"Die konkrete Utopie der Menschenrechte" von Wolfgang Kaleck: "Men­schen­rechts­ar­beit ist kein Mit­tel­klasse-Eliten-Pro­jekt"

von Hasso Suliak

20.03.2021

Ist eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung oder Folter möglich? Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck hat ein Mut machendes Plädoyer für eine ökologische, dekoloniale und feministische Zukunft veröffentlicht.

Wolfgang Kaleck ist in der Menschenrechtsszene ein großer Name. Nicht nur deshalb, weil er in Deutschland als Rechtsbeistand des amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden fungiert, sondern weil er sich seit mehr als zwanzig Jahren weltweit für die Einhaltung von Menschenrechten engagiert. Mit seiner 2007 gegründeten NGO, dem European Center für Constitutional and Human Rights (ECCHR), versucht er, auf juristischem Wege Politik und Wirtschaft für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung ziehen.

Ob Aufklärung der Verbrechen der argentinischen Militärjunta, Folter im Gefangenenlager Guantánamo, verheerende Fabrikbrände in Pakistan oder Unterstützung der Hinterbliebenen der Opfer des Kundus-Luftangriffs durch die Bundeswehr in Afghanistan: Der gelernte Fachanwalt für Strafrecht ist mit seinem Team zur Stelle und an der Seite derjeniger, die in der medialen Öffentlichkeit wenig Gehör finden. Nicht immer verlässt er den Gerichtssaal dabei als Sieger.

Doch warum Menschenrechtler:innen trotz Rückschlägen nicht den Kopf in den Sand stecken sollten und wie man seiner Vision von einer gerechten Welt Stück für Stück näherkommt, hat Kaleck jetzt in einem knapp 170-seitigen Essay zu Papier gebracht.

Menschenrechtsorganisationen setzen die falschen Schwerpunkte

Um es vorweg zu sagen: Es ist ein Mut machendes Zeugnis eines beherzten Kämpfers für Freiheit und Gerechtigkeit. Angelehnt an die Thesen des linken Philosophen Ernst Bloch entwickelt Kaleck eine - oder besser seine - konkrete Utopie der Menschenrechte. Der Jurist analysiert die Menschenrechtsarbeit der vergangenen Jahrzehnte, listet Erfolge und Misserfolge auf und geht dabei auch mit der eigenen Zunft ins Gericht. Nicht immer hätten die großen Organisationen Amnesty International oder Human Rights Watch die richtigen Schwerpunkte gesetzt.

Kaleck wirft ihnen – bei allem Respekt für ihre Arbeit – einen einseitigen Fokus auf politische und bürgerliche Rechte vor, das Engagement für kollektive wirtschaftliche und soziale Recht käme zu kurz. Problematisch, so Kaleck, sei auch, dass beide Organisationen für einen Großteil der politischen und medialen Öffentlichkeit exklusiv für die Menschenrechte stünden. "Kraft ihrer Bedeutung und Ressourcenausstattung dominieren sie oft die internationale Szene." Andere Akteure, insbesondere diejenigen, die nicht in den Metropolen agierten, blieben außen vor.

Dabei haben sich laut Kaleck inzwischen überall auf der Welt Gruppen gebildet, die auch mit juristischen Mitteln, für und mit den Betroffenen, deren Communities und mit sozialen Bewegungen arbeiten. Kaleck lobt in diesem Zusammenhang lokale Flüchtlingshilfe-Bewegungen, Seenotinitiativen sowie Initiativen für ein Mindesteinkommen oder städtische Bewegungen gegen Gentrifizierung und für autofreie Innenstädte. Die Großen und Mächtigen sind Wolfgang Kaleck eben grundsätzlich suspekt – auch wenn es um die eigene Familie geht.

"Blick zurück in die Zukunft"

Seinen Essay beschreibt der Menschenrechtsaktivist selbst als "Blick zurück in die Zukunft". Kaleck weitet die historische Perspektive auf die Menschenrechte, blickt zurück und zugleich nach vorn. Er skizziert, wie die 1948 von der UN deklarierte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einen Meilenstein darstellte, weil sie in einem Satz die konkrete Utopie der Menschenrechte voranstellt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren".

(c) S. Fischer-VerlagMit dieser Erklärung, so Kaleck, sei als Reaktion auf die "Akte der Barbarei" des Nationalsozialismus ein programmatisches Dokument geschaffen worden, das den politischen Verhältnissen seiner Zeit weit voraus gewesen sei und das für Kaleck auch heute in vielerlei Hinsicht nutzbare Potentiale enthält.

Jedoch belässt es Kaleck nicht bei Hinweisen auf Dokumente der Internationalen Staatengemeinschaft, die den meisten LTO-Leser:innen wohl bekannt sein dürften: Er verweist in seiner Rückschau auch kenntnisreich auf manche in Vergessenheit geratene historische Ereignisse, die für die Entwicklung der weltweiten Menschenrechte fundamental waren, so etwa auf den Aufstand der Sklav:innen in Haiti 1791, die die französische Armee besiegten. "Für viele Sklav:innen und deren Organisationen war die Haitianische Revolution Vorbild und Ansporn, sich aufzulehnen und für ihre Selbstbefreiung zu kämpfen", so Kaleck.

Und im Zusammenhang mit der Unterdrückung und Ausbeutung afro-asiatischer Staaten durch die Kolonialmächte hebt Kaleck die Bandung-Konferenz in Indonesien 1955als "eines der wichtigsten historischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts" hervor. In deren Schlusskommuniqué wurden auch die Menschenrechte als ein tragendes Prinzip der neuen Weltordnung betont, in Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ein Dokument von enormer Bedeutung, das seinerzeit klarstellte: Die Menschenrechte wurden durch die andauernde Kolonialherrschaft und die Apartheid verletzt.

Kaleck beschreibt mit viel Detailwissen, wie sehr sich auch in jüngerer Zeit vieles im Hinblick auf die Durchsetzung von Menschenrechten zum Guten entwickelt hat – auch bei den internationalen Organisationen. Auf den Fluren der UN, die Kaleck als "eine nicht allzu schlagkräftige Organisation" bezeichnet, treffe man längst nicht mehr nur "Menschenrechts-Diplomat:innen", vielmehr habe sich eine "durchlässige Szene gebildet, in denen auch NGOs für die Sichtbarkeit von bestimmten Problemen von Betroffenen sorgten.

Kritik an Europa: "Wesentliche Rechtsstaatsprinzipien relativiert"

Licht und Schatten konstatiert Kaleck bei den Menschenrechtsschutzsystemen in Europa und Amerika. Bemerkenswert sei es, wie die beiden Gerichtshöfe für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) und in San José in Costa Rica ausgebaut worden seien. Allerdings fehlten dem Interamerikanischen Gericht die Mittel und ein angemessener "Durchsetzungsmechanismus gegenüber den Mitgliedstaaten". Und an die Adresse Europas gerichtet – wohl auch an den EGMR – beklagt Kaleck, dass in den vergangenen Jahren "wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien" vor allem entlang zweier Begründungslinien relativiert worden seien: "des Terrorismus- und des Migrations-Paradigmas, die sich oft überlappen."

Kaleck beschreibt akribisch die Durchschlagskraft der Menschenrechtbewegungen. Von besonderer Bedeutung für die Durchsetzung von Menschenrechten sind für ihn heute die Frauenbewegung, die Umweltbewegung und Black Lives Matter. Diese aber, so seine vorsichtige Kritik und Empfehlung, sollten sich bei ihrem Kampf auch häufiger auf die Menschenrechte beziehen.

Zu aktuellen Herausforderungen für Menschenrechtsaktivis:innen zählt Kaleck auch rechtspopulistische und rechtsextreme Organisationen, die unter dem Vorwand des Einsatzes für Gerechtigkeit unterwegs sind. Auf diese näher einzugehen, lehnt der Autor jedoch ab: "Weil sie die Würde, das Leben und die körperliche Unversehrtheit und damit die Menschenrechte so vieler missachten, sollen diese Bewegungen im Folgenden nicht erörtert werden. In der praktischen, menschenrechtlich ausgerichteten Politik müssen sie hingegen beobachtet und bekämpft werden."

Menschenrechte vor Gericht: "Success without Victory"

Nicht überraschend ist, dass der Rechtsanwalt Kaleck der juristischen Menschenrechtsarbeit ("Kämpfe um das Recht") das umfangreichste Kapitel seines Buches widmet. Darin beschreibt er, wie selbst juristische Niederlagen immer wieder Erfolge in der Sache bewirkt haben: "Manche der Prozesse mündeten in Niederlagen vor den juristischen Instanzen, wirkten aber mobilisierend für den politischen Kampf der jeweiligen Gruppe." Der linke Jurist Jules Lobel nannte dieses Phänomen "Success without Victory".

Mit Genugtuung beschreibt Kaleck weiter, wie sich inzwischen jedenfalls im westlichen Europa eine ständige Praxis von Strafverfahren gegen Menschenrechtsverletzer entwickelt habe, die auf dem sogenannten Weltrechtsprinzip basierten. Danach können auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggressionin Deutschland unabhängig von Tatort und Nationalität der beteiligten Personen verfolgt und angeklagt werden.

Vor einigen Wochen ging auf diese Weise in Koblenz ein erster Strafprozess wegen Staatsfolter in Syrien zu Ende. Kaleck sagt zu derartigen Verfahren in seinem Buch: "Noch vor zwei Jahrzehnten wären diese Menschheitsverbrechen weder untersucht noch gar sanktioniert worden. Die aktuellen Prozesse zeigen, dass unter den gegebenen Umständen das Weltrechtsprinzip mit Rückendeckung der UN eine eingeschränkte, dennoch unverzichtbare Alternative zur Strafverfolgung vor einem internationalen Tribunal sein kann."

Recht als Mittel zum Kampf auch für soziale Menschenrechte

Kaleck lässt in seinen Ausführungen seinen Blick weltweit schweifen, beschreibt nicht nur die juristische Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen im Westen. So verweist er etwa auf einige spannende juristische Entwicklungen in Lateinamerika, Asien und Afrika.

Im Globalen Süden, so Kaleck, würden soziale Bewegungen zusammen mit ihren Anwält:innen kreativ und dynamisch schon seit einiger Zeit das Recht als Mittel im Kampf um "die im Westen vernachlässigten" kollektiven wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte einsetzen. Anders als viele Jurist:innen dort verstünden sie unter Menschenrechten "mehr als die bürgerlichen und politischen Rechte auf Meinungs- und Pressefreiheit und Schutz vor Folter und Mord". Vor Gericht seien sie immer wieder auch erfolgreich:  So hätten z.B. 2001 zwei Menschenrechtsorganisationen in Indien vor dem Obersten Indischen Gerichtshof das Menschenrecht auf Nahrung weltweit erstmals gerichtlich geltend gemacht. "Das Gericht folgte ihren Argumenten, stellte die Geltung des Rechts auf Nahrung als Teil des Rechts auf Leben in der indischen Verfassung fest und diktierte der Regierung Ernährungsprogramme für etwa 300 Millionen Menschen." Unterstützt wurde der Fall von einer breiten gesellschaftlichen Kampagne.

Auf eine Art Kampagne "Pro Menschenrechte" hofft Kaleck auch für die nahe Zukunft: Die Menschenrechtsbewegung, vor allem die international aktiven Organisationen, sollten "mit einem historisch und inhaltlich aufgeladenen Arbeitsprogramm – dekolonial und feministisch in Wort und Tat – und einer machtkritischen DNA die Menschenrechte von dem Ruf befreien, ein reines Mittelklassen-Elite-Projekt zu sein. Dann, so Kaleck, könne sie beginnen, "die konkrete Arbeit an der Utopie der Menschenrechte".

Das Buch von Wolfgang Kaleck, "Die Konkrete Utopie der Menschenrechte – Ein Blick zurück in die Zukunft", erscheint am 24.März 2021 im S. Fischer-Verlag, ISBN 978-3-10-397064-7 und kostet 21,00 Euro.

Zitiervorschlag

"Die konkrete Utopie der Menschenrechte" von Wolfgang Kaleck: "Menschenrechtsarbeit ist kein Mittelklasse-Eliten-Projekt" . In: Legal Tribune Online, 20.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44543/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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