Ex-Verfassungsrichter Di Fabio präsentiert neues Buch: "Wer die Antike goo­gelt, landet leicht bei eBay"

von Katja Gersemann

26.09.2015

Bildungspolitik, Flüchtlinge und Sprachpolizei  – am Donnerstagabend lieferten sich Udo Di Fabio und Moderator Harald Schmidt in Berlin einen Schlagabtausch zu aktuellen Themen. Im Mittelpunkt: Di Fabios neues Werk "Schwankender Westen".

Die Flüchtlingskrise kam zu spät, um noch Eingang in Udo Di Fabios neues Buch zu finden - bei der Präsentation am Donnerstagabend, auf der Di Fabio mit Ex-Late-Night-Moderator Harald Schmidt diskutierte, war sie trotzdem immer wieder Thema. "Wenn ich in Ungarn an der Grenze stehe, nützt mir Allgemeinbildung nichts", konterte Schmidt etwa ein flammendes Plädoyer des früheren Verfassungsrichters gegen die Geschichtsvergessenheit der westlichen Gesellschaften - und die Frage, wie Flüchtlingen unsere Kultur näher gebracht werden kann. "Da brauch ich das Handy, das mir den Weg nach Kroatien zeigt." Die, die mit guter Navigation hierherkämen, erwiderte Di Fabio, müssten auch in der Gesellschaft navigieren können: "Da hilft kein Handy."

Rund zehn Jahre nach seinem vielbeachteten Erstling "Die Kultur der Freiheit" und zahlreichen weiteren Publikationen präsentierte Di Fabio im Auditorium in der Berliner Friedrichstraße vor rund 250 Zuschauern sein neues Werk "Schwankender Westen". Harald Schmidt als Agent Provocateur dazu zu laden, war eine glückliche Entscheidung: Beide haben ausgeprägte Entertainer-Qualitäten und nähern sich Themen unideologisch und unverkrampft. Wer Di Fabio schon auf Bühnen oder Diskussionsrunden erlebt hat, weiß, dass er verlässlich auch auf unerwartete Fragen druckreife Antwort findet. Wo seine Gedanken am Donnerstag zu hoch flogen, versuchte Schmidt zu erden.

Und sie flogen häufiger mal hoch. Di Fabio analysiert in seinem neuen Werk die Fundamente der westlichen Gesellschaft – und die Auswirkungen, die Finanzkrise, Griechenland oder der Islamische Staat auf sie haben. "Der Zustand unserer Gesellschaft schwankt zwischen Hoffnung und Furcht. Da entsteht ein Zwang, über sich nachzudenken." Der "Westen", das ist für den Bonner Rechtsprofessor heute nicht mehr eine geografische Bezeichnung. Er sieht den Westen als Wertesystem, das auch in anderen Regionen gelebt werden könne. Der Westen wirkt zwar derzeit wie ein Magnet auf Flüchtlinge aus Krisenregionen.  Doch um das System am Leben zu halten, müsse man einiges tun, ist der 61-Jährige überzeugt, der am Bundesverfassungsgericht unter anderem als Berichterstatter für das Verfahren zum Vertrag von Lissabon zuständig war. "Wir werden nicht an Finanz- oder Flüchtlingskrisen scheitern, wenn wir unsere  Wurzeln ernst nehmen."

Voltaire ist überholt

Der Westen muss seine Werte wieder schätzen lernen – sonst schätzt sie auch kein anderer, ist Di Fabios Meinung. Dazu gehöre auch und ganz besonders Wissen über Geschichte, um  Informationen überhaupt einordnen zu können. Man sei in der Lage, Begriffe zu googeln, aber der Kontext werde einem nicht vermittelt. "Wer die Antike googelt, kann leicht bei eBay landen", kommentierte Schmidt. Di Fabio amüsierte sich über "Nudging", ein Trendthema der vergangenen Jahre. Wer sich mal ein wenig mit der Kameralistik beschäftigt habe, wisse, dass es staatliche Anreizpolitik schon im 18. Jahrhundert gegeben habe. "Aber weil wir keine Ahnung von Geschichte haben, labeln wir das neu und schaffen ein paar Planstellen im Kanzleramt."

Für Di Fabio steht fest: Es kann keine Gesellschaft geben ohne große Erzählung – damit sich die Leute als Teil der Gemeinschaft verstehen. Das große Thema, die große Erzählung der westlichen Gesellschaften, das sei die Aufklärung. Dass jeder Mensch das Recht auf freie Entfaltung habe. Doch an diesem Ast sieht Di Fabio derzeit viele Leute sägen. Manche täten noch immer so, als lebten sie zu Zeiten des Philosophen Voltaires, als gebe es Untertanen und unangreifbare Mächte. "Voltaire ist überholt", plädierte Di Fabio: "Befreien wir uns ein Stück aus der Aufklärung – um sie zu retten."

Er warnt vor allzu großem Harmoniestreben, das die Individualität des Menschen außer Acht lässt. Und in diesem Zusammenhang auch vor dem Phänomen Sprachpolizei, das sich in der Gesellschaft immer weiter ausbreitet. "Wir schleifen Sprache ab und bestimmen, worüber diskutiert werden darf und worüber nicht", so der Jurist. So fange man an, harmonistisch zu denken und nach und nach das Grundvertrauen in die Selbstbestimmtheit des Menschen zu verlieren.

Wer schwankt, ist noch nicht gefallen

Auch wenn die Flüchtlingskrise noch nicht erwähnt wird in Di Fabios Buch - für Schmidt liest es sich wie ein Leitfaden für den Umgang mit Asylsuchenden. Di Fabio, der sich in den vergangenen Wochen immer wieder zur Flüchtlingskrise öffentlich geäußert hatte, sieht das auch so. "Einwanderungsgesellschaften leben davon, dass sie eine republikanische Identität entwickeln", so der Autor. Patriotismus, nicht aber Nationalismus, müsse stärker in den Mittelpunkt rücken. "Wir brauchen einen Umgang mit uns selbst, der selbstgewiss ist – ohne ins deutsche Dröhnen zurückzufallen."

Dabei verteidigte Di Fabio gestern die deutsche Politik und Verwaltung. Man müsse in einer völlig neuen Situation auf der Grundlage des Rechts handeln – da könne nicht alles glatt laufen.

Für Schmidt ist di Fabios neuestes Werk unterm Strich ein optimistisches Buch. Trotz der schwierigen Themen – und des zweideutigen Titels. "Wer schwankt, ist noch nicht gefallen", sagte Schmidt. "Und wenn er fällt, wäre es spannend zu sehen, wohin."

Zitiervorschlag

Katja Gersemann, Ex-Verfassungsrichter Di Fabio präsentiert neues Buch: "Wer die Antike googelt, landet leicht bei eBay" . In: Legal Tribune Online, 26.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17013/ (abgerufen am: 17.04.2024 )

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