Die juristische Presseschau vom 12. Januar 2022: BVerfG kippt Atom­trans­port-Verbot / Anhörung zu Lind­ners Nach­trags­haus­halt / Busch­mann gegen Wie­der­auf­nahme

12.01.2022

Bremen hat laut BVerfG keine Kompetenz für Atomtransport-Verbot in Bremer Häfen. Haushaltsausschuss hörte Expert:innen zum Konflikt um die Schuldenbremse an. Der Justizminister hat Bedenken gegen die StPO-Reform zur Wiederaufnahme.

Thema des Tages

BVerfG zu Bremer Atomtransport-Verbot: Das Bundesverfassungsgericht hat ein Bremer Landesgesetz von 2012 für verfassungswidrig und nichtig erklärt, das den Umschlag von Atombrennstoffen in Bremischen Häfen verbietet. Dem Land fehle die Gesetzgebungskompetenz, weil der Bund für das Atomrecht die ausschließliche Kompetenz habe. Das 2012 im Bremischen Hafenbetriebsgesetz normierte Verbot galt als symbolische Reaktion der Bremer Regierungsfraktionen SPD und Grüne auf die zeitweilige Debatte um eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke. Mit einer Mehrheit von 6:2 Stimmen blieb der Zweite Senat des BVerfG nun seiner Linie treu, Bundeskompetenzen im Zweifel zu schützen, wenn Länder über Umwege auf sie zugreifen wollen. Es berichten FAZ (Reinhard Bingener/Katja Gelinsky), taz (Christian Rath), Tsp (Jost Müller-Neuhof), LTO, spiegel.de und zeit.de.

Christian Rath (taz) geht davon aus, dass nun ähnliche landesgesetzgeberische Projekte (wie Rüstungsexportverbote für Häfen) auch vom Tisch sind. Wenn aber progressive Landesgesetze nun nicht mehr möglich seien, dann müssten eben progressive Bundesgesetze angestrebt werden. Katja Gelinsky (FAZ) empfiehlt den Beschluss als Lektüre für Kernkraftgegner. Es werde daran erinnert, dass die Kompetenzvorschrift zur Atomkraft nach herrschender Meinung auch eine "materiell-rechtliche Legitimation der Kernenergie" enthalte.  

Rechtspolitik

Nachtragshaushalt und Schuldenbremse: Der Haushaltsausschuss des Bundestags hat Sachverständige dazu befragt, ob der von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) initiierte zweite Nachtragshaushalt verfassungsmäßig ist. Die Bundesregierung will nicht genutzte Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Mrd. Euro an den Energie- und Klimafonds weiterleiten, was die CDU/CSU für unzulässig hält. Gestritten wird um die Auslegung von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 Grundgesetz (GG), der unter anderem bei einer "außergewöhnlichen Notsituation" eine Ausnahme zu der in den vorherigen Absätzen normierten Schuldenbremse gestattet. Vier Experten, darunter die Rechtsprofessoren Christoph Gröpl und Kyrill-Alexander Schwarz, sehen dieses Vorhaben nicht von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gedeckt und bemängeln eine fehlende sachliche und zeitliche Konnektivität der Ausgaben zum Klimaschutz mit der Corona-Kreditermächtigung. Sechs andere Expert:innen, darunter Rechtsprofessor Alexander Thiele, argumentieren hingegen, dass die Ausnahmeklausel auch auf die Beseitigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie anwendbar sei. Deshalb könnten auch staatliche Maßnahmen gegen einen Rückgang der Investitionen in Deutschland mit zusätzlichen Krediten und Kreditermächtigungen finanziert werden. LTO (Christian Rath) berichtet.

Wiederaufnahme: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) spricht sich dafür aus, die in der letzten Wahlperiode erlaubte Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren bei Mord und Kriegsverbrechen noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Diese Reform der Strafprozessordnung stelle ein "erhebliches Problem" dar. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte das Gesetz im Dezember nach langer Prüfung zwar unterzeichnet, aber empfohlen, "das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen". Es bestehen Bedenken hinsichtlich des in Art. 103 Abs. 3 GG normierten Verbots der Doppelbestrafung ("ne bis in idem"). Es berichten die SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert) und LTO.

Corona – Impfpflicht: Andreas Scheuer (CSU) forderte Kanzler Olaf Scholz (SPD) wegen einer möglichen Verzögerung der Entscheidung über eine Impfpflicht auf, die Vertrauensfrage zu stellen. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gab dagegen bekannt, dass die SPD Ende Januar einen konkreten Vorschlag für die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht vorlegen will und kündigte an: "Wir werden das im März abgeschlossen haben, ganz klar." Die Spitze der Union hat derweil klargestellt, keinen eigenen Gesetzesvorschlag für eine Impfpflicht vorlegen zu wollen. Aus Reihen der FDP kam der neue Vorschlag, die Impfpflicht zu staffeln und zunächst eine verpflichtende Impfaufklärung einzuführen, bevor beispielsweise Menschen ab 50 Jahren zur Impfung verpflichtet werden. Es berichten die FAZ (Eckart Lohse/Peter Carstens), SZ, Hbl (Jürgen Klöckner), zeit.de und spiegel.de.

focus.de (Matthias Hochstätter) bringt ein Für und Wider zur allgemeinen Impfpflicht und nennt als Kompromiss eine Impfpflicht nur für Ältere oder Vorerkrankte. Dies bezeichnet der Rechtsprofessor Josef Lindner im Interview mit der Welt (Luisa Hofmeier) als verfassungsrechtlich plausiblen Weg. Ohne Altersabstufungen habe man mehrere offene Flanken, wobei es nicht ausgeschlossen sei, dass "Karlsruhe das mit dem Argument einer Grundimmunisierung für alle akzeptiert."

Reinhard Müller (FAZ) kommentiert, dass die Regierung sich beeilen müsse, ein Gesetz zu entwickeln, das dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Ob es zur Anwendung komme, sei eine andere Frage. Im Vergleich zum Grundrechtseingriff, der von einer Wehrpflicht ausgehe, sei die Impflicht jedenfalls "ein Klacks."

Corona – 2G-Plus im Bundestag: Ab diesem Mittwoch gilt im Bundestag die 2G-Plus-Regel für den Zutritt zum Plenarsaal oder zu Ausschusssitzungen. Nur Geboosterte oder Genesene mit doppelter Impfung müssen sich nicht testen lassen. Außerdem müssen im Bundestag ab sofort FFP2-Masken getragen werden. Die AfD kündigte eine rechtliche Prüfung der Regelung und eine eventuelle Klage an. Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler sieht in der Regelung eine Verletzung der Abgeordnetenrechte aus Artikel 38 Grundgesetz und meint, die bisherige 3G-Regelung sei ausreichend. Rechtsprofessor Josef Lindner sieht das ähnlich und hält eine 3G-Plus-Regel für ausreichend. Es berichten die SZ (Markus Balser), Welt (Frederik Schindler), FAZ (Eckart Lohse), focus.de und spiegel.de.

Dokumentation der Hauptverhandlung: Beim Jahresauftakt des Deutschen Anwaltvereins (DAV) wurde unter anderem über das Vorhaben der Ampel-Koalition diskutiert, Hauptverhandlungen per Video aufzuzeichnen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte bereits einen Gesetzentwurf angekündigt. LTO berichtet.

Schwarzfahren: In der Diskussion um eine Abschaffung des Schwarzfahrens als Straftatbestand hat sich der Deutsche Anwaltsverein (DAV) für eine Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit ausgesprochen. Die Kosten für die Verfahren und Gefängnisstrafen seien im Verhältnis zu den erschlichenen Leistungen unverhältnismäßig hoch und es liege kein sozialschädliches Verhalten vor, das nach dem Ultima-Ratio-Gedanken des Strafrechts kriminalisiert werden müsse. spiegel.de berichtet.

Hasskriminalität im Internet: Das Bundeskriminalamt (BKA) rechnet wegen der Reform des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) mit rund 250.000 NetzDG-Meldungen und 150.000 Strafverfahren pro Jahr. Der Deutsche Richterbund hatte kürzlich ähnliche Zahlen veranschlagt. Der Start der Meldepflicht wurde dadurch verzögert, dass Facebook und Google hiergegen beim Verwaltungsgericht Köln Anträge auf einstweilige Anordnungen gestellt hatten. Es berichten spiegel.de und zeit.de

Whistleblowing: Die Rechtsanwält:innen Laura Feldner und Mario Merget schreiben auf LTO über die aktuelle Rechtslage zum Schutz von Whistleblowern. Sie gehen davon aus, dass sich die Schutzvorgaben der EU-Whistleblower-Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 17. Dezember 2021 schon jetzt auf das private Arbeitsverhältnis auswirken und Whistleblower schützen – auch wenn es keine unmittelbare Wirkung der Richtlinie im privaten Sektor gebe. Ohne nationale Regelungen seien die Arbeitsgerichte seit Ablauf der Umsetzungsfrist zu einer richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet. Der Habilitand Moritz von Rochow weist auf dem Verfassungsblog zudem darauf hin, dass Whistleblower seit dem 17. Dezember – wegen der fehlenden unmittelbaren Wirkung der Richtlinie gegenüber Privaten – unionsrechtliche Staatshaftungsansprüche gegen die Bundesrepublik geltend machen könnten.

Digitale Dienste: Nächste Woche wird das EU-Parlament über die Verordnung zum Digital Services Act (DSA) abstimmen, in der eine Reihe von Verpflichtungen für Anbieter digitaler Dienste wie Facebook und Twitter normiert sind. Die taz (Enno Schöningh) berichtet.

Elfenbeinhandel: Die EU-Kommission verbietet ab dem 19. Januar 2022 weitgehend den EU-internen Handel mit Elfenbein sowie seinen Import und Export. Die entsprechende Verordnung sieht nur seltene Ausnahmen vor, etwa für die Reparaturen antiker Artefakte. LTO berichtet.

Justiz

BGH zum Porsche-Mord: Nun berichtet auch spiegel.de, dass der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts München I im so genannten Porsche-Mord-Prozess aufgehoben hat. Der Angeklagte hatte seinem Opfer, dem er 8000 Euro schuldete, nach einem eskalierten Streit in dessen Sportwagen dreimal in den Kopf geschossen und war zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Im jetzt veröffentlichten Revisionsbeschluss vom 18. November stellte der BGH fest, dass der Täter nicht heimtückisch gehandelt habe. spiegel.de berichtet.

LG Karlsruhe zu YouTube-Löschung: Nach einer einstweiligen Verfügung des Landgerichts Karlsruhe muss YouTube den neurechten Blog "Achse des Guten" um den Publizisten Hendryk M. Broder wiederherstellen. Der Kanal mit 113.000 Abonnent:innen wurde von der Plattform im Dezember gelöscht, weil er binnen 90 Tagen dreimal gegen die Community-Standards verstoßen habe. spiegel.de (Patrick Beuth) berichtet.

LG Frankfurt – FIFA/WM 2006: Das Landgericht Frankfurt hat das Verfahren gegen den früheren Fifa-Generalsekretär Urs Linsi auf Antrag der Staatsanwaltschaft gegen Zahlung von 150.000 Euro zu Gunsten gemeinnütziger Einrichtungen eingestellt. Ihm wurde Beihilfe zur Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall im Zusammenhang mit der WM 2006 vorgeworfen. Die SZ (Johannes Aumüller) berichtet. 

StA Köln – Flutkatastrophe: Im Zusammenhang mit dem Abbruch einer Kiesgrube in Erftstadt bei Köln während der Flutkatastrophe im Juli 2021 hat die Polizei unter anderem die Räume eines Tagebaubetreibers durchsucht. Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt unter anderem wegen des Verdachts des fahrlässigen Herbeiführens einer Überschwemmung durch Unterlassen und der Baugefährdung. Es berichten die FAZ (Reiner Burger), SZ, Welt, zeit.de und spiegel.de.

StA Potsdam – Fünfkämpferin Schleu: Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat ihre Ermittlungen wegen Tierquälerei gegen Fünfkämpferin Annika Schleu und Bundestrainerin Kim Raisner eingestellt. Bei den Olympischen Spielen in Tokio hatte Schleu auf Zuruf Raisners auf ihr Pferd mit Schlägen eingewirkt. Die beiden müssen einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zahlen. Es berichten die SZ, taz, Welt und spiegel.de.

Recht in der Welt

Italien — Mailänder Silvesternacht: Auf dem Mailänder Domplatz kam es in der Silvesternacht zu diversen sexuellen Übergriffen gegen Frauen. Die Staatsanwaltschaft durchsuchte inzwischen Wohnungen von 18 Tatverdächtigen. Die 15- bis 21-jährigen Männer werden wegen sexueller Gewalt in einer Gruppe, Raub und schwerer Körperverletzung beschuldigt. Zehn von ihnen seien "Italiener zweiter oder dritter Generation" und acht Ausländer. Ähnlich wie bei der Kölner Silvesternacht 2015 hat sich aus den Vorfällen eine nationale Debatte entwickelt. Es berichten die SZ (Elisa Britzelmeier/Oliver Meiler), Welt (Virginia Kirst) und spiegel.de.

Elisa Britzelmeier (SZ) kommentiert, dass in Italien und Deutschland ein strukturelles Problem mit sexualisierter Gewalt durch Männer bestehe, was Feminist:innen zurecht ins Zentrum der Analyse stellten. Trotzdem müsse es möglich sein, "kritisch über sexistische Dynamiken in Männergruppen zu reden, und auch über den durchaus vorhandenen, aber eben nicht zwingenden Zusammenhang problematischer Frauenbilder und kultureller Prägung."

Südafrika — Parlament/Brand: Im Fall des Großbrands im südafrikanischen Parlament hat ein Gutachten festgestellt, dass der wegen Terrorismus Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie leidet. Die Staatsanwaltschaft forderte, ihn 30 Tage lang zur Beobachtung in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Es berichten die FAZ und spiegel.de.

Sonstiges

Europol und Datenschutz: Der EU-Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiórowski hat die Polizeibehörde Europol zur Löschung großer Datenbestände verpflichtet, die weder Verdächtigen noch Zeug:innen oder Informant:innen zugeordnet sind. Danach forderte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson eine rasche Änderung der Rechtslage zugunsten von Europol, weil Vollzugsbehörden "Instrumente, Ressourcen und Zeit" zur Datenanalyse benötigten. Der Datenschutzbeauftragte kann seine Anordnung nicht mittels Sanktionen gegen Europol durchsetzen. Es berichten die FAZ (Thomas Gutschker) und netzpolitik.org (Alexander Fanta).

Schutz von Journalist:innen: Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) hat Politik und Sicherheitsbehörden dazu aufgefordert, Journalist:innen besser zu schützen – insbesondere bei Corona-Demonstrationen. Häufig herrsche bei den Einsatzkräften rechtliche Unkenntnis darüber, was die Presse darf und was nicht. Es berichten die SZ (Ramona Dinauer), taz (Volkan Ağar) und zeit.de.

Das Letzte zum Schluss

Halbnackter Dieb: In der bayerischen Stadt Hof zeigten sich Polizisten kulant: Ein 29 Jahre alter Mann wurde beim Stehlen von Brot erwischt und beim Eintreffen der Beamten entdeckten diese, dass die Kleidung des Mannes noch Preisschilder aufwies und offensichtlich ebenfalls gestohlen war. Die Hose durfte er dann immerhin behalten, da er sonst halbnackt gewesen wäre. spiegel.de berichtet.


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lto/tr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 12. Januar 2022: BVerfG kippt Atomtransport-Verbot / Anhörung zu Lindners Nachtragshaushalt / Buschmann gegen Wiederaufnahme . In: Legal Tribune Online, 12.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47176/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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