eine Abweichung nach Tarifvertrag erlaubt ist. Denn was ein “angemessener Vorteilsausgleich” für die Leiharbeitnehmer ist, wird viele juristische Detailfragen aufwerfen.

Der Deutsche Fall: Leiharbeiterin verlangt den höheren Branchetariflohn

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte mit seinem Vorlagebeschluss vom 16. Dezember 2020 (Az. 5 AZR 143/19 (A)) dafür gesorgt, dass der Fall vor den EuGH gelangt. Es will im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG vom deutschen Gesetzgeber mit dem AÜG (in alter wie neuer Fassung) richtlinienkonform umgesetzt worden sind.

In dem deutschen Ausgangsrechtsstreit verlangt eine als Leiharbeiterin tätige Frau nach Maßgabe des Equal-Pay-Grundsatzes (§ 9 AÜG aF) eine Differenzvergütung in Höhe von insgesamt 1.296,72 Euro brutto für einen Zeitraum von vier Monaten. Sie habe für Ihre Arbeit bei einem Unternehmen des Einzelhandels einen tariflichen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto erhalten habe, während andere Arbeitnehmer mit vergleichbarer Tätigkeit einen tariflichen Stundenlohn nach dem Branchentarifvertrag für den Einzelhandel in Höhe von 13,64 Euro brutto erhalten hätten.  

Sowohl nach alter wie auch neuer Rechtslage des mit Wirkung zum 01. April 2017 reformierten AÜG kann vom Equal-Pay-Grundsatz dann abgewichen werden, wenn es eine tarifliche Regelung für das Leiharbeitsverhältnis gibt. Das kommende EuGH-Urteil wird also Auswirkungen für die Vergangenheit wie die Zukunft haben.

Equal Pay: Der Eckpfeiler der Leiharbeit

Wirtschaftlich kann es für Unternehmen teuer werden, denn ein Verstoß gegen den Equal-Pay-Grundsatz kann eine Ordnungswidrigkeit darstellen.

Ausgangspunkt des Equal-Pay-Grundsatzes ist Art. 5 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie. Danach müssen die Arbeits- und Beschäftigungsbedingung des Leiharbeitnehmers während des Einsatzes denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie vom entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt würden.  

Die Leiharbeitsrichtlinie lässt hiervon aber besagte Ausnahmen für Tarifverträge zu. Umgesetzt in deutsches Recht ist das in § 8 AÜG, der die unterschiedliche Bezahlung zulässt, sofern es tarifliche Regelungen gibt.

Neben der Frage, wie sich der "Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern” nach Art. 5. Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie definiert und inwiefern dann vom Equal-Pay-Grundsatz abgewichen werden darf, wollte das BAG vom EuGH auch noch wissen, ob der Gesetzgeber die Kriterien dafür festlegen muss, wann der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer gegeben ist. Bisher nahm das BAG nämlich immer eine Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen an. Sollte es eine solche nach Auffassung des EuGH nicht geben, wollte das BAG noch wissen, ob nationale Gerichte jeweils im Einzelfall überprüfen dürfen, ob Tarifverträge den Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer gewähren.

Generalanwalt: Tariffreiheit nicht unbegrenzt

Der Clou an den Schlussanträgen: Der Generalanwalt sieht nicht den Gesetzgeber in der Verantwortung, Kriterien und Bedingungen festzulegen, die für eine mögliche Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz durch Tarifvertrag erfüllt sein müssen. Vielmehr sieht er die Tarifvertragsparteien selbst in der Pflicht, beim Abschluss solcher Tarifverträge die Bestimmungen der Leiharbeitsrichtlinie zu beachten, also entsprechenden Vorteilsausgleich zu gewähren. Nur dann werde der unionsrechtlich geforderte Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern geachtet.  

Nach Auffassung des Generalanwalts steht den Tarifvertragsparteien ein weiter Beurteilungsspielraum zu, um einen angemessenen Ausgleich zwischen Abweichungen beim Arbeitsentgelt und den zu gewährenden Ausgleichsvorteilen festzulegen – eine uneingeschränkte Vermutung dafür, dass Tarifverträge mit dem Unionsrecht vereinbar sind, bestehe aber nicht. Folglich seien die nationalen Gerichte verpflichtet, zu prüfen, ob Tarifverträge, die vom Grundsatz des Equal Pay abweichen, den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern sicherstellen.  

Kommt das Gericht bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Tarifvertragsparteien im fraglichen Tarifvertrag den erforderlichen Ausgleich nicht hergestellt haben, ist die tarifliche Bestimmung zur Vergütung des Leiharbeitnehmers nicht anzuwenden. Nur so könne die Wirksamkeit des unionsrechtlichen Equal-Pay-Grundsatzes sichergestellt werden, heißt es in den Schlussanträgen.

Der Autor Jörn Kuhn ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in Köln bei Oppenhoff & Partner. Die Autorin Jennifer Bold ist Rechtsanwältin in Frankfurt/Main, ebenfalls bei Oppenhoff & Partner.

 

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

EuGH-Generalanwalt zu tariflicher Ausnahme: Ausgleich für Leiharbeiter, wenn es kein Equal Pay gibt . In: Legal Tribune Online, 15.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49066/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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