Das Bundesverfassungsgericht grenzte 1977 nicht nur die lebenslange Freiheitsstrafe ein, es reduzierte zugleich die Bedeutung der Gnade. Ob es Zeit ist, das Gnadenrecht abzuschaffen, könnte eine Testfrage zur Qualität der Justiz werden.
Die ganz große Zeit der Gnade war bereits vorüber, als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ihr in Deutschland den prominentesten Gegenstand weitgehend aus den Händen nahm: die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe.
Dem berühmten Urteil vom 21. Juni 1977, in dessen Konsequenz den Gerichten die Aufgabe zugewiesen wurde, die Vollstreckungszeit zu prüfen, ging eine ausführliche Diskussion voraus, wie es mit dem bisher zentralen Ausweg aus lebenslanger Haft bestellt war (Az. 1 BvL 14/76).
Wenig zufrieden zeigte sich das Gericht mit statistischen Daten zum Status quo der Jahre 1945 bis 1975: "Aufgrund der Begnadigungspraxis in dem genannten Zeitraum haben sich bis zur gnadenweisen Entlassung nur wenige Gefangene, nämlich 48, weniger als 10 Jahre und auch nur wenige, nämlich 27, mehr als 30 Jahre ihrer Strafe verbüßen müssen. Der größte Teil der Begnadigungen erfolgte zwischen dem 15. und dem 25. Haftjahr. Die durchschnittliche Verbüßungsdauer liegt bei etwa 20 Jahren."
Die "Verrechtlichung der Entlassungspraxis" hatte den naheliegenden Effekt, dass sich die Gnadenherren seither zurückhalten und den Gerichten bei den Verbüßungszeiten lebenslang Verurteilter – vor Ablauf der gesetzlich geregelten Prüfung nach 15 Jahren – kaum mehr vorgreifen.
Um seines prominentesten Anwendungsfalls beraubt, kommt das Gnadenrecht heute zum Einsatz, indem ganz unspektakulär und ausnahmsweise Geld- und zeitige Haftstrafen erlassen werden oder ein Führerscheinverlust zu über jedes Maß hinausgehender Unbilligkeit führen könnte.
Die große Zeit der Gnade
Ihre ganz großen Auftritte auf der Bühne des Rechts mag die Gnade zwar im "Theater des Schreckens", also dem Strafrecht, haben; eine wirklich beeindruckende Rolle spielte sie aber anderenorts: als Billigkeit oder "Equity" im Zivilrecht, insbesondere der angelsächsischen Welt.
Im alten England des reifen Mittelalters standen sich vor allem zwei Systeme juristischer Arbeit gegenüber: Vor Ort entschieden Gerichte auf der Grundlage des Common Law, das heißt in einem an magische Rituale erinnernden, stark formalisierten Prozess, in dem es allein auf die Verwendung der richtigen Klageformel ("writ") und mehr oder weniger starr vorgegebene Beweismittel ankam.
Wo sich Richter so den Vernunftgebrauch selbst verbieten, entstehen gerne ungerechte Urteile. Als Ausweg bot es sich im früh zentralisierten England an, sich mit der Bitte um Gnade an den König zu wenden. Aus der königlichen Entscheidungspraxis in diesen Gnadenersuchen entstand mit der "Equity" die zweite Hauptquelle des angelsächsischen Rechts, verstetigt durch eigene Spruchkörper und die Begründung der Entscheidungen.
Gnade - eine "schlüpfrige" Kompetenz
In den frühmodernen Rechtsordnungen des europäischen Kontinents war das Urteil der Gerichte etwas weniger förmlich starr als im System der englischen "writs" – entsprechend wurde hier die Durchbrechung des formalen, für jeden gleichen Rechts im Wege der Gnade als noch deutlichere Provokation wahrgenommen als auf der abseitigen Insel. Immanuel Kant (1724–1804), den wir lieber zitieren, wenn es um die Menschenwürde geht, formulierte etwa zur Gnade:
"Das Begnadigungsrecht (ius aggritiandi) für den Verbrecher, entweder der Milderung oder gänzlichen Erlassung der Strafe, ist wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch im hohen Grade unrecht zu thun."
Während es dem alten Ostpreußen Kant nicht schmeckte, dass die Härte der Strafe, in der sich der Unwert der Tat spiegeln sollte, in der Gnade ein Milderungsmittel fand, meinte der aufgeklärte italienische Beamte und Aufklärer Cesare Beccaria (1738–1794) in seinem berühmten Werk "Von Verbrechen und Strafen":
"Glücklich wäre das Volk, bey welchem man die Begnadigung mehr für etwas unheilsames, als lobenswürdiges ansehen müßte. Die Mildigkeit, welche zuweilen bey einem Regenten jene Eigenschaften ersetzen muß, welche ihm abgehen, die Pflichten des Thrones zu erfüllen, sollte aus einer vollkommenen Verfassung verbannet seyn; in einer solchen nehmlich, wo die Strafen, wie sie seyn müssen, milder und die peinlichen Gesetze untadelhafter wären."
2/2: Maximale Schlüpfrigkeit der Gnade
Auf Beccarias Maxime, wonach Gnade durch besseres Strafrecht abzulösen sei, wird noch zurückzukommen sein.
Für den deutschen Hausgebrauch hat hierzu, wie skizziert, das Bundesverfassungsgericht 1977 mit der "Verrechtlichung der Entlassungspraxis" bei der lebenslangen Freiheitsstrafe Wesentliches geleistet und zugleich auch die volkstümliche Rachefantasie zurückgedrängt, im "lebenslänglich" eine Art Ersatz-Todesstrafe zu sehen.
Der Umstand, dass die heutigen Gnadenherren, der Bundespräsident für den Bund, in der Fläche die "Staatsoberhäupter" der Länder, dank ihrer demokratischen Legitimation kaum noch darauf angewiesen sind, sich mit dem einst "göttlichen Vorrecht" der Gnadenwaltung in Szene zu sehen, tut – neben formalen Kleinigkeiten wie der Gegenzeichungspflicht des jeweiligen Aktes – ein Übriges, der Gnade im Rechtsstaat den alten Anschein der Ruchlosigkeit zu nehmen.
Ein großer Künstler in Sachen Schlüpfrigkeit ist bekanntlich Donald J. Trump (1947–). Dem US-Präsidenten steht aus Art. II Sec. 2 der US-Verfassung die Kompetenz zu, für die Strafgewalt des Bundes umfassend Gnade zu üben. Anders als nach der deutschen Doktrin ist ihm dies auch vor Rechtskraft erlaubt, ja sogar vor Beginn der Strafverfolgung, ohne Gegenzeichnungspflicht oder irgendeine wirklich relevante Beschränkung.
Kein Wunder, dass dieses cäsarisch-prächtige Begnadigungsrecht auch die Aufmerksamkeit des aktuellen Amtsinhabers mit der Frage erregte, ob er sich auch in eigenen Angelegenheiten selbst begnadigen könnte.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es war der 42. Präsident der USA, Bill Clinton (1946–), der dem Gnadenrecht so weit das Mieder gelockert hat, dass sich auch der 45. Amtsträger hierzu eingeladen fühlen darf: Am letzten Tag seiner Amtszeit begnadigte Clinton im Januar 2001 mindestens 140 Personen, darunter u.a. hochkarätige Betrüger, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Millionen-Spenden für die Clinton-Kampagnen geleistet hatten. Hillary Clintons Bruder Hugh Rodham (1950–) erhielt 400.000 Dollar Honorar vom Kokainhändler Carlos Vignali, der in den Genuss der Clinton'schen Gnade kam, so berichtete die ehrwürdige "Neue Juristische Wochenschrift" (2001, S. 1.185 f.)
Sollte Präsident Trump die Idee weiter verfolgen, sich durch die Begnadigung seiner selbst von etwaiger strafrechtlicher Schuld zu befreien, würde öffentlich wohl wieder fröhlich die "Gleichheit im Unrecht" diskutiert, während die seriöse Staatsrechtslehre die "zwei Körper des Königs" bemühen dürfte – der metaphysisch unsterbliche Leib des Präsidentenamts, der seiner sterblichen Verkörperung dient, sich nach Art des Barons Münchhausen selbst aus dem Sumpf zu ziehen.
Was sollen wir mit der Gnade überhaupt anfangen?
Im Grunde wäre es sehr schön, sollte Präsident Trump zur Selbstbegnadigung greifen. Dies gäbe Anlass, die Gnade als ein heuristisches Prinzip neu zu entdecken, also als ein Erkenntnismittel, das hilft, im rechtspraktischen und -politischen Denken einmal die Richtung zu wechseln.
In der alteuropäischen, frühmodernen Form war Gnade das Instrument des Herrschers von Gottes Gnaden, in die formalen Routinen des Justizapparats einzugreifen wie ein "deus ex machina" auf der Barockbühne. Im Gegensatz zur britischen Equity, die argumentativ begründete, warum sie in den gewöhnlichen Lauf der justiziellen Entscheidungen eingriff, gilt es bis heute als Wesensmerkmal der Gnade, sich nicht rechtfertigen zu müssen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.4.1969, Az. 2 BvR 552/63).
Horst Meier hat diesem begründungsfreien Weichmacher des inzwischen nachfeudalen Justizbetriebs noch im Jahr 2007 unter dem Titel "Gesetzloses Wunder. Vom Sinn der Gnade" eine freundliche Apologie gewidmet (Blätter für dt. und internationale Politik, 2007, S. 742–748).
Sollte dieses Wunder nun aber vom amerikanischen Bühnengott in eigener Sache bewirkt werden, könnte die Forderung der Zeit lauten: "Schafft das Gnadenrecht ab!" Und da hierzulande wohl niemand einem im Ergebnis "gnadenlosen" Staat das Wort reden möchte (von Leuten, die im DDR-Kinderhort zu früh aufs Töpfchen gezwungen wurden, einmal abgesehen), könnte die Anschlussfrage an Rechts- und Innenpolitiker künftig sein: "Was möchten Sie tun, dass die Einrichtungen der Strafrechtspflege – vom Ermittlungsverfahren über die wissenschaftliche Klugheit der Spruchkörper bis hin zum Strafvollzug und darüber hinaus zur arbeitsmarkt- und sozialtherapeutischen Betreuung von Straftätern ohne Rückgriff auf Gnadenerwägungen auskommt, sondern aus sich heraus fehlerfreundlich, human und menschenwürdig arbeitet?"
Zugegeben, die Frage ist länger als: "Was tun Sie für unsere Sicherheit?" Ihre Zielrichtung heißt, weniger Bosbach und mehr Beccaria wagen: Nicht nach Härte und symbolischer Gnadenkorrektur im Einzelfall rufen, sondern ein Recht entwickeln, das ohne Gnade auskommt.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Metaphysik: Zeit für die Abschaffung des Gnadenrechts . In: Legal Tribune Online, 20.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24035/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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