Naturrechtslehre: Wie man Normen aus dem Hut zau­bert

von Martin Rath

25.12.2022

Die Lehre vom Naturrecht blickt auf eine reiche und unübersichtliche Vergangenheit zurück. Heute gehört sie zu den Schrullen der sogenannten "Reichsbürger". Ein Potenzial für unzufriedene Menschen hatte sie aber immer schon.

Wie kommt ein Soldat auf den Gedanken, dass seine schärfste Waffe darin liegt, ein Kaninchen aus dem Zauberhut zu ziehen?

Der Fall des Berufssoldaten lag so: Nach über 30 Jahren Tätigkeit bei der Bundeswehr, zuletzt eingesetzt beim Streitkräfteamt in Bonn, war er wegen eines Dienstvergehens zu einem befristeten Beförderungsverbot und einer unangenehmen, aber doch überschaubaren Kürzung seiner Dienstbezüge verurteilt worden.

Das Vergehen selbst ist hier nicht von Interesse, wohl aber das argumentative Kaninchen, das der Soldat dem Truppendienstgericht und auch dem Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts entgegenhielt.

Denn gegen seine Richter führte er den erstaunlichen "Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts wegen Verstoßes gegen die Gewaltenteilung durch exekutiv abhängige Richter, Versagung seines Naturrechts auf volkslegitimierten und damit unabhängigen Richter und Verletzung seiner Menschenwürde durch Unterwerfung unter einen verfassungswidrigen undemokratischen Staatsaufbau" ins Feld.

Darauf wusste das Truppendienstgericht nichts weiter zu antworten, als dass es formal ordnungsgemäß besetzt und das Grundgesetz eine international vorbildliche Verfassung sei. Mit dem Versuch, seine Rüge vor Erledigung der Hauptsache schon einmal vor das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zu tragen, scheiterte der Soldat dann auch noch.

Kein Fall aus der aktuellen "Reichsbürger"-Konjunktur

Die verwegenen Argumente des Soldaten ähneln der Aluminiumhut-Rhetorik der jüngeren "Reichsbürger"-Manie.

So zählt die aktuelle Rechtsprechung zu den Versatzstücken dieser Denkungsart eine "Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren" (BVerwG, Urt. v. 12.05.2022, Az. 2 WD 10.21).

Allerdings liegt dieser Fall des Berufssoldaten, der wacker das Kaninchen eines angeblichen "Naturrechts" auf einen "volkslegitimierten Richter" aus seinem Stahlhelm zog, schon mehr als 30 Jahre zurück.

Der 2. Wehrdienstsenat entschied über seine Verfahrensrüge mit Beschluss vom 2. Juni 1992 (Az. 2 WDB 1.92) abschlägig.

"Reichsbürger"-Parallelwertungen in der Soldatensphäre?

Die verfügbaren Entscheidungen in der Sache des Soldaten teilen keine Anhaltspunkte dafür mit, warum er – 20 bis 30 Jahre vor der bescheidenen Konjunktur der sogenannten "Reichsbürger-Bewegung" – auf derart verwegene Argumente setzte. Für eventuelle weltanschauliche Affinitäten sollte man also ein "non liquet" festhalten.

Es ist aber in Betracht zu ziehen, dass Soldaten eine Art juristischer Grundbildung genießen, die dazu führen mag, dass eine Berufung auf obskure "naturrechtliche" Argumente verführerisch wird.

Man kann es sich ganz einfach vorstellen: Angehende Juristinnen und Juristen werden während ihrer gewöhnlichen Hochschul- und Repetitoren-Ausbildung mit allen zivilisatorischen Errungenschaften der deutschen Rechtswissenschaft vertraut gemacht, beispielsweise mit dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis oder dem Bereicherungsausgleich in der Dreipersonen-Konstellation. Das Grundsätzliche am Recht fällt dabei zwar oft beklagenswert kurz aus, ihre Zeit und Lust, auf Abwege zu geraten, werden damit aber auch beschnitten.

Der Soldat kommt hingegen in Fragen wie jener, auf welche Menschen er künftig schießen soll oder welche Gebäude er in Trümmer legen darf, in seinem Rechtskunde-Unterricht zwangsläufig "eher aus dem Völkerrecht".

Und vom Völkerrecht, das mehr von Prinzipien und politischen Abwägungen, weniger von der filigranen Schönheit juristischer "Theorien" und ausgefeilter Subsumtionen geprägt wird, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt ins "Naturrecht" – oder doch in das, was dafür gehalten wird.

Naturrecht – kein Wunder, wenn sich da jemand verirrt

Noch die einfachste Darstellung einer Geschichte des Naturrechts fällt verwinkelt und verwirrend aus. Es sei daher die verehrte Leserin, der liebe Leser um Entschuldigung gebeten, wenn wir auf eine Fassung im Telegramm-Stil zurückgreifen.

Es soll hier auch nur ein Eindruck davon vermittelt werden, warum Professorinnen und Repetitoren den Studierenden nur noch so wenig vom Naturrecht vermitteln, dass ihnen später als Juristen im Beruf kaum mehr bleibt, als argumentativ verwirrte Soldaten oder "Reichsbürger" rasch mit der kalten Nüchternheit des positiven Rechts abzufertigen.

Man könnte etwa mit dem vorchristlichen Philosophen Aristoteles beginnen. Seine Naturrechtslehre erklärte beispielsweise, vereinfacht gesagt, dass barbarische Menschen, deren höchste Leistung allein in der Entfaltung ihrer Körperkraft liegt, von Natur aus dazu geneigt seien, zu Sklaven gemacht zu werden.

Rund 2.000 Jahre später sollten britische Juristen und theologisch interessierte amerikanische Damen hingegen die Idee in die Welt setzen, es liege gerade nicht in der Natur des Menschen, versklavt zu werden.

Auch der Konflikt zwischen der rechtlichen Übereinkunft einer politischen Gemeinde – also dem positiven Recht – und der "natürlichen" moralischen Überzeugung wird bereits seit der Antike verhandelt: Die "Antigone"-Geschichte des griechischen Dichters Sophokles taugt noch heute zum "Reclam"-Heft für die gymnasiale Oberstufe.

Der Streit um den Vorrang – positiv gesetztes, im Amtsblatt verkündetes Recht versus "natürliche" Gepflogenheiten und Überzeugungen – wurde drängender, als sich die Herrschaft der Potentaten ausweitete. Während Kreon als Gesetzgeber bei Sophokles gerade einmal das beschauliche Theben tyrannisieren konnte, bekamen die Fürsten des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit sehr viel mehr Volk unter ihre Knute – und, je nachdem, unter ihr Gesetzblatt.

Noch ein bisschen zum Naturrecht im Telegramm-Stil

Der spanische Moraltheologe Francisco de Vitoria (1483–1546), einer der Gründerväter des "modernen" Naturrechts, versuchte sich hierzu in einem "es kommt darauf an": Die Verbindlichkeit der Gesetze hänge zwar primär davon ab, dass eine dazu befugte Obrigkeit sie erlassen habe. Das gefällt dem König.

Aber doch lasse sich das Rechtmäßige aus der Natur einer Sache ableiten und sogar derart sicher ermitteln, dass selbst Gott nicht darüber verfügen könnte, ohne gegen die Gesetze der Logik zu verstoßen. Diese Lehre gefällt einem König dann nur noch, solange niemand beginnt, mit ihm darüber zu streiten.

Darin lag das produktive Potenzial der neuen Lehre: Ermittelt werden kann die Richtigkeit einer Regelung durch die Obrigkeit, indem alle vernünftigen Menschen zu dem Entschluss kommen, dass die Norm dem natürlichen, von Gott gewollten Gesetz entspricht, oder sie doch eine Neigung befriedigt, die bei allen Menschen vorhanden ist.

Neu formatiert als Völkerrecht gerät das Naturrecht in die Druckerpresse, zum Beispiel des niederländischen Wunderkinds Hugo Grotius (1583–1645). Es besteht Bedarf daran, weil die internationale Reisetätigkeit der europäischen Soldaten und Kaufleute, Piraten und Missionare durch die Länder von Menschen führt, die vom Gott der jüdischen und christlichen Lehre noch nie gehört haben, noch nicht einmal von dem des islamischen Katechismus.

Kein Wunder, wenn nun etwa das "natürliche" Recht entdeckt wird, fremde Staaten in friedlicher Absicht durchreisen zu dürfen oder fremden Boden unter den Pflug zu nehmen, wenn sich dort bisher nur unbedarfte Eingeborene mit weniger anspruchsvollen ökonomischen Methoden ihren Lebensunterhalt verschafft hatten.

Ein widerspruchsfreies Naturrecht konnten die Philosophen und Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts unter ihren eleganten Perücken selbstredend nicht ausbrüten. Während viele zu der Idee neigten, dass der Fürst über sein Reich zu herrschen habe wie der gütige Hausvater "natürlich" über seine Familie, machte sich etwa Baruch de Spinoza (1632–1677) gerade in Deutschland nachhaltig mit der Auffassung unbeliebt, dass die Demokratie die natürlichste Form der Machtentfaltung sei. Immerhin begann man damit, das normative Durcheinander mathematisch-geometrisch zu ordnen – heutige Studierende kennen das noch vom "vor die Klammer ziehen".

Und an die Stelle spontaner Behauptungen zu einem Recht, das aus Bibel und Vernunft zu schließen ist, treten seit 1789 jene schönen Listen, die entwicklungsoffen, aber doch als Satzung festgehalten die natürlichen Rechte des Menschen und Bürgers katalogisieren, manchmal sogar schon die der Frau und Bürgerin.

Während der thebanischen Bürgerin Antigone nur die Behauptung zur Seite stand, es sei ihr natürliches Recht und ihre natürliche Pflicht, die Leiche ihres Bruders zu bestatten, kann sie inzwischen ganze Legionen von professionellen Gelehrten darüber streiten sehen, ob und wie sie dem amtlich veröffentlichten Willen des Machthabers zuwiderhandeln kann – der sich erst in jüngerer Zeit gern als demokratisch gewähltes Parlament organisiert.

Wenn der Heilige Stimmen hört, ist er gestört oder wird er zur Rechtsquelle?

Der Anbieterwechsel vom Naturrecht zur Menschenrechtserklärung fiel aber vielen Gelehrten sehr schwer. Dass die "Natur" als Quelle des Rechts attraktiv blieb, hatte unter anderem damit zu tun, dass die – bis in jüngere Zeit – in der Bildungsarbeit relevante katholische Kirche ihren Aristoteles in Ehren hielt. Auch dass namentlich die NS-Diktatur die Formen des Rechtsstaats für systematischen Terror genutzt hatte, spielte eine Rolle.

Wie zäh der Abschied vom älteren Naturrecht vonstattenging: Das kann man sich kaum ausdenken.

Der französische Soziologe, Theologe und Jurist Jacques Ellul (1912–1994), ein mutiger Mann, der im Zweiten Weltkrieg der Résistance angehört hatte, legte z. B. im Jahr 1945 sein Werk "Die theologische Begründung des Rechts" vor. Es wurde seit 1948 in beachtlicher Auflage auch in Deutschland verbreitet. Nicht der moderne Katalog von Menschenrechten, die Gleichnisse Jesu Christi und die normativen Bilder des Alten und Neuen Testaments sollten hier wieder in naturrechtlicher Denkungsart das Recht fundieren.

Die praktische Politik konnte mit einer solchen bibelfixierten Naturrechtslehre wenig anfangen. Zwar unterzeichnete man etwa die Römischen Verträge 1957 in der Stadt der Päpste und antiken Imperatoren, mehr als abendländische Dekoration einer funktional differenzierten Gesellschaft war das aber nicht.

Derweil pflegte die katholische und evangelische Orthodoxie, auch unter den Juristen, ihren Abschiedsschmerz bis in surreale Tiefen.

Das illustriert etwa ein Werk des Amtsgerichtsrats Adolph Leinweber, das in nicht weniger als drei Auflagen zwischen 1965 und 1972 veröffentlicht wurde – herausgegeben von Mitgliedern der Hamburger Juristenfakultät: "Gibt es ein Naturrecht? Beiträge zur Grundlagenforschung der Rechtsphilosophie".

Leinweber kam zwar zu der zeitgemäßen Auffassung, dass ein richterliches Urteil nicht naturrechtlich begründet werden könne – schon aus logischen Gründen: Sobald ein Gericht glaube, aus dieser Quelle geschöpft zu haben, sei seine Schöpfung auch schon positives Recht geworden.

Beinahe unfassbar ist aber, wie noch im Jahr 1972 die spekulativen Möglichkeiten, ein Recht aus der Quelle der Natur zu schöpfen, von einem deutschen Juristen erwogen wurden. Ein Untersuchungsinteresse Leinwebers lag etwa in der Frage, wie das überzeitliche Recht göttlicher bzw. natürlicher Art in die menschliche Wahrnehmungssphäre eindringen könne.

Dazu führte Leinweber an, dass jedenfalls zu erwägen sei, ob die übersinnlichen Eingebungen der alttestamentlichen Propheten und der späteren Heiligen eine Ursache in psychischen Störungen oder in himmlischen Quellen haben könnten. Leinweber antwortet zwar säkular, meint aber doch, dass der seelische Resonanzboden dieser alten prophetischen Normquellen auch einen Wert jenseits der Psychiatrie haben könnte.

Zauberkünstler mit dem Kaninchen des Naturrechts im Hut

Heute ist von solchen Bemühungen, die ältere Naturrechtslehre zu bewahren, nicht mehr viel übrig.

Der Berliner Zivilrechtslehrer und Rechtshistoriker Uwe Wesel (1933–) zeichnete ein markantes Bild: Das Naturrecht funktioniere wie der Zylinderhut eines Zauberkünstlers – er hole stets nur das Kaninchen hervor, das er zuvor in ihm untergebracht habe.

Die Geschichte gibt Wesel Recht: Ein Sklavenhalter wird ein anderes normatives Karnickel aus dem Hut ziehen als der Mensch, der dem Terror einer Baumwoll- oder Zuckerrohr-Plantage entfliehen will.

Warum sich in unserer Republik trotzdem Menschen eher von normativen Zauberhüten beeindrucken lassen als vom eingerichteten und ausgeübten Justizbetrieb eines auf Menschen- und Grundrechte verpflichteten Staates, wird wohl ein Rätsel bleiben – vielleicht fehlt ihm nur ein wenig Lametta?

Zitiervorschlag

Naturrechtslehre: Wie man Normen aus dem Hut zaubert . In: Legal Tribune Online, 25.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50571/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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