Zur Geschichte von § 175 StGB: Späte Wiedergutmachung für Schwule

"175er" war lange die gängige Kurzformel für Schwule. Der 17.5. ist daher seit einiger Zeit internationaler Aktionstag der Schwulenbewegung. Die nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer könnten nun bald rehabilitiert werden. Über die Grundlagen der Verteufelung männlicher Homosexualität und den Inhalt von heute kaum noch verständlichen Richtersprüchen berichtet Herbert Grziwotz.

"Widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden." So lautete die ursprüngliche Fassung des § 175 Strafgesetzbuch (StGB) bei der Reichsgründung. Die bis 1. September 1969 in der BRD geltende Fassung enthielt zwar nicht mehr den Begriff "widernatürlich" und regelte auch die Unzucht mit Tieren in einem eigenen Paragrafen, unterschied sich aber im Übrigen kaum von der Vorgängervorschrift. Bis 1994 war die Unzucht zwischen Männern bis zum Alter von 21 bzw. 18 Jahren weiterhin strafbar. Erst seit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz sind homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen über 16 Jahren, soweit sie nicht durch eine Nötigung erfolgen, völlig straflos.

In den über 120 Jahren der Geltung des § 175 StGB wurden ca. 140.000 Männer wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht verurteilt. 50.000 Verurteilungen wurden noch nach Kriegsende bis 1969 in der BRD ausgesprochen. Auch als zum 1. August 2001 der Gesetzgeber mit dem Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft neben anderen gleichgeschlechtlichen Paaren schwulen Männern eine Art Ehe ermöglichte, erfolgte keine Rehabilitierung. Erst mehr als zehn Jahre später gibt es nun eine entsprechende Bundesratsinitiative. Darin fordern die Länder Hamburg und Berlin, dass die Strafurteile gegen homosexuelle Männer in der BRD und DDR aufgehoben und Entschädigungsansprüche geprüft werden.

Tatsache ist: Obwohl in der modernen Gesellschaft Homosexualität zunehmend als alternativer Lebensstil akzeptiert wird, sind die früheren Verurteilungen und die mit ihnen verbundenen tragischen Einzelschicksale bestehen geblieben.

Sodom und Gomorrha oder der heterosexuelle Gott

"Gott schuf den Menschen nach seinem Bild als Mann und Frau. Und er gab ihnen den Auftrag: Seid fruchtbar und mehret euch ..." Das mosaische Recht (3. Mose 18, 22) enthält das Verbot: "Kein Mann darf mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehren; denn das verabscheue ich." Und es formuliert gleichsam eine Vorgängervorschrift zu § 175 StGB (3. Mose 20, 13): "Wenn ein Mann mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehrt, haben sich beide auf abscheuliche Weise vergangen. Sie müssen getötet werden. …"

Auch wenn zwischenzeitlich versucht wird, durch Interpretation der entsprechenden Stellen der Bibel diese auf die Verurteilung der Vergewaltigung von Männern  zu reduzieren, haben jedenfalls der Wortlaut, aber auch bereits in der Antike bestehende Strafvorschriften den späteren Gesetzgeber beeinflusst. Dient der Geschlechtsverkehr nach christlicher Auffassung der Erzeugung von Nachkommen, so sind bereits sexuelle Praktiken, die der reinen Lustbefriedigung dienen, eine Sünde. Oder in der Diktion des Strafrechts: eine widernatürliche Unzucht.

Besonders deutlich wird dies in der Darstellung des Infernos von Dantes Göttlicher Komödie durch den homosexuellen Maler Sandro Botticelli. In ihr werden die Schwulen gejagt, und zwar in der Hölle ebenso wie auf Erden.

Vom Sittengesetz und dem widernatürlichen Zungenkuss

Das Reichsgericht hatte zunächst den Begriff der Unzucht unter homosexuellen Männern eng ausgelegt. Nur der Coitus per anum (Afterverkehr) wurde als tatbestandsmäßig angesehen. Selbst beischlafsähnliche Handlungen erforderten die Einführung des Gliedes in irgendeine Körperöffnung.

In der Zeit des Dritten Reiches, als Homosexuelle im KZ einen rosa Winkel tragen mussten, wurde der Gesetzestext über die beischlafsähnlichen Handlungen hinaus erweitert. Der Straftatbestand konnte auch ohne eine körperliche Berührung des anderen Mannes verwirklicht werden. Damit waren nicht nur die wechselseitige, sondern auch die gleichzeitige Onanie und sogar der Zungenkuss und das Berühren des fremden Geschlechtsteil strafbar. Die Deportation in ein Konzentrationslager konnte teilweise durch eine freiwillige Kastration vermieden werden. Wie viele Homosexuelle diesen Weg gingen, ist unbekannt. Noch zwei Jahre vor Kriegsende wurde sogar ein Gesetz vorbereitet, dass die zwangsweise Kastration von "Ballastexistenzen der völkischen Gemeinschaft" vorsah.

Die Rechtsprechung nach dem Krieg, insbesondere der Bundesgerichtshof (BGH), legte den Tatbestand des § 175 StGB dann weit aus. Eine körperliche Berührung war nicht mehr erforderlich. Gleichzeitige Onanie (BGH, Urt. v. 22.9.1953, Az. 2 StR 160/53), oder bloßes Zuschauen im Triolenverkehr (BGH, Urt. v. 13.11.1953, Az. 2 StR 456/53) reichten für eine Bestrafung aus. Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart ließ sogar einen Zungenkuss genügen (Urt. v. 21.6.1963, Az. 1 Ss 431/63). Entscheidend war das Erregen von "Sinneslust" (BGH, Urt. v. 10.11.1961 – 4 StR 70/61).

Gay Life - ich bin schwul, und das ist auch gut so

Das Bundesverfassungsgericht hielt die Strafbarkeit homosexueller Handlungen von Männern trotz der Ungleichbehandlung gegenüber lesbischen sexuellen Kontakten für mit dem Grundgesetz vereinbar (Urt. v. 10.5.1957, Az. 1 BvR 550/52 und Urt. v. 2.10.1973, Az. 1 BvL 7/72). Zur Rechtfertigung verwiesen die Karlsruher Richter auf folgende biologische Unterschiede: Die körperliche Ausbildung der Geschlechtsorgane, die Unterscheidung zwischen dem kurzen Zeugungsvorgang und dem langdauernden natürlichen Prozess der Mutterschaft, das hemmungslose Sexualbedürfnis homosexueller Männer und das Vermögen lesbisch veranlagter Frauen zum Durchhalten sexueller Abstinenz, das Strichjungenwesen sowie schließlich die in der Öffentlichkeit praktizierte männliche Homosexualität.

Dies führte zu folgender Konsequenz: Die gleichgeschlechtliche Betätigung von Männern verstößt anders als die von lesbischen Frauen "eindeutig gegen das Grundgesetz". Noch deutlicher formulierte es das OLG Stuttgart: Die Einstufung von Zungenküssen unter Schwulen als Unzucht "entspricht auch gegenwärtig noch dem Empfinden unverbildeter Menschen." Denn: "Unter Männern getauscht, sind diese nicht mehr als bloß abstoßende Unanständigkeit, die als solche nicht mehr tatbestandsmäßig wäre, sondern als unmittelbar schamverletzende Verirrung anzusehen."

Die Liebe unter Männern, lange Zeit heimlich und unter dem Damoklesschwert des Strafrechts praktiziert, heute eher demonstrativ zur Schau getragen, spiegelt ein Stück Kultur-, aber auch Rechtsgeschichte wieder. Der Bundestag hat bereits am 17. Mai 2002 gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP die Urteile gegen Homosexuelle und Wehrmachts-Deserteure in der Zeit des Nationalsozialismus für nichtig erklärt. Die Urteile gegen Schwule nach 1945 sind bisher bestehen geblieben, obwohl die Rechtsgrundlage und die Entscheidungen nahezu identisch waren. Hinzu kommt, dass nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bereits seit 1981 in Europa ein Konsens über die Straffreiheit homosexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen besteht (Urt. v. 22.10.1981, Fall Dudgeon und Urt. v. 21.10.2010, Az. 4916/07, 25924/08, 14599/09, Alekseyev gegen Russland). Gleichwohl wurde beispielsweise Anfang der 1990er Jahr noch in Gelsenkirchen ein 24-jähriger Mann wegen sexueller Handlungen an einem jüngeren Mann verurteilt (vgl. Landgericht Essen, Beschl. v. 28.10.1991, Az. 23a 33/90).

Dass die Betroffenen angesichts der gesellschaftlichen Akzeptanz homosexueller Partnerschaften nunmehr eine Revision dieser Urteile erreichen wollen, ist verständlich.

Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz ist Historiker und Jurist in Regen.

Zitiervorschlag

Herbert Grziwotz, Zur Geschichte von § 175 StGB: Späte Wiedergutmachung für Schwule . In: Legal Tribune Online, 17.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6220/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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