Die WHO hat Geburtstag: Unter­fi­nan­ziert in der Pan­demie

Gastbeitrag von Ralf Oberndörfer

07.04.2020

Am 7. April 1948 wurde die WHO gegründet. Pandemien vorzubeugen und ein menschenwürdiges Gesundheitssystem in allen Staaten weltweit zu errichten, sind nur zwei Ziele ihrer Verfassung, für die sie viel zu wenig Geld hat.

Die Idee einer Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) wurde bereits 1945 anlässlich der Gründung der Vereinten Nationen (United Nations, UN) in San Francisco diskutiert. Drei Jahre später gab es für das hehre Ziel, weltumspannend Krankheiten zu bekämpfen, kaum noch Handlungsspielräume: Der Kalte Krieg begann mit der Berlin-Blockade im Juni 1948, es folgten schmutzige Kriege, Wettrüsten und Blockaden im Weltsicherheitsrat der UN.

Heute ist die WHO eine von 18 Sonderorganisationen der UN. Als solche ist sie rechtlich, finanziell und organisatorisch selbständig. UN und Sonderorganisationen haben alle ihren eigenen Kreis von Mitgliedern, der WHO gehören 194 Staaten und Territorien an. Oberste Organe sind die einmal jährlich tagende Weltgesundheitsversammlung und der Exekutivrat. Generaldirektor der WHO ist seit Juli 2017 Tedros Adhanom Ghebreyesus (55). Der äthiopische Biologe und Immunologe war in seinem Heimatland Gesundheitsminister und Außenminister. Sitz der WHO ist Genf. Sie hat sechs Regionalbüros - in Kopenhagen, Kairo, Manila, Neu-Delhi, Washington D.C. und Brazzaville (Republik Kongo).

Große Erfolge in schweren Zeiten

Trotz der ungünstigen Rahmenbedingungen erreichte die WHO im Kalten Krieg einige ihrer größten Erfolge. 1980 wurden die Pocken (Blattern) ausgerottet, an denen Ende der 1960er Jahre jährlich noch 2,7 Millionen Menschen weltweit starben. Bei Polio (Kinderlähmung) ist man heute kurz davor.

1952 etablierte sie das Global Influenza Surveillance Network (GISN; seit 2011 Global Influenza Surveillance and Response System, GISRS). Dafür errichtete sie weltweit Frühwarn- und Messstationen zur Erfassung der Verbreitung von Grippeviren. Obwohl sich die beiden großen Blöcke nach Kräften bekämpften und sabotierten, beispielsweise zahlreiche innovative Produkte mit Ausfuhrverboten belegten und politisch motivierte Industriespionage streng bestraften, gab es auf einer zweiten Ebene ein klares Verständnis dafür, dass manche medizinische Probleme größer waren als die ideologischen Divergenzen. Nicht zuletzt wegen GISN hatten die Grippe-Pandemien von 1957 und 1968 weit weniger gravierende Folgen als die von 1918. 

Ausgehend von Art. 55 der UN-Charta ("Lösung internationaler Probleme gesundheitlicher Art") will die WHO im 21. Jahrhundert die bestmögliche Gesundheitsversorgung für alle erreichen, beispielsweise durch den Aufbau nachhaltiger Gesundheitsdienste in Entwicklungsländern. Zudem erstellt sie international gültige Standards für medizinische Diagnosen und die Klassifikation von Behinderungen. Die ICD-11 von 2019 ist die 11. Version der internationalen statistischen Definition von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen.

Bis heute bildet die Bekämpfung von Infektionskrankheiten einen Schwerpunkt der WHO, so etwa durch Kampagnen für häufigeres Händewaschen oder die Ausrufung des 1. Dezember als Welt-Aids-Tag.

Gesundheit: Nicht nur die Abwesenheit von Krankheit

Grundlage für all diese Aktivitäten ist ein Begriff von Gesundheit, der wie die blockübergreifende Grippe-Prävention im Kalten Krieg entstand: Mit der in der Sowjetunion verabschiedeten Alma-Ata-Deklaration 1978 erklärte die WHO eine angemessene Gesundheitsversorgung zum Menschenrecht. In der Ottawa-Charta 1986 gab sie sich in Kanada das Leitbild der weltweiten integrativen Gesundheitsförderung. Anstatt Krankheiten zu verhüten, fördert sie seitdem Gesundheit: durch Prävention, Aufklärung, Beratung und andere Schritte zur Patientenmündigkeit.

Gesundheit, so steht es in der Verfassung der WHO, ist "ein Zustand von vollständigem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichne". Anders gesagt: "Es geht mir gut." statt bloß "Ich kann nicht klagen." Damit wurde die WHO politischer. Statt Rettung zu "bringen", geht es um strukturelle Veränderungen. Das Gesundheitsniveau einer Gesellschaft und ihre Resilienz gegen Infektionskrankheiten basiert unter anderem auf Umweltschutz, arbeitsrechtlichen Garantien und staatlicher Infrastruktur.

Das in vielen Industriestaaten zur Mode gewordene Gesundsparen des medizinischen Systems passt nicht zu diesem WHO-Leitbild. Vielleicht gab es nach dem Ende des Kalten Krieges auch deshalb keine Friedens- bzw. Gesundheitsdividende, sondern eine kalte Dusche: Auf Betreiben der USA (Clinton-Aministration) wurden 1993 die Pflichtbeiträge der WHO-Mitgliedstaaten nicht mehr regelmäßig an das BIP angepasst, sondern eingefroren. Das führte zu massiver Unterfinanzierung. Manche Staaten zahlen heute freiwillig bis zu sieben Mal mehr als ihren Pflichtbeitrag, Deutschland liegt immer noch nur knapp darüber, allerdings nennt die WHO die Europäische Kommission als einen der Hauptfinanziers.

Woher das Geld kommt und wer Einfluss auf die WHO nimmt

Die WHO hat 8000 Mitarbeiter. Einen größer werdenden Anteil ihres jährlichen Budgets von vier Milliarden Euro erhält sie von privaten Spendern. Die Höhe dieses Anteils ist unklar, Angaben dazu liegen zwischen 30 und 80 Prozent. Fest steht: Die Mitgliedstaaten zahlen viel zu wenig. 2016 beschloss die Weltgesundheitsversammlung deshalb, nicht-staatliche Akteure in Sachen Finanzierung zuzulassen. Auch kommerzielle Unternehmen dürfen sich seitdem in WHO-Arbeitsgruppen engagieren. Früher war das gemeinnützigen Organisationen vorbehalten. Die Bill and Melinda Gates Foundation zum Beispiel, der größte private Unterstützer und laut einiger Quellen nach den USA der zweitgrößte Geldgeber überhaupt, übernahm bei der 2000 gegründeten Impfallianz (GAVI) mit 750 Millionen US-Dollar drei Viertel des Projektbudgets.

Die neuen Geldquellen verändern die Arbeitsweise der WHO. Philanthropen bevorzugen schnelle und spektakuläre Erfolge etwa durch (Impf-)Kampagnen, wie die fast vollständige Ausrottung von Polio, das 2016 nur noch in Pakistan, Afghanistan und Nigeria auftrat. Nur: Der Aufbau selbsttragender Gesundheitssysteme in den betroffenen Staaten ist dann weniger attraktiv.

Kritiker, darunter Medico International und Transparency International, befürchten, dass die WHO durch diese groß angelegte Zusammenarbeit mit privaten Geldgebern ihre Unabhängigkeit einbüßen könnte – auch wenn sie der Gates Foundation Hochachtung für ihre beeindruckenden Erfolge zollen. So hat die GAVI 440 Millionen Kinder gegen Tetanus, Keuchhusten, Diphterie und andere lebensbedrohliche Krankheiten geimpft und geschätzt sechs Millionen Todesfälle verhindert.

Was für eine Art von Gesundheitssystem soll es sein?

Hinter der Diskussion um die WHO steht die Frage: Welches Gesundheitssystem soll es sein?

Das marktförmige, in dem Krankenhäuser gewinnorientiert arbeiten müssen, nach Angebot und Nachfrage versorgt wird und teure Medikamente den wenigen Glücklichen vorbehalten bleiben, die sie sich leisten können? Das philanthropische, das mit der Zahlungswilligkeit und -fähigkeit der edlen Spender steht und fällt, abhängig ist von Börsencrashs und manchmal zweifelhaften Geldquellen? Oder ein solidarisches System, in dem belastbare Infrastruktur für gut ausgebildete und bezahlte Profis vorgehalten wird, die mit aufgeklärten Patienten jene Gesundheit verwirklichen, die die WHO als ihr Ziel formuliert hat? Oder doch eine sinnvolle Mischung aus staatlichem Sockel, ökonomischer Effizienz und Initiative reicher Einzelpersonen und Nichtregierungsorganisationen?

In Deutschland stehen am 7. April jedenfalls Pflegende und Hebammen im Mittelpunkt. Anlässlich des 200. Geburtstages von Florence Nightingale - einer im Krimkrieg durch Spenden finanzierten Philanthropin, die u.a. in Düsseldorf-Kaiserswerth ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin absolvierte - hat die WHO 2020 als Internationales Jahr diesen Berufsgruppen gewidmet. Dass sie mehr brauchen als symbolträchtiges Abfeiern ihrer "Selbstlosigkeit" ist eine der Erkenntnisse der aktuellen Krise.

Der Autor ist Volljurist und arbeitet als freiberuflicher Rechtshistoriker in Berlin.

Zitiervorschlag

Die WHO hat Geburtstag: Unterfinanziert in der Pandemie . In: Legal Tribune Online, 07.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41235/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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