BGH stärkt Opposition bei Amri-Aufklärung: Ein Unter­su­chungs­aus­schuss muss unter­su­chen wollen

von Dr. Markus Sehl

27.03.2019

Im Amri-Untersuchungsausschuss will die Regierungsmehrheit seiner Mitglieder lieber weniger als mehr geheime Akten sehen. Machtspiele mit Minderheitenrechten im Untersuchungsausschuss aber duldet der BGH nicht. Mit deutlichen Botschaften.

Es klingt erstmal kurios: Ein Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag zum Berliner Weihnachtsmarkt-Attentat will lieber weniger als mehr Akten deutscher Sicherheitsbehörden einsehen. Genau das hatte aber die Mehrheit aus den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD im Untersuchungsausschuss durchzusetzen versucht. 

Die Vertreter der Opposition im Ausschuss bekamen nun aber vom Bundesgerichtshof (BGH) Recht. Wie jetzt bekannt wurde, hat der 3. Strafsenat bereits am 6. Februar entschieden, dass der Ausschuss zahlreiche Akten und Daten des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) und des Bundesnachrichtendienstes (BND) als Beweise anfordern muss – auch gegen den Willen der Mehrheit im Ausschuss (Az. 3 Ars 10/18). 

In dem 22-seitigen Beschluss, der LTO vorliegt, stärkt der BGH die Rolle des parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Er verpflichtet den Ausschuss nun sogar dazu, einen Beschluss zu fassen, die begehrten Akten heraus zu verlangen. Und er stellt klar, dass der Untersuchungsausschuss nicht der Ort ist, um die Mehrheit der Regierungsparteien gegen die Opposition auszuspielen. Ob ein Antrag auf Lieferung geheimer Dokumente an den Untersuchungsausschuss abgelehnt werden muss, entscheidet zwar am Ende die Bundesregierung als Adressatin des Beweisantrags – nicht aber vorgelagert schon die Mehrheit im Untersuchungsausschuss. 

Untersuchungsausschuss(mehrheit) will Beweisantrag verhindern

Der sog. 1. Untersuchungsausschuss in der 19. Wahlperiode soll die Hintergründe des Terroranschlags von Anis Amri am 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz aufklären. 
Im Ausschuss sitzen drei Mitglieder für die CDU/CSU, zwei für die SPD, und eines jeweils für die Grünen, Die Linke, FDP und AfD. Die Regierungsparteien haben damit eine Mehrheit von fünf zu vier gegen die Opposition. Die Minderheit aus Grünen, Linke und FDP verfügt gemeinsam über mehr als ein Viertel der Mitglieder und kann damit nach den Regeln des Untersuchungsausschusses dafür sorgen, dass der Untersuchungsausschuss bestimmte Beweise, vor allem Dokumente und Daten von der Bundesregierung erfragt. 

Im Fokus der Abgeordneten steht auch, ob und welche Pannen es bei den Sicherheitsbehörden gegeben hat. Im März 2018 beantragte die Minderheit von Grünen, Linke und FDP im Ausschuss, geheime Akten und weitere Beweise umfassend beizuziehen. Sie will wissen, was die deutschen Geheimdienste wann zum Attentäter Amri und vor allem zu möglichen Komplizen wussten. Die Mehrheit im Ausschuss lehnte den "eigenen" Antrag ab. Im Untersuchungsausschuss ringen also Regierungsmehrheit und Opposition um den eigenen Kurs bei der Aufklärungsarbeit. 

Im August 2018 entschied der BGH, der nach § 36 des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse (PUAG) primär zuständig ist, dann über eine Beschwerde der Minderheit. Der BGH-Ermittlungsrichter betonte damals, das Gericht könne die Entscheidung des Ausschusses nicht ersetzen. Er gab der Minderheit aber in weiten Teilen Recht und entschied, dass der Untersuchungsausschuss noch einmal über die beantragte Beweiserhebung abstimmen – und dieses Mal auch mehrheitlich zustimmen müsse, weil keine Gründe ersichtlich sind, die den Beweisantrag unzulässig machen würden. 

Untersuchungsausschuss vs. Parlamentarisches Kontrollgremium?

Dagegen hat sich der Untersuchungsausschuss selbst – getragen von der Mehrheit – gewandt und will weiterhin verhindern, dass er selbst zur Zustimmung zur Aktenbeiziehung verpflichtet wird. Die Mehrheit argumentiert, dass die entsprechenden Akten bereits in der 18. Wahlperiode im Januar 2017 dem Parlamentarischen Kontrollgremium übermittelt wurden. Dieses Gremium soll die Nachrichtendienste wie BfV und BND kontrollieren, seine Beratungen sind geheim, die Mitglieder zu besonderer Verschwiegenheit verpflichtet. Das Gremium stellt sozusagen den institutionalisierten Kompromiss zwischen demokratischer Geheimdienstkontrolle und notwendigen Geheimhaltungsbedürfnissen der Dienste dar. In diesem Gremium sitzen drei Mitglieder der CDU/CSU, zwei der SPD und jeweils ein Mitglied der Grünen, der Linken, der FDP und der AfD.

Bei der Aufklärung der Geschehnisse rund um den Weihnachtsmarkt-Anschlag kommt es zu Überschneidungen zwischen dem Parlamentarischen Kontrollgremium und dem Untersuchungsausschuss. Die Minderheit im Untersuchungsausschuss will vor allem wissen, welche Akten mit welchem Inhalt dem Parlamentarischen Kontrollgremium vorgelegt wurden. Nur so könne der Untersuchungsausschuss wissen, was ihm zur Aufklärung fehlt und nachfordern. Laut seinem Untersuchungsauftrag soll der Ausschuss auch überprüfen, ob die Öffentlichkeit angemessen und zutreffend informiert wurde.

Die Minderheit sieht in der Ablehnung des Beweisantrags deshalb einen Verstoß gegen § 17 Abs. 2 PUAG. Die Vorschrift legt fest: "Beweise sind zu erheben, wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt sind, es sei denn, die Beweiserhebung ist unzulässig oder das Beweismittel ist auch nach Anwendung der in diesem Gesetz vorgesehenen Zwangsmittel unerreichbar."

Die Ausschussmehrheit hält dem entgegen, dass eine solch weitreichende Beweiserhebung das Beratungsgeheimnis nach § 10 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über die Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (PKGrG) beeinträchtigen würde. Die Mitglieder aus den Regierungsparteien wollen die geheimen Dokumente also allein im Parlamentarischen Kontrollgremium belassen und der Untersuchungsausschuss soll auch keine genaue Auskunft darüber erhalten, welche Akten an das Gremium geliefert wurden. Begründung: Allein anhand der Lieferungen der Dokumente sei schon ablesbar, was im Gremium geheim beraten wurde.

BGH: Nebeneinander von Kontrollgremium und Untersuchungsausschuss

Der 3. Senat beim BGH hat nun die Entscheidung des Ermittlungsrichters aus August 2018 bestätigt. Dass der Ausschuss, getragen von seiner Mehrheit, die Beweisanträge der Minderheit ablehnte, war rechtswidrig. Zum einen habe der Antrag das erforderliche Mindestquorum erreicht und zum anderen sei der Beweisantrag in der Sache zulässig.

Unzulässig wäre ein Beweisantrag vor allem dann, wenn er selbst gegen die Verfassung, andere Gesetze oder Geschäftsordnungen verstößt. Der BGH führt in seinem Beschluss aus, dass insbesondere nicht Geheimhaltungsinteressen nach § 10 Abs. 1 PKGrG dem Antrag grundsätzlich entgegenstehen. Auch im Recht des Untersuchungsausschusses gebe es ausreichende Vorkehrungen zum Geheimnisschutz, etwa durch die Klassifizierung von Dokumenten als Verschlusssachen oder als "geheim". Das Untersuchungsausschussrecht im PUAG kenne ebenfalls den Ausschluss der Öffentlichkeit bei einer Beweisaufnahme, die das Staatswohl gefährden könnte. 

Der BGH trifft auch grundsätzliche Feststellungen zum Nebeneinander der beiden Gremien, das bereits verfassungsrechtlich durch Art. 44 und Art. 45d Grundgesetz (GG) angelegt sei. Die Existenz des Parlamentarischen Kontrollgremiums verdränge nicht die parlamentarischen Informationsansprüche aus dem Untersuchungsausschuss. Die Befugnisse aus dem Kontrollgremium könnten vielmehr gerade dazu führen, dass auf Fehlverhalten der Nachrichtendienste hingewiesen werde und dadurch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses überhaupt erst angestoßen wird.

Sodann unterscheidet der BGH zwischen den an sich geheimen Beratungen im Kontrollgremium und den ihm überlassenen Akten. Letztere dienten nur der Grundlage der Beratung, stellten aber nicht die Beratung selbst dar. Er kann deshalb keinen Verstoß durch den Beweisantrag gegen das Beratungsgeheimnis und die Verschwiegenheitspflicht nach § 10 PKGrG feststellen. Damit wird ein weiterer Konfliktpunkt ausgeräumt.

Der Senat macht auch deutlich, dass ein Widerstand gegen Beweisanträge nicht aus der Regierungs(parteien)sphäre heraus in den Untersuchungsausschuss hineinverlagert werden darf. Das PUAG verfüge über ein eigenes Regime sowie Verfahren von Antrag und Entscheidung – auch über Ablehnungsgründe. Diese werden nach dem System des § 18 PUAG von der Bundesregierung wahrgenommen. Ihr obliegt es schließlich, auf einen Beweisantrag entsprechend zu reagieren. Betrifft ein Antrag das Staatswohl oder den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, kann die Regierung ihn ablehnen – und muss das dann begründen.

Feststellung mit besonderer Botschaft

Abschließend befasst sich der BGH noch mit der Frage, ob er selbst nach § 17 Abs. 4 PUAG einen Beschluss des Untersuchungsausschusses ersetzen darf. Der Senat verweist darauf, dass es sich bei dem vorliegenden Verfahren quasi um "ein einfachgesetzliches Organstreitverfahren vor dem Bundesgerichtshof handelt". Er führt aus, dass in einem Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) regelmäßig auch nur Feststellungsentscheidungen getroffen werden. Den Rechtsgedanken überträgt der BGH und belässt es bei seiner Feststellungsentscheidung. 

Dennoch schickt er noch eine Botschaft an die Regierungsmehrheit im Untersuchungsausschuss hinterher: "Denn insoweit gilt der allgemeine Grundsatz, dass ein Verfahrensbeteiligter, von dem – wie hier – angesichts seiner verfassungsmäßig verankerten Bindung an Recht und Gesetz die Respektierung von Gerichtsentscheidungen auch ohne Vollstreckungsdruck erwartet werden darf, einer solchen Verpflichtung bereits im Falle ihrer bloßen Feststellung nachkommt". 

Die Antragsteller begrüßen die BGH-Entscheidung. Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen), der sowohl Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium als auch im 1. Untersuchungsausschuss ist, sagte: "Die Entscheidung des BGH ist ein wichtiger Schritt für die Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss. Die Große Koalition hat sich im Untersuchungsausschuss nur allzu oft mit der Bundesregierung gemein gemacht und ihre Kontrollfunktion sträflich vernachlässigt." 

FDP-Innenpolitiker und Untersuchungsausschussmitglied Benjamin Strasser meinte: "Die Fraktionen der Großen Koalition haben im Untersuchungsausschuss Breitscheidplatz zu Unrecht Beweisanträge von FDP, Linken und Grünen blockiert. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes hätte das nicht deutlicher machen können." Und Martina Renner, Obfrau für Die Linke im Untersuchungsausschuss kommentierte: "Der Plan der Bundesregierung, relevante Informationen zu verstecken und die Aufklärung zu blockieren, ist gescheitert. Transparente und ehrliche Aufklärung lässt sich nicht mit den Winkelzügen der Geheimhaltung aufhalten."
 

Zitiervorschlag

Markus Sehl, BGH stärkt Opposition bei Amri-Aufklärung: Ein Untersuchungsausschuss muss untersuchen wollen . In: Legal Tribune Online, 27.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34617/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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