Die juristische Presseschau vom 31. Dezember 2020: BVerfG zu Aus­lie­fe­rungen nach Rumä­nien / Frei­heits­rechte vs. Corona-Beschrän­kungen / BVerfG und Flei­sch­in­du­s­trie

31.12.2020

Das BVerfG hat Gerichte bei Auslieferungen zu strengerer Prüfung der Haftbedingungen im Zielland verpflichtet. Wie werden Freiheit und Sicherheit in Zeiten von Corona ausbalanciert? Das BVerfG lehnte Eilanträge zur Fleischindustrie ab.

Thema des Tages

BVerfG zu Auslieferung nach Rumänien: Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassungsbeschwerde zweier Männer stattgegeben, die aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Rumänien ausgeliefert werden sollten, wo ihnen jedoch durch die dortigen Haftbedingungen eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (Verbot unmenschlicher Behandlung) drohe. Zwischen EU-Staaten gelte zwar grundsätzlich das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens. Gerichte müssten aber prüfen, ob die Menschenwürde in den Gefängnissen des Ziellandes gewahrt werde. Dabei müsse bei Auslieferungen ins Ausland zuerst die allgemeine Haftsituation in Bezug auf systematische oder allgemeine Mängel und in einem zweiten Schritt die Situation in Bezug auf den konkreten Betroffenen geprüft werden. Das erfordere eine Prüfung der Situation auch in Gefängnissen, in die die Betroffenen "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" verlegt werden. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath) und LTO.

Rechtspolitik

Freiheit und Corona: Stefan Ulrich (SZ) widmet sich im Leitartikel den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Freiheit in Deutschland. Er verweist dabei auf die Feststellung des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble, dass der höchste Wert des Grundgesetzes nicht das Leben, sondern die Menschenwürde sei. Es müsse daher im Verlauf der Krise immer wieder gefragt werden: “Wie viel Freiheit wie vieler Menschen soll wie lange geopfert werden, um Leben und Gesundheit wie vieler Menschen wie stark zu schützen?“. Mit Hilfe dieser Frage könne die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit immer wieder neu bewertet werden. 

Zudem interviewt die SZ (Thomas Balbierer/Wolfgang Janisch) den Rechtsprofessor Christoph Möllers zu den wegen der Corona-Pandemie im Jahr 2020 ergangenen Freiheitsbeschränkungen. Möllers hält moralische Appelle für nicht sonderlich effektiv und plädiert dafür, dass Illegalität eindeutig bezeichnet wird. Außerdem werden auch die „Querdenker“-Demonstrationen, mehr Freiheit durch Impfungen, die Triage und die Konsequenzen aus der Pandemie angesprochen.

Rechtsstaat und Corona: Der Rechtsstaat habe sich auch in der Corona-Krise bewährt, findet Reinhard Müller (FAZ). Er beleuchtet die Reaktion des Rechtsstaates auf die von der Corona-Pandemie ausgelöste Krise und geht dabei unter anderem ein auf Freiheitsbeschränkungen, Gewaltenteilung, Proteste gegen Corona-Maßnahmen, Triage und Meinungsfreiheit. Er erinnert daran, dass Grundrechte keine Gnadenakte seien, sondern jedem Bürger zustünden.

Liberale Demokratien: In einem Gastbeitrag für die FAZ analysiert der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio die Lage liberaler Demokratien vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und dem Klimanotstand. Er stellt fest, dass Europa nun “technologische Innovationen, Freisetzung persönlicher Initiative und Leistungsbereitschaft, eine faire Wettbewerbs und Sozialordnung, eine modernisierte Infrastruktur“ und “eine mit operativen Fähigkeiten wesentlich besser ausgestattete Verteidigung“ brauche. 

Corona - Impfung: Auch tagesschau.de (Michael-Matthias Nordhardt/Christoph Kehlbach) beschäftigt sich nun mit der Frage , ob Covid-Geimpfte Privilegien bekommen sollten. Die Autoren widmen sich der rechtlichen Ausgangslage, entsprechenden Vorschlägen der Politik, daran geübter Kritik und deren Konsequenzen. spiegel.de zitiert den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, der sich dagegen ausspricht, Beschränkungen aufgrund der Coronapandemie auch nach einer Impfung aufrechtzuerhalten. Sobald gesichert sei, dass von Geimpften keine Ansteckungsgefahr mehr ausgehe, gäbe es keine verfassungsrechtliche Legitimation, die Grundrechte der Betroffenen weiter zu beschränken. 

Jost Müller-Neuhoff (Tsp) weist darauf hin, dass ein Diskriminierungsverbot zwar grundsätzlich für staatliche Organisationen, in der Regel aber nicht für Private gelte. Er argumentiert, dass es nicht neue Gesetze seien, die helfen, Ungewissheit auszuhalten. Hilfreich sei lediglich Geduld. 

Corona-Beschränkungen zu Silvester: Die FAZ (Markus Wehner) stellt die vielseitigen Verbote vor, die zu Silvester eine weitere Ausbreitung der Corona-Pandemie verhindern sollen und die auf Bundes- oder Landesebene erlassen und teilweise von Gerichten bestätigt wurden. Verboten sind insbesondere der Verkauf von Pyrotechnik, Raketen und Silvesterknallern, der Ausschank und das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit sowie Versammlungen und Ansammlungen. 

EU-Rechtsstaatlichkeit: Auf dem Verfassungsblog bewerten Aleksejs Dimitrovs (Rechtsberater im Europäischen Parlament) und Hubertus Droste (Verwaltungsbeamter im Bundesfinanzministerium) - in englischer Sprache - den am 01. Januar 2021 in Kraft tretenden Rechtsstaatsmechanismus der EU, an dessen Aushandlung sie beteiligt waren als "Kompromiss, der alle Seiten unglücklich macht".

EU-Investitionsabkommen mit China: EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und chinesische Staatsmedien haben den Abschluss der Verhandlungen eines Investitionsabkommen zwischen der EU und China verkündet, wie SZ (Michael Bauchmüller u.a.), taz (Eric Bonse), Hbl (Nicole Bastian u. a.) und LTO schreiben. Durch das Abkommen sollen europäische Unternehmen besseren Marktzugang in China bekommen, die Wettbewerbsbedingungen sollen fairer werden und neue Geschäftsmöglichkeiten sollen entstehen. Der Durchbruch der Verhandlungen sei nun nach sieben Jahren erfolgt, da China sich zur Ratifizierung zweier Konventionen der internationalen Arbeitsorganisation gegen Zwangsarbeit bekannt hat. Es werden nun Verhandlungen über den genauen rechtlichen Text des Abkommens folgen. 

Finn Mayer-Kuckuk (taz) warnt davor, dass China nicht mehr ein nur auf die Wirtschaft fixiertes Schwellenland sei. Das Land sei vielmehr zu einer Großmacht geworden, die einen Keil zwischen die USA und die EU treiben wolle, und noch dazu eine sich stetig verschlechternde Menschenrechtssituation aufweise.

Brexit-Handelspakt: Wie SZ (Alexander Mühlauer), FAZ (Jochen Buchsteiner), taz (Daniel Zylbersztajn-Lewandowski) berichten, hat das britische Unterhaus mit klarer Mehrheit für den Brexit-Handelspakt gestimmt. Bei dieser Gelegenheit kommentierten unter anderem der aktuelle Premierminister Boris Johnson und die ehemalige Premierministerin Theresa May das erreichte Abkommen. Kritische Stimmen befürchten unter anderem, dass der verhandelte Text nicht genügend Rechte und Schutz für den britischen Finanzsektor beinhalte, welcher 80 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung ausmacht. 

Björn Finke (SZ) weist darauf hin, dass die Briten wohl in wenigen Jahren schon Nachverhandlungen des Abkommens fordern werden, da es sich für sie als unvorteilhaft herausstellen wird. Er prophezeit, dass Großbritannien mit dem Handelsvertrag nicht glücklich werden und die EU keine Ruhe finden wird.  

Lieferketten und Menschenrechte: Am Beispiel eines Tagebaus in Peru veranschaulicht das Hbl (Alexander Busch) die Konsequenzen, die ein deutsches Lieferkettengesetz sowohl in Deutschland als auch weltweit haben könnte. 

Verbandsklagerecht: Das Hbl (Dietmar Neuerer) nimmt verschiedene Klagen gegen die im Bau befindliche Tesla-Fabrik in Brandenburg zum Anlass, um das Für und Wider von Verbandsklagen im Umweltrecht zu beleuchten. Auch das Instrument der Einwendungen in Genehmigungsverfahren wird von verschiedenen Seiten bewertet. 

Verkehrswende: Die Richterin Almut Neumann befasst sich auf LTO mit der Frage, wie eine nachhaltige Verkehrswende rechtlich gestaltet werden kann. Das Hauptproblem bei Regelungen auf Grundlage der Straßenverkehrsordnung (StVO) sieht sie darin, dass laut StVO bestimmte Verkehrsarten lediglich zur Abwehr von konkreten Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränkt werden dürften (vgl. § 45 Absatz 1 Satz 1 StVO). Die Autorin schlägt daher vor, zur Regelung der Verkehrswende nicht erst beim “Wie“ sondern schon beim “Ob“ der Straßennutzung, und damit beim Straßenrecht anzusetzen. So könnte sich eine “Umwidmung von Straßen lediglich für Fußgänger:innen und Fahrradfahrer:innen sowie für den öffentlichen Personennahverkehr“ realisieren lassen, da dafür gerade keine konkrete Gefahr für die Verkehrssicherheit gegeben sein müsste. 

Mietendeckel Berlin: Das Hbl (Heike Anger u. a.) stellt ausführlich die bis jetzt ersichtlichen Auswirkungen des Berliner Mietendeckels dar und widmet sich der von verschiedenen Seiten geäußerten Kritik an der neuartigen Regelung. 

Gesetzgebung für 2021: In einem ganzseitigen Beitrag skizziert die FAZ (Corinna Budras/Marcus Jung) neue Regelungen, die Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2021 kennen sollten. Die Regelungen beschäftigen sich mit der Corona-Pandemie, Klimaschutz, Steuern und Zuschüssen, Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie Verkehr. Es werden beispielsweise die fast vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags, die Grundrente und steigende Heizkosten angesprochen. Auch das Hbl (Frank Drost) beleuchtet, welche Gesetzesänderungen 2021 auf Verbraucherinnen und Verbraucher zukommen und erwähnt dabei unter anderem den Mindestlohn, Regelungen zum Homeoffice und die Mehrwertsteuer. 

Corinna Budras (FAZ) skizziert kurz die große Betriebsamkeit des Gesetzgebers während der Corona-Pandemie, die das letzte Jahr geprägt hat. Zum Ende des Jahres hin scheine diese jedoch in Panik umgeschlagen zu sein. Sie plädiert daher dafür, dass in Krisenzeiten der Verzicht auf ein Gesetz oft besser sei als ein schlechtes Gesetz.

Justiz

BVerfG zu Arbeitsschutz in der Fleischindustrie: Laut SZ hat das Bundesverfassungsgericht -noch ohne Begründung - mehrere Eilanträge gegen das neue Gesetz für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie abgewiesen. Das Gesetz kann daher wie geplant im neuen Jahr in Kraft treten. Das Gesetz war als Reaktion auf die vielen Corona-Fälle in Schlachthöfen kurz vor Weihnachten von Bundestag und Bundesrat beschlossen worden und soll vor allem Ausbeutung und riskante Arbeitsbedingungen in deutschen Schlachthöfen verhindern. 

BAG 2020: LTO (Tanja Podolski) stellt die 7 wichtigsten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 2020 vor. So hat das Gericht über den Arbeitnehmerstatus von Crowdworkerinnen und Crowdworkern, die Anwendbarkeit des Entgelttransparenzgesetzes auf arbeitnehmerähnliche Beschäftigte, das pauschale Kopftuch-Verbot in Berliner Schulen, Fahrzeiten im Außendienst, Entgeltlisten für den Betriebsrat, einen Auskunftsanspruch zu Vermittlungsversuchen und einen Sportlehrer an einer Mädchenschule entschieden. 

OLG Koblenz – Folter in Syrien: Die taz (Sabine am Orde) berichtet über den Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz gegen zwei mutmaßliche Folter-Verantwortliche des Assad-Regimes, bei dem bereits etwa 20 Opfer, Sachverständige und Zeugen aus dem System selbst ausgesagt haben. Der Prozess ist bis Mai 2021 terminiert, könnte aber noch deutlich länger dauern. Bald könnte es außerdem zu einem zweiten ähnlichen Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. gegen einen syrischen Gefängnisarzt kommen. Eine Verfolgung der Verbrechen des Assad-Regimes durch den Internationalen Strafgerichtshof werde von Russland und China durch ein Veto im UN-Sicherheitsrat blockiert. In der Aufarbeitung dieser Verbrechen auf nationaler Ebene habe Deutschland nun eine Vorreiterrolle übernommen. Dies sei möglich, da seit 2002 im deutschen Völkerstrafgesetzbuch das Weltrechtsprinzip verankert ist.

VG Berlin zu Demonstrationen am Jahreswechsel: Laut FAZ (Swaantje Marten) hat das Verwaltungsgericht Berlin das Demonstrationsverbot des Berliner Senats an Silvester und Neujahr bestätigt, da das Verbot insbesondere den legitimen Zwecken diene, das Leben und die Gesundheit der Bürger sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu schützen. Die Antragstellerin wollte eine Demonstration der “Queerdenken“-Bewegung am 31. Dezember anmelden. 

Vergleiche im VW-Dieselskandal: Wie LTO berichtet, hat der VW-Konzern zum Jahreswechsel die Schadensersatzzahlungen an knapp die Hälfte der 55.000 einzelnen Klägerinnen und Kläger im Dieselskandal geleistet. 30.000 Klagen seien damit noch nicht abschließend beigelegt, bei gut 15.000 Klagen lägen jedoch bereits Vergleichsangebote vor. Des Weiteren wird auf die Musterfeststellungsklage unter der Regie des Verbraucherzentrale Bundesverbands, die vom BGH angenommen Verjährung für Klagen nach 2018 und möglicherweise betrügerische Klägerinnen und Kläger eingegangen.

Fahndung nach Rechtsextremisten: Wie die SZ meldet, bestanden Ende September 2020 Haftbefehle gegen 475 Personen, die dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden. 2014 lag die Zahl noch bei 253. Nach 125 Personen wird wegen Gewalttaten gefahndet, nach 109 wegen politisch motivierter Delikte wie Volksverhetzung und nach einer Person wegen eines Terroraktes. 

Recht in der Welt

Argentinien - Schwangerschaftsabbruch: In Argentinien hat der Senat für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts gestimmt, wie SZ (Christoph Gurk) und taz (Jürgen Vogt) schreiben. In Zukunft ist in dem Land ein sicherer und kostenloser Schwangerschaftsabbruch bis einschließlich der 14. Woche erlaubt. Ein späterer Abbruch ist zudem nach einer Vergewaltigung erlaubt oder wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist.

Simone Schmollack (taz) hält die Entscheidung des argentinischen Senats für einen "Riesenerfolg für die feministische Bewegung" in Argentinien. Sie weist aber auch darauf hin, dass in Lateinamerika das Machtgefälle zwischen Frauen und Männern stark ausgeprägt ist. So sterbe in Argentinien noch immer alle 30 Stunden eine Frau aufgrund geschlechtsspezifischer Gewalt. Auch Christoph Gurk (SZ) hält das neue Gesetz für einen Verdienst der Zehntausenden jungen Frauen, die über Jahre hinweg für den legalen Schwangerschaftsabbruch gekämpft haben. 

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ls

(Hinweis für Journalisten)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 31. Dezember 2020: BVerfG zu Auslieferungen nach Rumänien / Freiheitsrechte vs. Corona-Beschränkungen / BVerfG und Fleischindustrie . In: Legal Tribune Online, 31.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43876/ (abgerufen am: 17.04.2024 )

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