Die juristische Presseschau vom 25. April 2023: Immer weniger Zivil­pro­zesse / § 184b StGB und EU-Recht / Springer ver­klagt Rei­chelt

25.04.2023

BMJ-Untersuchung analysierte den Rückgang der zivilrechtlichen Eingangszahlen. Rechtsprofessor Brodowski erklärt, warum Gerichte die Mindeststrafandrohung von § 184b ignorieren können. Springer fordert Millionen von Ex-"Bild"-Chef Reichelt.

Thema des Tages

Rückgang der Zivilverfahren: Laut einer vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen Studie gehen immer weniger Verfahren bei deutschen Zivilgerichten ein. So wurden in den Jahren 2005 bis 2019 an deutschen Landgerichten 21 Prozent und an den Amtsgerichten 36 Prozent weniger Verfahren verzeichnet. LTO (Markus Sehl/Antonetta Stephany) fasst die Ergebnisse des Forschungsberichts zusammen und erläutert die Gründe für diese Entwicklung. Neben hohen Kosten und einer langen Verfahrensdauer sei auch die mangelnde Spezialisierung der Gerichte verantwortlich für den Trend. Zudem seien die schlechte Digitalisierung und die Überlastung der Justiz mitursächlich für die sinkenden Eingangszahlen.

Rechtspolitik

Kinderpornografie: In der Diskussion um eine gesetzgeberische Entschärfung von § 184b StGB zeigt Rechtsprofessor Dominik Brodowski auf LTO, wie der Anwendungsvorrang des EU-Rechts Strafgerichten eine Möglichkeit gibt, von einer "unverhältnismäßig krassen" Freiheitsstrafe abzuweichen. Die Große Koalition hatte im Jahr 2021 bei Besitz und Verbreitung kinderpornografischer Inhalte eine ausnahmslose Hochstufung zum Verbrechen vorgenommen. Deutschland sei jedoch bei der Strafgesetzgebung im Bereich der Kinderpornografie an eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2011 gebunden, nach der eine Strafe zur Bekämpfung von Kinderpornografie "wirkungsvoll, abschreckend und verhältnismäßig" sein muss. Laut Brodowski dürften Gerichte, um dieser "Verhältnismäßigkeit zum Durchbruch" zu verhelfen, die in § 184b StGB enthaltene Mindeststrafe daher ignorieren und gegen "naive Täter" (z.B. Eltern und Lehrer:innen) eine niedrigere Strafe verhängen.

Ersatzfreiheitsstrafe: Die SZ (Ronen Steinke) portraitiert Arne Semsrott, der vor eineinhalb Jahren die Spendeninitiative "Freiheitsfonds" gründete, um Menschen aus der Ersatzfreiheitsstrafe zu "befreien", die wegen Schwarzfahrens verurteilt worden waren. Semsrott hat bereits 720 Geldstrafenschuldnern geholfen und dadurch 137,9 Jahre Gefängnis vermieden. Sein Handeln ist legal und er erhält sogar Anfragen von Gefängnisleitern, die um Hilfe bei der Befreiung ihrer Geldstrafenhäftlinge bitten. Dies zeige die "Absurdität" des rechtlichen Status quo in Deutschland. Beruflich leitet Semsrott die Rechercheplattform "Frag den Staat".

Hasskriminalität im Internet: Nun berichtet auch die taz (Svenja Bergt) über kritische Reaktionen zu dem von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorgestellten Eckpunktepapier für ein "Gesetz gegen digitale Gewalt". Die Kosten für Anträge auf Accountsperrung müssten reduziert werden, fordert die Organisation Hateaid. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte möchte Accountsperren auch bei Delikten wie Volksverhetzung einführen, die sich nicht gegen konkrete Personen richten. Der Chaos Computer Club und Patrick Breyer, Europaabgeordneter der Piratenpartei, kritisieren die geplanten Pflichten für Plattformen, IP-Adresse von Rechtsverletzern herauszugeben, und sehen darin eine Gefahr für Bürgerrechte und die informationelle Selbstbestimmung.

Berliner Justizsenatorin Badenberg: Laut FAZ (Markus Wehner) wird Felor Badenberg auf Vorschlag der CDU neue Berliner Justizsenatorin. LTO (Hasso Suliak) porträtiert die bisherige Vizepräsidentin des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und unterstreicht dabei ihr Engagement gegen Rechtsextremismus, einem Thema für das sie "brenne". Badenberg hatte trotz Widerstand aus dem Innenministerium die Einstufung der AfD als rechtsextremer Verdachtsfall vorangetrieben. Das Verwaltungsgericht Köln billigte im März 2022 diese Einstufung der AfD.

Justiz

ArbG Berlin - Julian Reichelt: Der Axel Springer-Verlag hat eine Klage beim Arbeitsgericht Berlin gegen Julian Reichelt eingereicht. Der ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung habe im Zusammenhang mit der Auflösung seines Arbeitsverhältnisses Pflichten aus dem Abwicklungsvertrag verletzt, indem er Vertraulichkeitsvereinbarungen missachtet, interne Daten nicht herausgegeben und ehemalige Mitarbeiter:innen für sein Unternehmen "Rome Medien GmbH" abgeworben habe. Es schreiben SZ (Laura Hertreiter), FAZ (Michael Hanfeld), LTO und spiegel.de.

BGH zu Dieselskandal/Abtretung von Schadensersatz: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die Klausel in einem Finanzierungsvertrag der Mercedes-Benz-Bank, die eine Abtretung "sämtlicher gegenwärtiger und zukünftiger" Schadensersatzforderungen gegen Mercedes an die Bank vorsieht, unwirksam ist. Die Klausel halte einer AGB-Inhaltskontrolle nicht Stand, denn sie benachteilige Verbraucher:innen unangemessen. Käufern von Dieselautos mit manipulierter Abgasreinigung ermöglicht die BGH-Entscheidung, dass sie doch noch Ansprüche aus unerlaubter Handlung gegen Mercedes geltend machen können. Es schreiben FAZ (Marcus Jung), LTO und spiegel.de.

BGH zu Maklerprovision und Widerruf: Der Bundesgerichtshof hat bereits Ende Dezember entschieden, dass die von der Makler-Tochter der Sparkassen an Kunden ausgereichten Widerrufsbelehrungen zum Maklervertrag fehlerhaft und ungültig sind, wie nun die SZ (Stephany Radomsky) berichtet. Es fehle an der gebotenen Klarheit, wenn in der verpflichtenden Widerrufsbelehrung sowohl die Sparkasse als auch die Makler-Tochter als Adressatinnen für den Widerruf genannt werden. Die Kunden haben ab Vertragsschluss ein Jahr und 14 Tage Zeit, um die gezahlte Provision zurückzufordern, wenn sie den Vertrag außerhalb der Geschäftsräume der Makler-Tochter abgeschlossen haben. Dies gelte selbst dann, wenn tatsächlich eine Immobilie gekauft wurde.

VG Frankfurt/M. zu Roger Waters/Konzertabsage: Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat im Eilverfahren dem Musiker Roger Waters Zugang zur Festhalle in Frankfurt verschafft. Die Stadt Frankfurt durfte den Mietvertrag für das Konzert von Waters am 28. Mai nicht mit der Verweis auf antiisraelische Aktivitäten von Waters kündigen. Die Frankfurter Festhalle unterliege keiner Widmungsbeschränkung, auch wenn dort im Zuge des NS-Holocausts Juden festgehalten und misshandelt wurden. Zwar habe Waters im Rahmen seiner Bühnenshow eine an die nationalsozialistische Herrschaft angelehnte Symbolik (Schwein mit Davidstern) verwendet, was aber nur als "geschmacklos" zu werten sei und nach Auslegung der mehrdeutigen Äußerung keine strafbare Volksverhetzung darstelle. Eine Entziehung der Nutzung verletze den Musiker in seinem Grundrecht auf Kunstfreiheit, so das Gericht. LTO und spiegel.de berichten.

LG München I – "Badewannenmord": Nun berichtet auch die SZ (Hans Holzhaider) über den am Mittwoch beginnnenden erneuten Strafprozess vor dem Landgericht München I gegen den Hausmeister Manfred Genditzki, der 2010 im so genannten "Badewannenmordfall" zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die nach erfolgreichem Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben wurde. In einem separaten Überblick stellt die SZ (Hans Holzhaider) den chronologischen Verlauf des Falls dar. In einem weiteren separaten Text stellt die SZ (Hans Holzhaider) vier Straffälle vor, in denen ausnahmsweise Wiederaufnahmeverfahren Erfolg hatten. 

LG Aachen zu Jürgen Albers: Das Landgericht Aachen hat den früheren Reality-TV-Darsteller Jürgen Albers zu 14 Jahren Haft verurteilt, weil er Fahrzeuge und Kuriere für den Schmuggel von mehr als einer Tonne Kokain durch Europa bereitgestellt hat. Die Beweislage beruhte auf Telefonüberwachung, der Ortung von Handys und Autos sowie auf Observationen. Dies berichtet die SZ.

LG Stuttgart – Polizeiinspekteur Renner: Nun berichtet auch die FAZ (Rüdiger Soldt) über den Prozessbeginn vor dem Landgericht Stuttgart gegen den mittlerweile suspendierten Polizeiinspekteur Andreas Renner, dem die sexuelle Nötigung einer Polizistin vorgeworfen wird.

LG München I – Wortmarke "Brudi": Vor dem Landgericht München I muss sich der Rapper Aykut Anhan, alias Haftbefehl, dem Vorwurf einer Markenverletzung durch die Verwendung des Wortes "Brudi" als Tabakmarke stellen. Geklagt hatte Burak K., der Betreiber eines Shisha-Shops und Inhaber der Wortmarke "Brudi" für einen Shisha-Tabak ist. Haftbefehls Anwalt, Felix Gerlich, weist darauf hin, dass der Rapper das Wort durch seine Songtexte entscheidend mitgeprägt habe. K. habe sich die Wortmarke hingegen mit dem Ziel eintragen lassen, "die Fangemeinde von Haftbefehl" abgreifen zu können. Dies stelle einen missbräuchlichen Markenerwerb dar. Ein Urteil oder eine Einigung liegen noch nicht vor, berichtet die SZ (Susi Wimmer).

LG Regensburg – Parkhausmord: Der im Zusammenhang mit dem Parkhausmord in München zu lebenslanger Haft verurteilte Benedikt T. wurde dreieinhalb Wochen vor dem eigentlichen Entlassungstermin aus der JVA Straubing entlassen. Er habe sich Freistellungstage erarbeitet. Außerdem hätten Sachverständigengutachten zuvor seine Resozialisierungschancen beurteilt und ausgeschlossen, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, bestätigte das Landgericht Regensburg. Im September hatte T. seinen dritten Wiederaufnahmeantrag eingereicht, der noch von der Staatsanwaltschaft Augsburg geprüft wird. Der Parkhausmord gilt als einer der spektakulärsten Münchner Kriminalfälle. Nach 93 Verhandlungstagen war der heute 48-Jährige am 12. August 2008 nur aufgrund von Indizien verurteilt worden. Ihm wurde vorgeworfen, seine Tante aus Habgier erschlagen zu haben. Es berichtet die SZ (Joachim Mölter).

AG Erfurt zu Insolvenzverwalter von Rot-Weiß Erfurt.: Das Amtsgericht Erfurt hat den bisherigen Insolvenzverwalter des FC Rot-Weiß Erfurt e.V., Volker Reinhardt, wegen begangener Pflichtverletzungen abberufen. Neuer Insolvenzverwalter ist Olaf Spiekermann. Der Vorstand und die Gläubiger des Vereins drängen auf einen schnellen Insolvenzplan, um die Zukunft des Vereins zu sichern, da eine Beendigung der bisherigen Eigenverwaltung und eine Abwicklung des Vereins auch das Ende des Spielbetriebs bedeuten würden. Dies schreibt LTO.

E-Akte in Hamburg: Wie LTO berichtet, verläuft die Einführung der elektronischen Aktenführung an den Hamburger Gerichten schleppend. Besonders bei den Strafgerichten sei eine Umstellung wegen der vielen Beteiligten und der besonderen Herausforderungen bei der Verwaltung von Asservaten komplex. Um Erfahrungen zu sammeln und den Prozess der Digitalisierung voranzubringen, werde die Strafjustiz in diesem Jahr mit einer Pilotierungsphase beginnen. 

Recht in der Welt

Österreich – Sophie Karmasin: Vor dem Wiener Landgericht muss sich Sophie Karmasin, ehemalige Familienministerin und Mitglied der ÖVP, wegen Betruges und Veruntreuung verantworten. Sie soll Regierungsaufträge manipuliert und Einkünfte nicht angegeben haben. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft war infolge von Ermittlungen zur Ibiza-Affäre zu den Vorwürfen gegen Karmasin gelangt. Die FAZ (Stephan Löwenstein) berichtet.

Spanien – Umbettung von Faschistenführer: Die sterblichen Überreste des spanischen Faschistenführers José Antonio Primo de Rivera wurden auf den katholischen Friedhof San Isidro umgebettet, nachdem das "Gesetz zum demokratischen Erinnern" die Umbettung von Vertretern der Franco-Diktatur an herausragenden Orten anordnete. Zuvor ruhte Primo de Rivera im "Tal der Gefallenen", einer Gedenkstätte für den spanischen Bürgerkrieg. Die Umbettungen wurden als Beendigung einer "historischen Anomalie" und als Schritt zur Umwandlung des religiösen Ortes in eine zivile Einrichtung begrüßt. Es berichtet die taz (Reiner Wandler).

Sonstiges

Lieferketten und Menschenrechte: Nach Ansicht verschiedener Menschenrechtsorganisationen verstoßen Unternehmen, die den sogenannten "Bangladesch Accord" zur Verbesserung der Arbeits- und Gebäudesicherheit in der Textilindustrie Bangladeschs nicht unterzeichnen, gegen das am 1. Januar 2023 in Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Der Accord sei eine geeignete Präventivmaßnahme, um Risiken zu begrenzen und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Die Organisationen haben eine Beschwerde beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) eingereicht, um zu diskutieren, was geeignete Präventionsmaßnahmen im Sinne des Gesetzes sein könnten. Anlass war eine im März von der Gewerkschaft National Garment Workers Federation (NGWF) durchgeführte Untersuchung in Bangladesch, die erhebliche Sicherheitsmängel aufdeckte. FAZ (Marcus Jung) und taz (Leila van Rinsum) berichten und erinnern an das am 24. April vor zehn Jahren eingestürzte Fabrikgebäude Rana Plaza in Dhaka.

NSU-Akte: Wie LTO und spiegel.de berichten, ist eine Akte aus dem NSU-Ermittlungskomplex unauffindbar. Eine Sammlung von 50 bis 70 Akten wurden Mitte Juli vom Landesarchiv zur Verwahrung ausgewählt und per Justizboten nach Greifswald geschickt, darunter auch die NSU-Akte. Es ist jedoch unklar, ob das Schriftstück jemals dort ankam. Ein Empfangsbescheid fehlt. Ermittlungen wegen Diebstahls laufen seit Ende 2022, nachdem Fotos der Akte auf der Plattform "Antifaschistisches Informationsblatt" aufgetaucht waren.

Das Letzte zum Schluss

Kein guter Fang: Wie spiegel.de berichtet, haben Diebe 80 Goldfische aus einem Gartenteich in Oberbayern gestohlen. Nach drei Tagen packte sie jedoch scheinbar das schlechte Gewissen und sie brachten die Fische im Wert von 250 Euro zurück. Die Polizei ermittelt dennoch wegen Diebstahl und Hausfriedensbruch.

 

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LTO/ok/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 25. April 2023: Immer weniger Zivilprozesse / § 184b StGB und EU-Recht / Springer verklagt Reichelt . In: Legal Tribune Online, 25.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51620/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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