Juristische Promotion: Neun lesens­werte Dis­ser­ta­tionen und zwei tote Ketzer

von Martin Rath

13.05.2018

Seit 2011 der CSU-Hoffnungsträger K.-T. zu Guttenberg mit seiner zusammenkopierten Doktorarbeit aufflog, werden geisteswissenschaftliche Dissertationen kritisch beäugt. Mit dieser kleinen Auswahl soll der schlechte Ruf aufgebessert werden.

Womit könnte man besser den guten Ruf der Geisteswissenschaften gegen die naseweisen Vorwürfe von bloß naturwissenschaftlich ausgebildeten Menschen verteidigen, sie hätten der Welt nichts zu sagen, als mit einer Auswahl rechtswissenschaftlicher Doktorarbeiten?

Man sollte annehmen, dass es kaum etwas auf der Welt gibt, womit sich Juristen nicht beschäftigten. Dieser ebenso stolzen wie steilen These mag die hier getroffene Auswahl vielleicht einigermaßen gerecht werden.

Kurz vorgestellt werden Studien zur rechtlichen Würdigung der E-Zigarette ebenso wie zur Schweiz als Marke, einen kleinen Schwerpunkt bilden Arbeiten, die sich dem Recht als Wissenschaft oder dem Recht in seiner Beziehung zu anderen Wissenschaften angenommen haben.

Auch wenn dies angesichts – hoffentlich fortschreitender – Bemühungen um eine gute, zeitgemäße Unterrichtspraxis an den juristischen Fakultäten ein Thema ist, das Bedürfnisse der Gegenwart bedient, bleibt die hier vorliegende Auswahl zufällig. Sie beruht im Wesentlichen auf Werken, die von der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln zugänglich gemacht wurden.

Eine weitere Einschränkung vorab: Wert wird hier vor allem auf einen kurzen, möglichst unterhaltsamen Zugriff auf die Werke gelegt. Manches wartet darauf, im rechtswissenschaftlichen Diskurs aufgegriffen und weiterverarbeitet zu werden.

1. Elektrifiziertes Nuckeln

Nach Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben rund zwei Drittel der Raucher in Deutschland bereits einen ernsthaften Versuch gemacht, mit dem Rauchen aufzuhören, für ein Drittel liegt der letzte Anlauf weniger als zwei Jahre zurück. Unter den 18- bis 65-jährigen Männern rauchten (2015) 28,1 Prozent, 23,4 Prozent der Frauen.

Das Nuckeln hat mithin auch in Bevölkerungsgruppen starke Konjunktur, die dem Säuglingsalter längst entwachsen sind. Während das hergebrachte Rauchen mit seinen vielgestaltigen karzinogenen Stoffen einschneidende Fragen für Onkologen und die versicherungsökonomische Würdigung selbstschädigenden Konsumverhaltens aufwirft, haben das Abhängigkeitspotenzial von Nikotin und das Nuckelbedürfnis Erwachsener die sogenannte E-Zigarette hervorgebracht – ein nicht zuletzt mit Blick auf gescheiterte Versuche, tabakabstinent zu leben, interessantes Produkt menschlichen Erfindergeists.

Die Kölner Dissertation von Gina Schneider würdigt die E-Zigarette unter Aspekten des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts – umfangreiche arznei-, chemikalien- und suchtmittelrechtliche Vorfragen inklusive.

Mit den kleinen Dampf-Maschinen tauchen überraschend viele juristische Detailfragen am Horizont auf: Gibt es etwa eine bußgeldbewehrte Pflicht des Arbeitgebers, einen unbedampften Arbeitsplatz zu schaffen? USB-Aufladeschnittstellen und elektronisches Innenleben können datenschutzrechtliche Probleme aufwerfen, die in der Welt der Schnuller, Pfeifen und Zigarren nie zu erahnen waren.

There is a plenty of law in the end of an e-cigarette - diese Dissertation lüftet den Nebel.

Gina Schneider: Die E-Zigarette im Fokus des Strafrechts. Baden-Baden (Nomos) 2018. Dissertation Köln (Martin Waßmer & Heinz-Joachim Papst) 2018.

2. Naturwissenschaftlicher Fortschritt, juristisch verwertet

In den letzten Jahrzehnten des 19., den ersten des 20. Jahrhunderts wurde eine – rückblickend betrachtet – ganz ungeheure Zahl naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für das soziale, insbesondere wirtschaftliche Leben relevant: Synthetische Chemie, Hygiene und Impfungen, Radioaktivität und Rundfunk brachten neben Fragen der technologischen Verwertbarkeit in Wirtschaft und Militär grundstürzend neue Weltbilder hervor, namentlich Relativitäts- und Quantentheorie – im weltweit oft führenden Deutschland zudem noch obskure Lehren wie Rudolf Steiners Anthroposophie oder Hanns Hörbigers Welteislehre.

Wie wurde der naturwissenschaftliche Fortschritt im Recht aufgenommen?

Die Hamburger Dissertation von Jan Hövermann nimmt sich des prominentesten Beispiels an, das jedem Erstsemester bei der Erörterung der Analogie im Strafrecht durch den Hinweis auf das "Gesetz, betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit" vom 9. April 1900 vertraut gemacht wird.

Was ist Elektrizität: Sache, Kraft oder Energie? Waren hergebrachte Regelungen zu anderen Kräften, etwa aus dem Recht der Wassermühlen vorbildlich? Wie war mit der Provokation umzugehen, dass sich der jahrhundertealte Begriff der "Sache" in – wie auch immer gearteten – feinstofflichen Bahnen auflöste?

Einerseits wurde noch in den 1930er Jahren manch aus der Zeit gefallener Physiker über die Qualität des Äthers promoviert, andererseits eiferte die Jurisprudenz seit der ersten Reichsgerichtsentscheidung zur Elektrizität von 1887 darum, eine angemessen anschlussfähige Auffassung von den modernen physikalischen Entdeckungen für das Recht zu entwickeln.

Derart vertieft und exemplarisch nachgezeichnet zu finden, wie die Jurisprudenz den Anschluss an die naturwissenschaftliche Welt sucht, ist eine ziemlich spannenden Lektüre.

Jan Hövermann: Recht und Elektrizität. Der juristische Sachbegriff und das Wesen der Elektrizität 1887 bis 1938. Tübingen (Mohr Siebeck) 2018. Dissertation Hamburg (Tilman Repgen & Hans-Heinrich Trute) 2016.

3. Vom Geschichtenerzählen und dem Recht

Als die Rechtswissenschaft zu Kaisers Zeiten – im Nachhinein besehen – durchaus putzige Versuche machte, auf der Ebene ihrer hausgemachten Theorien  den Anschluss an andere Fächer nicht zu verlieren, war den Juristen durchaus bewusst,  es mit dem intellektuellen Proprium ganz fremder Disziplinen zu tun zu haben.

In ihrer münsterschen Dissertation zur Übertragbarkeit des vor allem im angelsächsischen Raum gepflegten "Law as Narrative"-Approaches auf die deutsche Jurisprudenz geht Ruth Blufarb im Vergleich dazu keiner Eheanbahnung zur Naturwissenschaft, sondern einer intellektuellen Trennungsgeschichte von anderen Geisteswissenschaften nach.

War beispielsweise die Germanistik der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm (1785–1863 und 1786–1859) noch selbstverständlich eine sowohl rechts- wie auch literaturwissenschaftliche Veranstaltung, die sich der gleichen Methoden und Gegenstände bedienen konnte, machen sich Juristen heute selten allzu ausgefuchste Vorstellungen, was beispielsweise überhaupt ein Text ist und zeigen sich vielfach froh, mit bescheidenen Auslegungsmethoden durch die Staatsexamina zu kommen.

Im Vergleich zu den vielfältigen Erzähltheorien der Kultur- und Sozialwissenschaften wirkt das Wissen der Juristen von der systematischen Beschreibung ihres Textmaterials ein wenig wie ein Pinguin in der Paradiesvogelvoliere.

Blufarb bietet einen soliden Überblick über die großen Erzähltheorien der außerjuristischen Disziplinen und schlägt vor, unter anderem Gerichtserzählungen, Präambeln und normative Texte mit narratologischen Methoden zu untersuchen. Derart fundiertes "Legal Storytelling" mag dazu beitragen, die im deutschen Recht eher nicht explizit mitverhandelten Hintergründe moralischer und emotionaler Einstellungen der Akteure zu vermitteln.

Man darf hier vielleicht an so unterschiedliche Erzählstimmen wie Thomas Fischer und Ferdinand von Schirach denken – und hoffen, dass ihr Chor größer wird. Den Theorieteil, um hierbei Anschluss an die Literaturwissenschaft zu finden, bietet diese Dissertation.

Ruth Blufarb: Geschichten im Recht. Übertragbarkeit von "Law as Narrative" auf die deutsche Rechtsordnung. Baden-Baden (Nomos) 2017. Dissertation Münster/Westfalen (Bodo Pieroth & Fabian Wittreck) 2015.

4. Wer hat sich selbst erfunden? – Die Schweizer waren es

Um gleich ein gefälliges Beispiel dafür zu geben, wie mythische Erzählungen – böse Zungen werden sagen: Märchen – normative Kraft entfalten, genügt der Blick in die Problembeschreibung dieser Doktorarbeit.

Den Reisenden des Mittelalters und der frühen Neuzeit galten die Alpen noch als grauenhafter Ort voll tödlicher Gefahren, Steinschlag und Wegelagerei. Und wenn man dem Schrecken der Berge nicht persönlich ausgesetzt war, bestand die Chance, einem der kampflustigen Söldnerhaufen zu begegnen, die jeder europäische Fürst von Rang aus der Schweiz bestellte – kurz: Man hatte ein durchaus realistisches Bild von Land und Leuten.

Doch zogen seit dem 18. Jahrhundert zunächst idealistische Aufklärer durch die Berge, Goethe empfahl seinem Freunde Schiller den Wilhelm Tell, dann kamen die englischen Romantiker – und so zeichnete man bald ein paradiesisches paradiesisches Bild von schneebedeckten Bergen und saftigen Alpenwiesen, der Heidi und dem Alp-Öhi, von Spitzenprodukten der Chocolaterie, der Uhrmacherei und der diskreten Bankkaufleute.

Zum eher altbacken wirkenden Narrativ von Schokolade und Uhren "Made in Swizzerland" kommt ein modernes Bild von der "Swissness", die sich beispielsweise mit atmungsaktiver Outdoor-Kleidung oder den hoch modernen Schienenfahrzeugen aus der Schweiz assoziieren lässt.

Birgit Weil stellt das avancierte Schweizer Marken-, Wappen- und Lauterbarkeitsrecht vor und analysiert es mit Blick auf die Herausforderungen, die sich durch die zunehmend globalisierten Wertschöpfungsketten ergeben. Wer wissen will, wie dies in einer anspruchsvollen und vergleichsweise eigenständigen Rechtsordnung Europas organisiert wird, findet hier Aufschluss.

Birgit Weil: Die Bestimmung der Herkunft "Schweiz" im rechtlichen, historischen und wirtschaftlichen Spannungsfeld. Swissness – zwischen  Selbsterhalt und Selbstzerstörung. Zürich, Basel, Genf (Schulthess) 2017. Dissertation Zürich (Rolf H. Weber & Andreas Heinemann) 2016.

5. Aus der Macht sollte hier kein Recht folgen

Folgt man den Kommentaren, die sich unter Artikeln großer Online-Medien finden, ist zu vermuten, dass das deutsche Volk neben Millionen autodidaktischer Koran-Experten inzwischen mit einer fast ähnlich großen Zahl von völkerrechtskundigen Köpfen gesegnet ist – mit besonderer Fachkunde, wenn es zu bestreiten gilt, der russische Staat habe 2014 die Halbinsel Krim annektiert.

In dieser Bonner Dissertation bietet die Krim nur eines einer ganzen Anzahl von Beispielen, anhand derer die Pflicht dritter Staaten behandelt wird, auf völkerrechtswidrige Gebietsänderungen zu reagieren. Um hier einschlägige Neugier gleich zu befriedigen: Von der vielfach gelesenen Kommentariatsspitzfindigkeit, man müsse bei der Krim zwischen böser Annexion und guter Sezession unterscheiden, bleibt bei Felix Krumbiegel nicht viel übrig.

Doch sind die Beispiele für die Pflicht, völkerrechtswidrigen Gebietsänderungen die Anerkennung zu verweigern, weit reicher gesät als der aktuelle Lieblingsfall der deutschen Putinfraktion: Hyderabad und das Tibet, Goa, Ost-Jerusalem, Ost-Timor, die West-Sahara bieten Beispiele für die (Nicht-) Anerkennung nach gewaltsamem Gebietserwerb, Rhodesien, Nord-Zypern, das Kosovo und Süd-Ossetien für (Nicht-) Anerkennung nach der Neugründung von Staaten.

Unaufgeregt präsentiert werden die Konsequenzen, wenn es beispielsweise um die Anerkennung von Hoheitsakten geht, die die privatrechtlichen Beziehungen im neuen bzw. neu erworbenen Gebiet betreffen.

Man weiß nicht recht, ob man Krumbiegels Dissertation angesichts der zugetrollten öffentlichen Diskussionen um völkerrechtliche Fragen uneingeschränkt vielen Lesern empfehlen sollte – vielen juristischen Lesern jedenfalls. Sie können das felsenfeste Gewicht der Argumente dann ja auf zarte Trollfüße fallen lassen.

Felix Krumbiegel: Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung völkerrechtswidriger Gebietsänderungen. Frankfurt am Main (Peter Lang) 2017. Dissertation Bonn (Matthias Herdegen & Stefan Talmon) 2016.

6. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer

Ohne darauf vertrauen zu können, dass die Dinge schon richtig laufen werden, wäre der Mensch kaum handlungsfähig. Wer, abgesehen von Vertretern der kommunistischen Planwirtschaft oder eines autoritären Polizeirechts, wollte schon darauf setzen wollen, die Ergebnisse aller Interaktionen einer Gesellschaft, die letztlich auf Vertrauen basieren, durch Kontrolle zu ersetzen? Und selbst sie sprechen vom höheren Sicherheit durch Kontrolle wohl zumeist auch nur, um vom Aufbau entsprechender Überwachungssysteme höchstselbst zu profitieren. Den Verlust an Kreativität und Innovationskraft wollen auch sie in der Regel nicht bezahlen.

Während sich viele Kontrollfantasien auf die stets unsichere Zukunft beziehen, muss das Strafrecht einer offenen Gesellschaft oftmals im Nachhinein die Antwort auf die Frage geben, wie viel Vertrauen ein Mensch auf das regelkonforme Verhalten seiner Umwelt setzen durfte.

Einige typische Anwendungsfelder dieser Frage bilden den Ausgangspunkt dieser Bonner Dissertation. Für das Verkehrsstrafrecht wird der historische Wandel von einem allgemeinen Misstrauensprinzip – der Verkehrsteilnehmer habe stets mit den Fehlern der anderen zu rechnen – hin zu einem differenzierten Vertrauensgrundsatz herangezogen, in der Arbeitsteilung unter Ärzten spielt der Vertrauensgrundsatz eine eigenständige Rolle, weiterhin in der strafrechtlichen Produkthaftung sowie im Baustrafrecht.

Die Funktionen des Vertrauensgrundsatzes und seine theoretischen Begründungen werden hier detailliert aufgefächert, wohl weniger ein Werk für das Tagesgeschäft als eine Studie für dogmatische Zweifelsfragen.

Nathalia Bautista Pizarro: Das erlaubte Vertrauen im Strafrecht. Studie zu dogmatischer Funktion und Grundlegung des Vertrauensgrundsatzes im Strafrecht. Baden-Baden (Nomos) 2017. Dissertation Bonn (Günther Jakobs & Rainer Zaczyk) 2014.

7. Raus aus der Sonntagsschule, rein in die Didaktik!

Der Frage, wie das Recht als Wissenschaft gelehrt werden kann, wird nicht selten im Stil einer sonntäglichen Besinnungsübung nachgegangen – um sich gleich darauf wieder den Erwartungen der Studenten auf dem Weg ins Repetitorium oder den Verschleißfaktoren des akademischen Alltags zu unterwerfen. 

Bemühungen darum, die akademische Lehre allgemein, jene des Rechts im Besonderen wissenschaftsdidaktisch zu reflektieren, sind noch vergleichsweise jung. In der Geschichte der Bundesrepublik wurden entsprechende Bemühungen bekanntlich nicht selten als Kampf um die Seelen der künftiger Macht- und Rechthaberinnen und -haber betrachtet.

Diese Dissertation kann derlei nun glücklicherweise hinter sich lassen und sucht systematisch den Anschluss an die allgemeine Wissenschaftsdidaktik. Drei wesentliche Ansätze macht sie in Haltungen und Methoden der Rechtswissenschaft aus: eine inversive, eine transformative Wissenschafts- sowie eine praxeologische Forschungsdidaktik sind hier die Oberbegriffe. In Interviews für den empirischen Teil dieser Doktorarbeit wurde unter anderem der Haltung von akademischen Rechtswissenschaftlern zur rechtswissenschaftlichen Forschung nachgegangen und den Einstellungen, die sie damit verbinden.

Heraus kommt dabei nicht zuletzt eine Einschätzung der inversiven, transformativen und praxeologischen Didaktiken aus der Sicht der akademischen Lehrpraxis und mit Blick auf ihre Relevanz für die Studentenschaft.

Von Interesse wird diese Studie wohl für alle Rechtslehrer sein, die ihre Tätigkeit reflektieren und aus der sonntäglichen Besinnungsübung herauskommen möchten, denn auch dazu ist eine solche Untersuchung wohl gut: zu zeigen, wann das Nachsinnen über gute Rechtswissenschaft und -lehre in den Bereich abnehmenden Grenznutzens gerät.

Nora Rzadkowski: Recht wissenschaftlich. Drei wissenschaftsdidaktische Modelle auf empirischer Grundlage. Baden-Baden (Nomos) 2018. Dissertation Hamburg (Hans-Heinrich Trute & Arne Pilniok) 2018.

8. Deutsches Recht im Strudel der Überfremdung  

Mit großer Gewalt tritt fremdes Heervolk über die Grenzen Deutschlands, bringt fremdes Recht mit sich. National gesinnte Studenten verbrennen zwar die ausländischen Gesetze und hetzen gegen seine inländischen Kommentatoren, aber am Ende sieht sich sogar das höchste deutsche Zivilgericht der Zumutung ausgesetzt, einen eigenen Senat einzurichten, der sich der Anwendung und Auslegung der fremdländischen Normen widmen muss.

Doch keine Sorge, nicht vom Koran und den Hadithe ist die Rede, die FAZ-Experten für Fragen der normativen Apokalypse müssen sich also nicht in den Inlandsredaktionsbunker begeben.

Diese Kölner Dissertation nimmt sich der Diskussion um den französischen Code civil an, der zwischen der Herrschaft des französischen Imperiums in deutschen Landen und dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs eine vielfach mit hysterischem Nationalpathos angefeindete Kodifikation bot – als sogenanntes Rheinisches Recht aber auch schlicht geltendes Gesetz blieb, für das namentlich die regionalen Ober(landes)gerichte und der 2. Zivilsenat des Reichsgerichts besondere fachliche Kompetenz ausbildeten.

Als eine Strategie, sich in Zeiten nationalistischen Dauerirrsinns den Code civil schmackhaft zu machen – die pragmatischen Luxemburger beließen es ungeachtet ihrer eigenartigen moselfränkischen Alltags- einfach bei der französischen Gerichtssprache – wurde im 19. Jahrhundert die französische Hinterlassenschaft in Deutschland darauf abgeklopft, ob sie nicht möglicherweise besonders "germanisch" sei: Von den Römern ihres alten Stammesrechts beraubte Gallier waren im Frühmittelalter heilfroh, als die Feldgerichtsräte von Hermann dem Cherusker ihnen graue Kommentarbände zum germanischen Recht über den Rhein brachten. Dass das Franzosenrecht nur ein Rückimport sei, sollte im Deutschland des 19. Jahrhunderts den nationalen Schmerz lindern.

Zugegeben, dies war die boshafte Kurzfassung. Ihre ohne Abstriche seriöse Langversion findet sich in:

Verena Peters: Der "germanische" Code civil. Zur Wahrnehmung des Code civil in den Diskussionen der deutschen Öffentlichkeit. Tübingen (Mohr Siebeck) 2018. Dissertation Köln (Hans-Peter Haferkamp & Martin Avenarius) 2016.

9. Risiken und Nebenwirkungen des Schamanismus

Zuletzt war der Markt für Zuckerpillen und für bis zur Wirkungslosigkeit verdünnte Mittelchen etwas rückläufig, doch nach wie vor Millionen Euro schwer: 73 Prozent aller Frauen und immer noch beachtliche 48 Prozent aller Männer in Deutschland haben bereits auf homöopathische Präparate zurückgegriffen (2014). Mehr als 50 Millionen Packungen sollen allein 2017 verkauft worden sein.

Wurden vor 125 Jahren von den Gerichten noch klare Grenzen zwischen Quacksalberei und naturwissenschaftlich fundierter Heilkunst gezogen, ist dies heute angesichts einer starken "Alternativmedizin"-Lobby und eher übellauniger denn aufklärerischer Skeptiker-Verbände nicht mehr zu erwarten.

Angesichts des heute hohen Verbreitungsgrads von Dienstleistungen und Präparat-Abverkäufen, die bewusst darauf verzichten, naturwissenschaftlich evident wirksam sein zu wollen, stellen sich zahllose Zulassungs- und Haftungsfragen, beispielsweise die, ob ein Arzt verpflichtet sein kann, neben evidenzbasierten, oft abwertend sogenannten schulmedizinischen Methoden auch solche der sogenannten Alternativmedizin vorzuschlagen, oder vielmehr dazu, vor letzteren zu warnen.

Die Kölner Dissertation widmet sich der Therapiefreiheit des Arztes sowie haftungs-, arzneimittel- und sozialrechtlichen Bedingungen und Grenzen der sogenannten Alternativmedizin – und bietet hierzu einen umfassenden und systematischen Überblick, der als Ultrakurz-Kommentar auch dem Mediziner Orientierung (neben dem Computerprogramm zur Einkünfteoptimierung auf seinem Praxis-PC) verspricht.

Katrin Schumacher: Alternativmedizin. Arzthaftungsrechtliche, arzneimittelrechtliche und sozialrechtliche Grenzen ärztlicher Therapiefreiheit. Berlin/Heidelberg (Springer) 2017. Dissertation Köln (Christian Katzenmeier & Hanns Prütting) 2015.

10. Eine Nachschrift zu Ecos "Name der Rose" in Erwachsenensprache

Wer, vielleicht anlässlich des Todes von Umberto Eco (1932–2016) noch einmal seinen Weltbestseller "Der Name der Rose" (1980) zur Hand genommen hat, dem wird möglicherweise der infantile Ton sauer aufgestoßen sein, mit dem die Erzählerfigur Adson von Melk über den Kriminalfall in einem norditalienischen Kloster berichtet.

Ecos Krimi-Handlung um eine verschollen geglaubte dramentheoretische Schrift des Aristoteles spielt bekanntlich vor dem Hintergrund eines zentralen theologisch-politischen Kampfes: Ein radikaler Teil der auf den heiligen Franz von Assisi zurückgehenden Ordensbewegung behauptete, dass Jesus und seine Jünger kein Eigentum besessen hätten. Weil daraus auch die Forderung resultierte, die Kirche habe in Armut zu leben, traf dies auf heftige Gegenwehr des Klerus und anderer Ordensgemeinschaften.

Bald 50 Jahre, nachdem er dies in einer rechtshistorischen Zeitschrift angekündigt hatte, legte der emeritierte Konstanzer Historiker Alexander Patschovsky (1940–) nun die Dokumentation eines Ketzerprozesses vor, der am Hof des Papstes in Avignon gegen zwei Vertreter dieser ketzerischen Lehre von der Armut Christi und seiner Kirche geführt wurde.

In leichter, ja eleganter Kürze stellt Patschovsky die prozessualen Spielregeln und Vorgänge dieses Ketzerprozesses vor – selten wird so eingängig über ein juristisches Verfahren berichtet, noch dazu aus dem Abstand von bald 700 Jahren. Die andere Hälfte des schmalen Bandes nehmen die erschlossenen historischen Dokumente (in lateinischer Sprache) ein. Das ist Eco, nur historisch korrekt und in einer Sprache für erwachsene Leser.

Patschovsky bedauert, dass seine Kollegen ihn in den fast 50 Jahren, die er sie auf diese Prozess-Dokumentation habe warten lassen, kaum jemals nach seinem Arbeitsfortschritt befragt hätten. An einer solchen Arbeit an den Quellen bestehe heute wohl nicht mehr sehr viel Interesse.

Das Bedauern ist noch bescheiden ausgedrückt: Nicht nur, dass man sich wünschte, solche spannenden Studien z.B. als kostengünstige Reclam-Ausgabe beziehen zu können, vielleicht mit lateinisch-deutschem Quellenteil, hier hat man auch ein vorbildliches didaktisches Format in der Hand, das sich auch für zeithistorisch bedeutende Prozesse hervorragend eigenen würde und das es – z.B. mit Roland Dubischars "Prozesse, die Geschichte machten" (1997) – viel zu selten gibt.

Alexander Patschovsky: Ein kurialer Ketzerprozeß in Avignon (1354). Die Verurteilung der Franziskanerspiritualen Giovanni di Castiglione und Francesco d’Arquata. Wiesbaden (Harrassowitz) 2018.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristische Promotion: Neun lesenswerte Dissertationen und zwei tote Ketzer . In: Legal Tribune Online, 13.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28577/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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