70 Jahre GG – Art. 12: Berufsfreiheit im Jahr 2019: "Ohne Artikel 12 gäbe es noch viel mehr Wirt­schafts­re­gu­lie­rung"

Interview von Pia Lorenz

12.05.2019

Kaum ein Grundrecht geht so mit der Zeit wie die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG. Martin Burgi zeigt im Gespräch mit LTO woher sie kommt, wofür sie steht und wohin sie in Zeiten von "New Work" und Digitalisierung noch gehen könnte.

Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, um einen Blick auf die wichtigsten Werte der deutschen Gesellschaft zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Grundrechte vor, ihre Entwicklung und ihre Bedeutung gestern und heute.

LTO: Art. 12 Grundgesetz regelt die Freiheit, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Herr Professor Burgi, wie würden Sie einem Nichtjuristen den wesentlichen Gehalt dieses Grundrechts erklären, das die meisten Menschen nicht einmal kennen?

Prof. Dr. Martin Burgi: Art. 12 ist das Grundrecht der Wirtschaft. Jede staatliche Maßnahme, welche die wirtschaftliche Betätigung betrifft, ist an diesem Grundrecht zu messen. Der gesamte wirtschaftspolitische Handlungsspielraum des Staates bestimmt sich nach diesem Grundrecht. 

Das bleibt ziemlich abstrakt. Versuchen wir, es etwas fassbarer zu kriegen.

Art. 12 ist ein Grundrecht, mit dem jeder in Berührung kommt. Es determiniert zum Beispiel die Vergabe von Studienplätzen. Also die Frage, wie man einen Beruf erlernen kann. Hat man die Ausbildung geschafft, ergibt sich wiederum aus Art. 12, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um ihn ausüben zu dürfen - ob nun als Arzt, Rechtsanwalt oder Handwerker. Und in der täglichen Berufsübung ist Art. 12 dafür verantwortlich, ob der Staat den Berufstätigen mit noch mehr Verwaltung oder Regulierungsaktivitäten "belästigen" darf. 

Wie sieht es mit Frauenförderungsmaßnahmen wie einer Frauenquote und der angestrebten gleichen Bezahlung bei gleicher Leistung (Equal Pay) aus? Wären solche gesetzgeberischen Ambitionen überhaupt irgendwie Art-12-konform umsetzbar? 

Das wäre durchaus möglich. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat Art. 12 GG zu einem Grundrecht gemacht, in das man vergleichsweise leichter eingreifen kann als zum Beispiel in die Glaubens-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. Der Spielraum des Staates ist bei diesem Grundrecht relativ groß, die Kontrolldichte des BVerfG ist vergleichsweise zurückgenommen. 

"Ohne Artikel 12 gäbe es noch viel mehr Wirtschaftsregulierung"

Worauf führen Sie es zurück, dass die Verfassungsrichter im Bereich Wirtschaft dem Staat mehr Spielraum lassen als zum Beispiel im Bereich Religion? 

Das müsste man sie wohl selbst fragen. Aber eindeutig ist, dass Grundrechte wie zum Beispiel die Religionsfreiheit in aller Regel dem Schutz von Minderheiten dienen. Im Wirtschaftsrecht dagegen geht es oft, zumindest strukturell gesehen, um eher starke Betroffene, die als weniger schutzwürdig angesehen werden. 

Trotzdem gibt es dieses Grundrecht und der Staat muss gute Gründe haben, wenn er es beschränken will. Die Wirtschaftspolitik überlegt sich vor jeder Maßnahme sehr gründlich, ob diese die Berufsfreiheit nicht verletzt. Anders formuliert: Es gäbe noch viel mehr Wirtschaftsregulierung, wenn es Art. 12 nicht gäbe. 

Also nehmen sich im Bereich Wirtschaft beide Seiten zurück, das BVerfG bei der Kontrolle, der Staat schon beim Erlass von Gesetzen? 

Ja, das beobachte ich so. Ein aktuelles Beispiel ist der Plan der Großen Koalition, für einige Berufe den Meisterbrief wieder einzuführen, etwa für Fliesenleger. Aber die Gegner des Vorhabens sehen ein Problem wegen Art. 12. Ich persönlich beurteile das anders - aber die Diskussion wird jedenfalls seit einem Jahr vor allem über Art. 12 geführt. 

Entspricht das nicht einem allgemein zu beobachtenden Trend: Wird Recht, werden nicht vor allem  Grundrechte zunehmend im Meinungskampf als Waffe instrumentalisiert? 

Absolut, auch und gerade in der wirtschaftlichen Diskussion. Wenn die jeweilige Opposition sich mit ihrer Ansicht nicht durchsetzen kann, versucht sie, später auf dem Rechtsweg gegen das aus ihrer Sicht unerwünschte politische Vorhaben vorzugehen. 

Das gilt sicherlich für alle Grundrechte, aber besonders stark für Grundrechte, bei denen sehr unterschiedliche Interessen betroffen sind. Ein Beispiel ist der Klimaschutz, aber auch die umstrittenen Dieselfahrverbote machen das Ganze sehr anschaulich:

Viele Menschen nutzen das Auto ja beruflich. Deshalb hat auch das Bundesverwaltungsgericht zwar Fahrverbote für grundsätzlich möglich erklärt, aber auch sofort darauf hingewiesen, dass es Ausnahmen geben muss, etwa für Handwerker. Der Fliesenleger muss die Fliesen, die er verlegen muss, schließlich mit seinem Transporter erst einmal zum Kunden bringen können.  

"Auch der künftige Umgang mit der Digitalisierung muss sich an Art. 12 GG messen lassen"

Auch die Anwälte haben aktuell ein Problem: Legal-Tech-Plattformen bieten Dienstleistungen an, die bisher der Anwaltschaft vorbehalten waren. Dabei verbieten berufsrechtliche Regelungen den Anwälten Geschäftsmodelle, mit denen die Legal-Tech-Anbieter Geld verdienen, zum Beispiel Bezahlung nur im Erfolgsfall oder den Erlass von Gerichtskosten. Es ist wie bei Uber und den Taxiunternehmen: Kann eine Berufsgruppe sich auf Art. 12 berufen, wenn die eigene Tätigkeit durch Angebote neuer Wettbewerber gefährdet wird, die weniger Beschränkungen unterliegen als man selbst? 

Auch der künftige Umgang des Staates mit der Digitalwirtschaft muss sich an Art. 12 GG messen lassen. Dabei gibt es drei Möglichkeiten: Entweder muss der Staat die Beschränkungen, die den bisher Berufstätigen auferlegt waren, lockern. Oder aber er muss sich gute Gründe überlegen, um auch die neuen Anbieter denselben Beschränkungen zu unterwerfen. Und drittens könnte ein möglicher neuer Rechtsrahmen für alle entstehen.

Dabei muss er Schutzmechanismen wahren – und in dieser Konstellation steht dahinter die Frage, warum wir sonst Rechtsdienstleistungen nur hochausgebildeten Anwälten anvertrauen, sie nun aber Menschen anbieten lassen, die vielleicht keinerlei rechtliches Hintergrundwissen haben. Hier spielt in Art. 12 dann auch noch der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 hinein. 

Art. 12 tritt häufig in Kombination mit anderen Grundrechten auf, fast noch häufiger aber wirkt mittlerweile auch europäisches Recht ein. Welche Rolle spielt das deutsche Grundrecht noch neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungs- sowie Dienstleistungsfreiheit? 

Bis vor einigen Jahren wurde mehrheitlich angenommen, die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG  würde stark an Bedeutung verlieren. Diese Annahme hat sich nicht bewahrheitet, auch weil das EU-Recht vieles gar nicht abdeckt. 

Oft ist der europäische Einschränkungsspielraum auch großzügiger als bei Art. 12. Insgesamt kann man sagen, dass die deutsche Berufsfreiheit und die europäischen Garantien mittlerweile häufig  nebeneinander auftreten. Das bedeutet: Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen müssen sowohl an Art. 12 GG als auch an Europarecht gemessen werden - und sind nur dann, wenn sie beide Hürden überspringen, politisch durchsetzbar. 

"Im Kern immer noch die gute alte Drei-Stufen-Theorie"

Gibt es noch andere Trends, beispielsweise in der Rechtsprechung des BVerfG? Aus dem simpel klingenden Gesetzeswortlaut von Art. 12 hat sich schließlich ein fein ziseliertes Richterrecht entwickelt. Teilen Sie den Eindruck, dass die Gemeinwohlbelange zunehmend in den Vordergrund treten? 

Das Grundrecht des Art. 12 wird vom BVerfG meines Erachtens seit langem mit begrenzter Ambition behandelt. 

Im Kern gilt immer noch die gute alte Drei-Stufen-Theorie und keine grundlegen Änderungen oder Neuschöpfungen. Sehr pauschal werden auf der sogenannten 1. Stufe Berufsausübungsregelungen des Gesetzgebers im Grunde gleich behandelt, obwohl sie sehr unterschiedlich sind. Da könnte man  dogmatisch stärker differenzieren - aber das Gericht ist bislang eben sehr zurückhaltend. 

Das führt dazu, dass in der Tat die Gemeinwohlbelange, welche einen Eingriff in den Schutzbereich rechtfertigen können, rasch angenommen, vielleicht sogar gewissermaßen "abgehakt" werden. 

Wenn man dann noch die zurückgenommene Kontrolldichte berücksichtigt, ist auch die Hürde der Verhältnismäßigkeit der gesetzgeberischen Maßnahme relativ schnell genommen. So können viele staatliche Maßnahmen in Kraft treten, obwohl sie in die Berufsfreiheit eingreifen.  

"Art 12 ist in erster Linie ein Unternehmerrecht"

Gibt es eine negative Berufsfreiheit, also das Recht, keinen Beruf auszuüben? 

In der Tat schützt Art. 12 auch die negative Berufsfreiheit; und er verbietet zudem den Arbeitszwang und die Zwangsarbeit, natürlich auch vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen im dritten Reich. 

Diese Regelungen spielen übrigens heute noch eine große Rolle: Sie sind eine Hürde für die Einführung eines verpflichtenden sozialen Jahres für junge Menschen. Um das durchzusetzen, müsste man nach herrschender Meinung Art. 12 ändern. Die dazu erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit ist wohl auch einer der Gründe dafür, warum solche Forderungen noch keinen Erfolg hatten. 

Art. 12 ist eine besondere Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das entschied das BVerfG im Jahr 1961 - waren die Karlsruher Richter schon in den sechziger Jahren so vorausschauend, dass sie sich "New Work" vorstellen konnten? Oder ist es gar ein Trend, der erst heute aktuell ist, den Beruf als Teil der Persönlichkeit zu begreifen?     

Herkömmlich gab es wohl etwas unrealistische Vorstellungen von der Arbeitswelt. Dazu muss man wissen, dass das Grundrecht aus Art. 12 eher über und für die freien Berufe entwickelt wurde, also für Anwälte und ähnliche Berufe. Erst später wurde es auch stärker auf andere Berufsgruppen übertragen. 

In erster Linie ist Art. 12 ein Unternehmerrecht, denn die meisten Eingriffsmaßnahmen sind an den Unternehmer adressiert, nicht an den Arbeitnehmer. In der Tat schützt Art. 12 die Ausprägung der Persönlichkeit im Wirtschaftsleben, so wie Art. 14 sie im Erwerb von Gütern schützt; es gibt Zusammenhänge zum Persönlichkeitsrecht - aber man sollte Art. 12 GG auch nicht überidealisieren. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. Martin Burgi ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als Gutachter und Sachverständiger ist er für verschiedene Bundes- und Landesministerien sowie für Wirtschaftsunternehmen und -verbände tätig. Im Februar 2019 hat er die gegenwärtig umfangreichste aktuelle Kommentierung von Art. 12 (im Bonner Kommentar) vorgelegt. 

Zitiervorschlag

70 Jahre GG – Art. 12: Berufsfreiheit im Jahr 2019: "Ohne Artikel 12 gäbe es noch viel mehr Wirtschaftsregulierung" . In: Legal Tribune Online, 12.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35301/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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