Deutsch-deutsche (Rechts-)Beziehungen im ersten ARD-Tatort: Ein "Taxi nach Leipzig"

von Martin Rath

29.11.2020

Am 29. November 1970 strahlte die ARD den ersten "Tatort" aus – zu einem deutsch-deutschen Tötungs- und Personenstandsdelikt. Im wahren Leben der Justiz warfen die Verhältnisse kaum weniger Probleme auf als in diesem Krimi.

Ob die rote Plastik-Schwarte mit der Aufschrift "Deutsche Gesetze" wohl irgendwann dazu genutzt wurde, Verdächtige bei Vernehmungen mit ihr zu verprügeln, weil gerade kein Telefonbuch zur Hand war?

Die Polizisten im ersten "Tatort" der ARD haben jedenfalls etwas von jener Sorte Gemütlichkeit an sich, hinter der sich oft eine gewisse Neigung zur Gewalt verbirgt – und sei es zumindest die gegen sich selbst gerichtete: Während der "Schönfelder" ins Szenenbild gerät, sitzt der Hamburger TV-Kommissar Paul Trimmel mit seinem Assistenten über einer halb gelehrten Flasche Schnaps und bespricht den famosen Plan, auf eigene Faust in Leipzig zu ermitteln, der Messemetropole der DDR.

Der Schauspieler Walter Richter (1905–1985), dessen ebenso faltige wie übergewichtige Körperpräsenz ein wenig an den alten Sowjetführer Leonid Breschnew erinnert und der ein Beispiel für viele früh verbrauchte Männer seiner Generation gibt, ging als erster "Tatort"-Kommissar voll in der Rolle des Gemütsmenschen und funktionalen Alkoholikers auf: Durch ein Fernschreiben des DDR-Generalstaatsanwalts an die Behörden im Westen wird Trimmel, ganz der geborene Kriminalist, zu Ermittlungen hinter Mauer und Stacheldraht angeregt – auch wenn das Dokument bei der Kriminalpolizei Hamburg als Sache aus der "Zone" zunächst auf seine Weisung hin im Papierkorb landet.

Nahe Leipzig war die Leiche eines Knaben entdeckt worden, dessen Schuhwerk aus dem Westen stammte. Wie Trimmel erstens durch gemütvolle psychologische Erkenntnis, zweitens dank überraschend schnell geständiger Verdächtiger ermitteln kann, handelt es sich um den Sohn eines ursprünglich in Hamburg, dann in Frankfurt am Main ansässigen Geschäftsmanns, der vor Jahren während der Leipziger Messe mit einer dort ortsansässigen jungen Dame einen annähernd gleichaltrigen Halbbruder gezeugt hatte.

Diese Frau, dargestellt von Renate Schroeter (1939–2017), ist inzwischen mit einem knackigen, aber eifersüchtigen Volkspolizisten liiert, der vom jungen Charakterkopf Peter Halbwachs (1938–) gegeben wird. Weil der westliche Halbbruder ihres Sohnes kurz davor steht, an einer Leukämie zu sterben, entschließt man sich, das halbtote West- gegen das lebendige Ostkind auszutauschen – die DDR-Grenzoffiziere schauen beim Verbringen ost- wie westwärts nicht so genau hin.

Beschränkter Amtsverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR

Die ruchlose Mutter aus dem sexuell aufgeschlossenen Milieu des DDR-Messebetriebs zu Leipzig ist geständig, kaum dass sie dem Beamten aus Hamburg anheischig wird. Zuvor wurde der frisch aus der DDR importierte Knabe dem Kommissar Trimmel in zwei dramaturgisch herrlich hirnrissigen Szenen vom Hausmädchen des Geschäftsmanns unter die Nase geschoben, damit der – das sächsische Idiom im Ohr – sich die schändlichen Vorgänge sogleich erschließen kann.

Nach 50 Jahren wirkt damit der erste ARD-"Tatort" zwar derart absurd, dass man sich ein Remake durch die Brüder Ethan und Joel Coen wünschte, die als Verantwortliche von Serien wie "Fargo" oder Filmen wie "Burn After Reading" die wahren Statthalter Kafkas auf Erden sind, doch spielte er auf einen durchaus seriösen Hintergrund an.

Die Entscheidung des Kammergerichts beispielsweise, dass ein von seinen leiblichen, bis dahin an ihm desinteressierten Eltern getrenntes Mädchen aus der Obhut der Behörden von Berlin (West) der inzwischen in Zittau lebenden Mutter auszuhändigen sei, hatte 1965 in Berlin (West) eine Woge des Rechtsungehorsams ausgelöst: Müllmänner drohten, die Sektorengrenze zu sperren – mit der Parole: "Angelika darf nicht ins KZ", also die DDR –, der Gerichtsvollzieher weinte und der nur bedingt zuständige CDU-Bundesminister Ernst Lemmer (1898–1970) erklärte, gegen das Kammergericht die UN-Menschenrechtskommission anrufen zu wollen. Der ebenfalls eingeschaltete Europarat sollte die Sache (Az. 2707/66) schließlich 1975 sang- und klanglos einstellen, nachdem die beteiligten Familien den Streit ums Kind offenbar unter sich geregelt hatten.

Die Empörung beruhte nicht zuletzt darauf, dass Zivilrechtsfragen im deutsch-deutschen Verhältnis prekär waren – selbst der erste "Tatort" vom 29. November 1970 sparte noch die Frage aus, wohin das verräterisch sächselnde Kind, nach seiner rechtswidrigen Verbringung von Leipzig nach Frankfurt/Main kommen sollte, nachdem sich seine biologischen Eltern als wenig brauchbar erwiesen hatten.

Während durch das "Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen" bereits 1953 geregelt worden war, dass eine "Zulieferung" von Menschen aus der Bundesrepublik, die im Osten Deutschlands strafrechtlich verfolgt wurden, nur erfolgen sollte, wenn die DDR-Behörden "im Einklang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen" arbeiteten und "nicht anzunehmen" war, dass dem "Betroffenen aus der Gewährung der Rechts- oder Amtshilfe erhebliche Nachteile erwachsen, die im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen stehen", hatte der Bundesgesetzgeber sich nicht klar geäußert, wie mit zivilrechtlichen Angelegenheiten verfahren werden sollte, die einen DDR-Bezug hatten.

Zum Beispiel: Ein Fall von (beinahe) richterlichem Ungehorsam gegen den BGH

Zwar hatte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 25. September 1951 (Az. IV ZR 110/51) angemerkt, dass in einer Ehesache ein Landgericht im Westen zuständig sein könne, wenn der letzte gemeinschaftliche Aufenthalt der Eheleute in der "russischen Besatzungszone" lag. Man traute den Ostrichtern im Zweifel also nicht über den Weg.

Fraglich war hier mit Blick auf die behörden- und justizorganisatorische Realität der eingerichteten und ausgeübten SED-Diktatur aber, ob die DDR noch weiter als "Inland" im Sinn von § 606 Zivilprozessordnung (ZPO) a.F. zu gelten hatte. Während der BGH dazu neigte, die Gerichte und Behörden der DDR nicht mehr als "inländische" zu betrachten, verweigerte sich dem beispielsweise die Kölner Justiz, aber auch das Bayerische Oberste Landesgericht (vgl. BGH, Beschl. v. 14.07.1956, Az. IV ZV 64/56).

So hatte das Oberlandesgericht Köln mit Urteil vom 28. Oktober 1954 die Zuständigkeit des Landgerichts Köln in einer Ehescheidungssache verneint, in der der letzte gemeinschaftliche Aufenthaltsort der Gatten in der "sowjetischen Besatzungszone" lag und nur ein Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Westen genommen hatte – zwar sei dem BGH zuzugestehen und am Beispiel der vorübergehenden Zugehörigkeit Österreichs zum "Großdeutschen Reich" erkennbar, dass der Begriff "Inland" in § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO a.F.  nicht mit dem Staatsgebiet identisch sein müsse, doch komme es für den Geltungsbereich der Zivilprozessordnung auf die mit den Reichsjustizgesetzen zum 1. Oktober 1879 hergestellte Rechtseinheit an, die von der DDR-Gesetzgebung hier noch nicht hinreichend zerstört worden sei.

Der BGH beharrte jedoch mit Urteil vom 11. April 1956 darauf, dass die DDR nicht als "Inland" im verfahrensrechtlichen Sinn gelten könne (Az. IV ZR 279/55).

Auf Mäßigung der DDR-Diktatur folgte relative Anerkennung

Nicht nur zur heiklen Frage der Jahre 1949 bis 1990, wie viel Anerkennung die SED-Diktatur in zivilrechtlichen Fragen verdiene, auch zum stets aktuellen Talkshow-Evergreen, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei – und falls ja, warum doch nicht – finden sich im "Tatort" wie in der Rechtsprechung interessante Hinweise.

Brief und Siegel darauf, dass jedenfalls die brutale stalinistische Epoche der DDR abgeschlossen war, scheint etwa der BGH mit einem Urteil vom 12. Juni 1985 zu geben: Ein in Berlin (West) ansässiger Mann hatte sich mit einer in Berlin (Ost) lebenden Frau verlobt und war nach deren Ausreiseantrag vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben worden. Seinem Führungsoffizier verriet er im Januar 1984, dass er bei einem Schrotthändler in Berlin (Ost) Deutsche Mark "schwarz" gegen DDR-Mark getauscht hatte.

Das Kammergericht verurteilte den Mann daraufhin nur wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, sprach ihn aber vom Vorwurf der falschen Verdächtigung (§ 241a StGB) zum Nachteil des Schrotthändlers frei, weil die DDR-Devisengesetze, nach denen sich dieser strafbar gemacht hatte, zwar nicht dem System der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik entsprächen, eine Devisenzwangswirtschaft jedoch auch im Rechtsstaat möglich sei. Der BGH bestätigte den Teilfreispruch und erklärte zudem, es "dahinstehen" lassen zu können, ob den DDR-Strafverfolgungsbehörden auch Rechtshilfe zur Ahndung von Straftaten gegen die DDR-Volkswirtschaft geleistet werden könne. Das Kammergericht hatte das bereits bejaht (BGH, Urt. 12.06.1985, Az. 3 StR 133/85).

Im ersten "Tatort" vom 29. November 1970 werden Zweifel daran, was an der DDR 'Rechtsstaat' sein mochte, noch pragmatischer überspielt: Während über die bürgerlich kluge Frage eines Verdächtigen, wie der Hamburger Beamte dazu komme, auf eigene Faust in der "Zone" zu ermitteln, ebenso nonchalant hinweggegangen wird, wie über jede andere rechtlich relevante Frage, findet Kommissar Trimmel  in seiner paralegalen Arbeit Unterstützung von einem leitenden Beamten des Ministeriums für Staatssicherheit, den er noch als Kollegen vom Reichskriminalpolizeiamt her kennt. Abgewickelt wird dies unter den zwei Gemütsmenschen und Instinktpolizisten fernmündlich beim Biertrinken. Keinen Gedanken verschwendet der "Tatort" daran, dass diese Behörde einst vom schillernden NS-Verbrecher Arthur Nebe (1894–1945) geleitet wurde.

Wer je im Besitz der roten Kunststoff-Schwarte war, wird heute wie vor 50 Jahren Gründe finden, die "Tatort"-Drehbuchschreiber mit ihr zu züchtigen – nur im übertragenen Sinn, natürlich.

Tipp: In der ARD-Mediathek ist "Taxi nach Leipzig" (1970) bis zum 26.12.2020 verfügbar.*

*Anm.: Hinzugefügt am 30.11.2020, 9.48 Uhr. In einer ersten Version hatte es versehentlich geheißen, die Folge sei nicht in der Mediathek enthalten.

Zitiervorschlag

Deutsch-deutsche (Rechts-)Beziehungen im ersten ARD-Tatort: Ein "Taxi nach Leipzig" . In: Legal Tribune Online, 29.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43570/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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