Die juristische Presseschau vom 26. Mai 2023: Debatte um Letzte Gene­ra­tion / BVerwG gegen Aus­lands­aus­wei­sungen / Cum-Ex-Anwalt vor Gericht

26.05.2023

AG München sah bei der Letzten Generation erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. BVerwG hält Ausweisung von im Ausland befindlichen Ausländern für unmöglich. Cum-Ex-Prozess gegen Ex-Freshfields-Anwalt beginnt am 9. September.

Thema des Tages

AG München – "Letzte Generation" als kriminelle Vereinigung: LTO (Markus Sehl) liegt der Beschluss des Amtsgerichts München vor, in dem die Durchsuchung von bundesweit 15 Wohnungen angeordnet und ausführlich begründet wird, warum die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung gem. § 129 StGB einzustufen ist. Dabei begründet das AG auch, warum das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal einer "erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit" erfüllt ist. Es wird auf den konspirative Charakter sowie die professionell organisierte, aber lose Struktur der Gruppe hingewiesen. Über zwei Seiten werden bereits begangene Straftaten der Letzten Generation aufgelistet. Auch die Finanzstruktur der Gruppe dient als Argument. Seit Anfang 2022 habe die Letzte Generation über 1,4 Millionen Euro an Spendengeldern generiert. 

Die SZ (Ronen Steinke) erklärt, was nach den Durchsuchungen auf die Klimaschützer:innen der Letzten Generation zukommt. Die Gruppe sei noch nicht als kriminell eingestuft, es liege lediglich ein Anfangsverdacht gegen sie vor und die Ermittlungen richteten sich nur gegen Teile der Organisation. Die Anwälte der Gruppe hätten bereits Beschwerde gegen die Durchsuchung eingelegt. Sollte eine noch zu erhebende Anklage tatsächlich zugelassen werden, ist mit einer Verhandlung vor dem Landgericht München I frühestens in einigen Monaten zu rechnen. Auf dem Verfassungsblog bejaht Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz sowohl die Strafbarkeit der Letzten Generation als auch die Verfassungskonformität von § 129 StGB. Er betont dabei, dass das Strafrecht keine Privilegierung von Straftaten mit politischen Zielen vorsehe. vorwärts.de (Christian Rath) widmet sich der Geschichte von § 129 StGB und stellt heraus, dass die Norm historisch kein Anti-Mafia-Paragraf war, sondern regelmäßig gegen politische Gruppierungen, etwa die verbotene KPD, zum Einsatz kam. LTO fasst eine Diskussion zwischen Rechtsprofessor Matthias Jahn und Ex-Bundesrichter Thomas Fischer in der Sendung ZDF heute live  zusammen. Jahn hielt die Durchsuchungen für unverhältnismäßig, § 129 StGB sei nicht erfüllt, da durch die Klebeaktionen das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nicht bedroht sei. Fischer hingegen argumentierte, dass der Tatbestand von § 129 StGB wohl erfüllt sei, da dieser gerade nicht auf mafiöse Strukturen beschränkt sei, sondern lediglich darauf abziele, ob systematisch Straftaten mit zwei Jahren Mindesthöchststrafe begangen werden. 

AG Berlin-Tiergarten – Klimaproteste: Vor dem Amtsgericht Tiergarten wurde der Fall des Aktivisten der Letzten Generation Wolfgang Metzeler-Kick verhandelt. Ihm wird Nötigung durch drei Straßenblockaden vorgeworfen. Gegen Metzeler-Kick laufen bundesweit etwa 80 Strafverfahren. Er wünscht sich mutige Richter:innen, die ihn wegen eines rechtfertigenden Notstandes freisprechen. Metzeler-Kick ist auch einer der Beschuldigten bei den laufenden Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft München wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet.

Rechtspolitik

Polizeibeauftragter: Ronen Steinke (SZ) meint, es sei eine gute Idee, dass die Ampelkoalition einen Polizeibeauftragten (Uli Grötsch, SPD) berufen will, der für mehr Kontrolle der Polizei von außen sorgen soll. Damit sei jedoch noch nicht das Grundproblem behoben, dass Ermittlungen gegen Polizist:innen von der Polizei selbst betrieben werden. Besser wäre es, bei Vorwürfen gegen die Polizei (wie in Großbritannien) separate Sonderermittler einzusetzen. 

Justiz

BVerwG zu Auslandsausweisung: Die Ausweisung eines noch nie in das Bundesgebiet eingereisten Ausländers (eine so genannte einreiseverhindernde Ausweisung bzw. Auslandsausweisung) ist nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes nicht möglich. Eine Ausweisung setzt den Aufenthalt des Ausländers in Deutschland voraus, entschied das Bundesverwaltungsgericht eine bisher von Rechtsprechung und Literatur nicht eindeutig geklärte Frage. Es genüge, dem Ausländer das Einreisevisum zu versagen. Der Jurastudent Markus Sade analysiert das Urteil auf LTO.

LG Frankfurt/M. – Cum-Ex/Freshfields: Ein ehemaliger Partner der Wirtschaftskanzlei Freshfields ist vor dem Landgericht Frankfurt wegen schwerer Steuerhinterziehung im Kontext der Cum-Ex-Geschäfte angeklagt. Die Hauptverhandlung soll am 9. September beginnen, es sind 28 Verhandlungstage angesetzt. Hbl (R. Bender u.a.) und LTO berichten. 

BVerfG – Pharma-Herstellerrabatte: Der Pharmakonzern Roche hat Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Finanzstabilisierungsgesetz eingereicht, wie spiegel.de schreibt. Dabei richtet sich der Konzern unter anderem gegen die Erhöhung der Herstellerrabatte in dem Gesetz und macht eine Verletzung der Berufsfreiheit sowie des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes geltend. Das Gesetz war zum Jahreswechsel in Kraft getreten, um ein Milliardenloch in den Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung zu stopfen. 

BGH - NS-Raubkunst: Der Bundesgerichtshof hat über die Klage des deutschen Kunstsammlers Wolfgang Peiffer verhandelt, der erreichen möchte, dass ein Kunstwerk, das er besitzt, aus dem Lost-Art-Register gestrichen wird. Diese Datenbank der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste dokumentiert Kulturgüter, die NS-Verfolgten zwischen 1933 und 1945 entzogen wurden. Das Oberlandesgericht Naumburg hatte in der Vorinstanz die Klage abgewiesen, da es durch die Eintragung weder eine Anmaßung der Eigentümerstellung noch eine sonstige Eigentumsbeeinträchtigung als gegeben ansah. Die Rechtsanwälte Peter Raue und Felix Stang schildern den Fall auf LTO und schließen sich der Einschätzung des OLG an. Sie fordern darüber hinaus einen von Deutschland finanzierten Fond, der in Härtefällen für gerechte Lösungen zwischen Privatbesitzer:innen und den Erb:innen der früheren Eigentümer:innen sorgen soll. 

BAG zu Fußball-Verträgen und Corona: Wenn der Vertrag eines Fußballprofis vorsieht, dass er nur verlängert wird, wenn der Spieler eine Mindestzahl an Saison-Einsätzen erreicht, dann galt diese Klausel auch, als es wegen der Corona-Pandemie zu einem Saison-Abbruch kam. Das entschied nun das Bundesarbeitsgericht, wie LTO berichtet. Das BAG sah keinen Grund für eine ergänzende Vertragsauslegung oder eine Störung der Geschäftsgrundlage. Geklagt hatte ein Fußballspieler aus der Regionalliga Südwest.

OVG Niedersachsen zu Staatsangehörigkeit bei Vaterschaftsanfechtung: Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat entschieden, dass die durch Geburt erlangte deutsche Staatsangehörigkeit nicht entfällt, wenn die Vaterschaft des deutschen Vaters angefochten wurde. Es gebe hier keine Rechtsgrundlage für den Verlust der Staatsangehörigkeit. Der zugrundeliegende Fall drehte sich um ein 2019 geborenes Mädchen, dessen ausländische Mutter zur Zeit der Geburt mit einem Deutschen verheiratet war. Nach der Scheidung 2020 stellte das Familiengericht auf Antrag der Mutter fest, dass der Vater des Kindes nicht der geschiedene Ehemann, sondern ein ausländischer Staatsangehöriger war. LTO berichtet.

OLG Frankfurt/M. zu kranken Bäumen: Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat entschieden, dass die Stadt Frankfurt Bäume öfter als einmal jährlich untersuchen muss, wenn diese offensichtlich krank sind, wie LTO schreibt. Damit gab das Gericht einer Frau recht, deren Auto vom herabfallenden Ast eines kranken Baumes zerstört wurde, dessen äußeres Erscheinungsbild auf eine Krankheit hindeutete. Die Stadt muss ihr nun 6.500 Euro Schadensersatz zahlen.

LG Koblenz zu Schaden bei Umzug: Das Landgericht Koblenz hat entschieden, dass ein Mieter, der bei seinem Auszug aus der Wohnung die Innenverkleidung des Aufzugs zerkratzt hat, dem Eigentümer des Hauses den Reparaturaufwand in Höhe von 13.550 Euro ersetzen muss, wie LTO berichtet. Der Eigentümer habe einen Anspruch auf Naturalrestitution, also auf den Ersatz gleichwertiger Originalteile im Aufzug, auch sei kein Abzug "Neu für Alt" anzusetzen

VG Köln zu Machtmissbrauch an Uni: Das Verwaltungsgericht Köln hat laut spiegel.de den Eilantrag einer Professorin der Universität Köln abgelehnt, der von der Uni die Weisungsbefugnis gegenüber ihren 17 Doktorand:innen wegen Machtmissbrauchs entzogen worden war. Das Gericht bestätigte die Entscheidung der Uni weitgehend, es sei der Professorin aber weiterhin erlaubt, neue Promotionsvorhaben anzunehmen, bis über ihre Klage in der Hauptsache entschieden ist. Mehrere Wissenschaftler:innen hatten sich schon vor Jahren über die Professorin wegen beleidigendem und unangebrachtem Verhalten beschwert. 

AG Plön zu Sucharit Bhakdi: Joachim Müller-Jung (FAZ) hält die Entscheidung des Amtsgerichts Plön, Sucharit Bhakdi vom Vorwurf der zweifachen Volksverhetzung freizusprechen, für unerträglich. Damit werde einer Ikone der geschäftsmäßigen und boshaften Wahrheitsverdrehung gleichsam der Teppich ausgerollt. Das stört den Autor insbesondere im Vergleich mit dem harten Vorgehen der Ermittlungsbehörden gegen die Letzte Generation.

AG Dresden zu Entschädigung wegen U-Haft: Das Amtsgericht Dresden hat per Beschluss abgelehnt, dass einem 25-Jährigen Schadensersatz für eine zweimonatige Untersuchungshaft zusteht, obwohl das Verfahren gegen ihn eingestellt worden war. Gegen den Mann war wegen Brandstiftung auf dem Gelände von zwei Baufirmen in Bautzen ermittelt worden. Das Gericht argumentierte, der damals Beschuldigte habe den Verdacht durch linksextreme Twitter- und Facebook-Posts "grob fahrlässig" selbst auf sich gezogen. Der Mann will Rechtsmittel einlegen, weil er den Twitter-Account gar nicht betrieben habe. Die taz (Konrad Litschko) berichtet.

StA Kempten – Brand in Wohnhaus: Die SZ (Lena Kampf/Heike Kleffner) berichtet über Ermittlungen zum bereits über 30 Jahre zurückliegenden Brand in einem hauptsächlich von Menschen aus der Türkei bewohnten Wohnhaus in Kempten, bei dem ein fünfjähriges Kind ums Leben kam. Damals waren die Ermittlungen eingestellt worden, nachdem sie sich hauptsächlich gegen die Hausbewohnenden gerichtet hatten. 2020 wurde dann ein rechtsextremes Bekennerschreiben zu dem Brandanschlag öffentlich, das der Polizei auch schon zur Zeit der ersten Ermittlungen vorlag, aber nicht zu Nachforschungen in diese Richtung geführt hatte. Inzwischen wurden erneut die Ermittlungen eingestellt, auch weil Asservate und Beweise aus dem ersten Verfahren bereits nach 20 Jahren vernichtet wurden, da damals nur wegen schwerer Brandstiftung und nicht wie zuletzt wegen Mordes ermittelt worden war. 

Corona-Impfschäden vor Gericht: Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet über die vermehrt angestrengten Verfahren vor zahlreichen Landgerichten um Ansprüche auf Schadenersatz und Schmerzensgeld für vermutete Corona-Impfschäden gegen Impfstoffhersteller. Bislang gebe es zwei Kanzleien bundesweit, die in dem Feld medial besonders präsent sind und viele hundert Kläger:innen vertreten, von massenhaften Prozessen könne jedoch keine Rede sein. Je nach Schwere des Schadens verlangten die Betroffenen zwischen 30.000 Euro und einer Million Euro. Zu Gunsten der Klagenden können die Anwält:innen eine Kausalitätsvermutung aus dem Arzneimittelgesetz anführen, wonach schon angenommen wird, dass die Corona-Impfstoffe einen Gesundheitsschaden verursacht haben, wenn der Impfstoff geeignet war, einen entsprechenden Schaden zu verursachen und das beklagte Pharmaunternehmen nicht beweisen kann, dass ein anderer Umstand als die Impfung dem Schaden zugrunde liegt. 

Recht in der Welt

Russland – Kämpfer in Belgorod: LTO (Franziska Kring) sprach mit dem akademischen Mitarbeiter Simon Gauseweg über die völkerrechtliche Einstufung der "Legion Freiheit Russlands", die bei Belgorod russisches Gebiet eingenommen hat, und die russische "Anti-Terror-Operation" dagegen. Russland verwende in sich widersprüchliche Terminologien.

Sonstiges

Gendern: Auf FAZ-Einspruch widmet sich der Rechtsreferendar Karl Eduard Riesenhuber der Frage, ob und wie in juristischen Texten und Klausuren gegendert werden sollte. Eigentlich wolle er sich mit dem Thema Gendern nicht befassen müssen, es sei aber beim Verfassen von juristischen Texten unmöglich geworden, sich darüber keine Gedanken zu machen. In Gesetzen sei das Gendern nicht möglich, aber konkrete Personen sollten geschlechtsgerecht benannt werden, d.h. Frauen als Antragsstellerinnen nicht als Antragssteller. 

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/ls/chr

(Hinweis für Journalist:innen)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 26. Mai 2023: Debatte um Letzte Generation / BVerwG gegen Auslandsausweisungen / Cum-Ex-Anwalt vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 26.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51862/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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