Metaphysik: Zeit für die Abschaf­fung des Gna­den­rechts

von Martin Rath

20.08.2017

2/2: Maximale Schlüpfrigkeit der Gnade

Auf Beccarias Maxime, wonach Gnade durch besseres Strafrecht abzulösen sei, wird noch zurückzukommen sein.

Für den deutschen Hausgebrauch hat hierzu, wie skizziert, das Bundesverfassungsgericht 1977 mit der "Verrechtlichung der Entlassungspraxis" bei der lebenslangen Freiheitsstrafe Wesentliches geleistet und zugleich auch die volkstümliche Rachefantasie zurückgedrängt, im "lebenslänglich" eine Art Ersatz-Todesstrafe zu sehen.

Der Umstand, dass die heutigen Gnadenherren, der Bundespräsident für den Bund, in der Fläche die "Staatsoberhäupter" der Länder, dank ihrer demokratischen Legitimation kaum noch darauf angewiesen sind, sich mit dem einst "göttlichen Vorrecht" der Gnadenwaltung in Szene zu sehen, tut – neben formalen Kleinigkeiten wie der Gegenzeichungspflicht des jeweiligen Aktes – ein Übriges, der Gnade im Rechtsstaat den alten Anschein der Ruchlosigkeit zu nehmen.

Ein großer Künstler in Sachen Schlüpfrigkeit ist bekanntlich Donald J. Trump (1947–). Dem US-Präsidenten steht aus Art. II Sec. 2 der US-Verfassung die Kompetenz zu, für die Strafgewalt des Bundes umfassend Gnade zu üben. Anders als nach der deutschen Doktrin ist ihm dies auch vor Rechtskraft erlaubt, ja sogar vor Beginn der Strafverfolgung, ohne Gegenzeichnungspflicht oder irgendeine wirklich relevante Beschränkung.

Kein Wunder, dass dieses cäsarisch-prächtige Begnadigungsrecht auch die Aufmerksamkeit des aktuellen Amtsinhabers mit der Frage erregte, ob er sich auch in eigenen Angelegenheiten selbst begnadigen könnte.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es war der 42. Präsident der USA, Bill Clinton (1946–), der dem Gnadenrecht so weit das Mieder gelockert hat, dass sich auch der 45. Amtsträger hierzu eingeladen fühlen darf: Am letzten Tag seiner Amtszeit begnadigte Clinton im Januar 2001 mindestens 140 Personen, darunter u.a. hochkarätige Betrüger, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Millionen-Spenden für die Clinton-Kampagnen geleistet hatten. Hillary Clintons Bruder Hugh Rodham (1950–) erhielt 400.000 Dollar Honorar vom Kokainhändler Carlos Vignali, der in den Genuss der Clinton'schen Gnade kam, so berichtete die ehrwürdige "Neue Juristische Wochenschrift" (2001, S. 1.185 f.)

Sollte Präsident Trump die Idee weiter verfolgen, sich durch die Begnadigung seiner selbst von etwaiger strafrechtlicher Schuld zu befreien, würde öffentlich wohl wieder fröhlich die "Gleichheit im Unrecht" diskutiert, während die seriöse Staatsrechtslehre die "zwei Körper des Königs" bemühen dürfte – der metaphysisch unsterbliche Leib des Präsidentenamts, der seiner sterblichen Verkörperung dient, sich nach Art des Barons Münchhausen selbst aus dem Sumpf zu ziehen.

Was sollen wir mit der Gnade überhaupt anfangen?

Im Grunde wäre es sehr schön, sollte Präsident Trump zur Selbstbegnadigung greifen. Dies gäbe Anlass, die Gnade als ein heuristisches Prinzip neu zu entdecken, also als ein Erkenntnismittel, das hilft, im rechtspraktischen und -politischen Denken einmal die Richtung zu wechseln.

In der alteuropäischen, frühmodernen Form war Gnade das Instrument des Herrschers von Gottes Gnaden, in die formalen Routinen des Justizapparats einzugreifen wie ein "deus ex machina" auf der Barockbühne. Im Gegensatz zur britischen Equity, die argumentativ begründete, warum sie in den gewöhnlichen Lauf der justiziellen Entscheidungen eingriff, gilt es bis heute als Wesensmerkmal der Gnade, sich nicht rechtfertigen zu müssen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.4.1969, Az. 2 BvR 552/63).

Horst Meier hat diesem begründungsfreien Weichmacher des inzwischen nachfeudalen Justizbetriebs noch im Jahr 2007 unter dem Titel "Gesetzloses Wunder. Vom Sinn der Gnade" eine freundliche Apologie gewidmet (Blätter für dt. und internationale Politik, 2007, S. 742–748).

Sollte dieses Wunder nun aber vom amerikanischen Bühnengott in eigener Sache bewirkt werden, könnte die Forderung der Zeit lauten: "Schafft das Gnadenrecht ab!" Und da hierzulande wohl niemand einem im Ergebnis "gnadenlosen" Staat das Wort reden möchte (von Leuten, die im DDR-Kinderhort zu früh aufs Töpfchen gezwungen wurden, einmal abgesehen), könnte die Anschlussfrage an Rechts- und Innenpolitiker künftig sein: "Was möchten Sie tun, dass die Einrichtungen der Strafrechtspflege – vom Ermittlungsverfahren über die wissenschaftliche Klugheit der Spruchkörper bis hin zum Strafvollzug und darüber hinaus zur arbeitsmarkt- und sozialtherapeutischen Betreuung von Straftätern ohne Rückgriff auf Gnadenerwägungen auskommt, sondern aus sich heraus fehlerfreundlich, human und menschenwürdig arbeitet?"

Zugegeben, die Frage ist länger als: "Was tun Sie für unsere Sicherheit?" Ihre Zielrichtung heißt, weniger Bosbach und mehr Beccaria wagen: Nicht nach Härte und symbolischer Gnadenkorrektur im Einzelfall rufen, sondern ein Recht entwickeln, das ohne Gnade auskommt.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Metaphysik: Zeit für die Abschaffung des Gnadenrechts . In: Legal Tribune Online, 20.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24035/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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