EuGH bremst Wegzugsteuer aus: Unter­nehmen dürfen Stun­dung wählen

von Wolfram Vogel

05.12.2011

Die so genannte Wegzugsteuer ist nach einem aktuellen Urteil des EuGH nicht mit Europarecht vereinbar. Für Unternehmen kann dies eine große Erleichterung bedeuten, weiß Steuerberater und Rechtsanwalt Wolfram Vogel. Denn wer will schon Gewinne versteuern, die er noch nicht erzielt hat? Verzichten muss der Staat aber auch künftig nicht auf die Einnahmen. Er erhält sie nur später.

Ein gesellschaftsrechtlich zulässiger Wegzug einer Kapitalgesellschaft innerhalb der Europäischen Union darf nicht zwingend zu einer Sofortversteuerung der sog. stillen Reserven führen. So urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 29. November 2011 (Rechtssache National Grid Indus; Az. C–371/10).

Im entschiedenen Verfahren hatte eine niederländische Kapitalgesellschaft ihren Verwaltungssitz nach Großbritannien verlegt. Nach dem Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den Niederlanden und Großbritannien darf dann nur noch Großbritannien zukünftige Gewinne besteuern; die Niederlande gehen leer aus. Daher sehen die niederländischen Steuervorschriften eine Besteuerung der stillen Reserven im Zeitpunkt des Wegzugs vor. Die Steuer muss sofort gezahlt werden – und nicht erst bei Realisierung der stillen Reserven.

Keine Berufung auf Cartesio

Das betroffene Unternehmen klagte gegen die Besteuerung bis zum EuGH. Die niederländische Regierung und zahlreiche andere Länder mit ähnlichen Vorschriften beriefen sich im Verfahren auf die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Cartesio. Dort hatten die Europarichter entschieden, dass ein Staat einer Gesellschaft die Rechtspersönlichkeit entziehen könne, wenn sie in ein anderes Land zieht, und in der Folge dann auch alle stillen Reserven sofort besteuern könne. Daher, so argumentierten die Staaten, seien sie auch dann zur sofortigen Besteuerung befugt, wenn sie der betroffenen Gesellschaft die Rechtsfähigkeit nicht aberkennen.

Der EuGH sah das anders: Wenn eine Gesellschaft die Rechtsfähigkeit nach einem Wegzug behalte, könne sie sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Diese sei hier betroffen, weil die Verlegung des Gesellschaftssitzes über die Grenze durch die Wegzugsbesteuerung anders behandelt würde als eine Verlegung innerhalb der Niederlande, die keine Besteuerung der stillen Reserven nach sich zieht.

Festsetzung sofort, Zahlung erst später

Der EuGH hält zwar in seinem Urteil eine sofortige Festsetzung per Steuerbescheid für gerechtfertigt, da die im Zeitpunkt des Wegzugs vorhandenen stillen Reserven in diesem Zeitpunkt am besten ermittelt werden können. Die sofortige Bezahlung der Steuer sei aber unverhältnismäßig. Es sei ausreichend, dass die Steuer bis zur Realisierung der stillen Reserven, zum Beispiel bei einer Veräußerung, gestundet wird. Die Stundung könne von der Gewährung von Sicherheiten abhängig gemacht werden, wenn die Voraussetzungen hierfür nach den nationalen Vorschriften erfüllt seien.

Einige Staaten hatten im Verfahren argumentiert, dass ein hoher Verwaltungsaufwand für die Nachverfolgung erforderlich sei, wann die stillen Reserven realisiert würden. Der EuGH folgte dem nicht. Ob dem Steuerpflichtigen die Nachverfolgung zu aufwändig sei, könne dieser besser entscheiden; nur mit einem entsprechenden Wahlrecht sei die Wegzugsteuer verhältnismäßig.

Ob der Staat Stundungszinsen erheben kann, sagten die Richter nicht. Da die Stundung aber die Gleichstellung mit dem inländischen Steuerpflichtigen gewährleisten soll, der auf stille Reserven keine Zinsen zahlt, ist die Erhebung von Stundungszinsen nicht gerechtfertigt.

Deutscher Gesetzgeber wieder gefragt

Die einschlägigen deutschen Vorschriften für Kapitalgesellschaften sehen ebenfalls eine sofortige Festsetzung und sofortige Steuerzahlungspflicht für die stillen Reserven bei Wegzug vor. Sie sind bei Anwendung der vom EuGH aufgestellten Grundsätze europarechtswidrig. Die wegziehende Gesellschaft muss ein Wahlrecht haben, ob sie die Steuern auf stille Reserven sofort oder erst bei tatsächlicher Realisierung zahlen will. Gleiches sollte auch für andere deutsche Steuervorschriften gelten, die eine Sofortversteuerung bei einer Verlagerung von Teilen des Unternehmens in ein EU-Land vorsehen. Der Gesetzgeber muss also – wieder mal – in Sachen Wegzugsteuer tätig werden.

Wolfram Vogel ist Rechtsanwalt und Juniorpartner bei Oppenhoff & Partner in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Wolfram Vogel, EuGH bremst Wegzugsteuer aus: Unternehmen dürfen Stundung wählen . In: Legal Tribune Online, 05.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4970/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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