Das Arbeitsrecht nach dem Brexit-Pakt: Den Bruch ver­hin­dert, doch die Tren­nung gestartet

Gastbeitrag von Annabelle Marceau und Dr. Alexander Willemsen und Dr. Wolfgang Kotzur

13.01.2021

Der No-Deal ist verhindert, doch der neue Handelspakt lässt viele Fragen offen. Annabelle Marceau, Alexander Willemsen und Wolfgang Kotzur zeigen, was das für das Arbeitsrecht im Allgemeinen und für Anwaltszulassungen im Speziellen bedeutet.

Ein “level playing field”, also ein ebenes Spielfeld, soll auch künftig die Grundlage des Handels zwischen der EU und Großbritannien sein. Um dies auch im Bereich des Arbeitsrechts zu gewährleisten, stellt das neue Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien bestimmte Grundsätze auf und regelt wichtige Einzelfragen.

So sieht das Abkommen grundsätzlich vor, dass Großbritannien das zum 31. Dezember 2020 geltende Niveau der Arbeitnehmerrechte nicht in einer Weise abschwächen oder reduzieren darf, die Handel oder Investitionen beeinträchtigt. Damit bleiben die Gesetze in der Form bestehen, wie sie aktuell sind – das heißt auf EU-Standard. Bei den grundlegenden Rechten am Arbeitsplatz, Gesundheits- und Sicherheitsstandards, fairen Arbeitsbedingungen, Beschäftigungsstandards, Informations- und Konsultationsrechten auf Unternehmensebene, bei Umstrukturierungen von Unternehmen und Betriebsübergängen dürfte es zunächst keine Abweichungen geben.

Das Abkommen hindert Großbritannien jedoch nicht daran, EU-Standards künftig zu unterlaufen: Dies ist nach dem Handelsabkommen ausdrücklich zulässig, sofern Handel und Investitionen nicht betroffen sind. Damit dürften Anpassungen etwa im Urlaubsrecht wohl zulässig sein, während beispielsweise einer vollständigen Liberalisierung des Arbeitszeitrechts Grenzen gesetzt wären: Durch solche Eingriffe würde das Gleichgewicht auf dem Europäischen bzw. Weltmarkt verschoben und könnte unter Umständen zu unzulässigen Handels- und Wettbewerbsvorteilen für Großbritannien führen.

Weicht Großbritannien vom EU-Standard ab, kann es teuer werden

Für künftige Rechtsakte sieht das Abkommen vor, dass die EU “angemessene Ausgleichsmaßnahmen” bis hin zu Strafzöllen ergreifen kann, wenn Großbritannien in Bezug auf die Arbeitsrechte in einer Weise von der EU abweicht, die sich wesentlich auf Handel oder Investitionen auswirkt – und zwar vorbehaltlich eines Schiedsgerichtsverfahrens. Jede angebliche Auswirkung auf Handel oder Investitionen “muss auf zuverlässigen Beweisen und nicht nur auf Vermutungen oder entfernten Möglichkeiten beruhen”.

Demnach ist Großbritannien zwar nicht verpflichtet, sein zukünftiges Arbeitsrecht streng an EU-Richtlinien oder EuGH-Entscheidungen anzupassen, um weiterhin zollfreien Handel betreiben zu können. Die EU könnte jedoch zu Ausgleichsmaßnahmen, notfalls eben auch zu Strafzöllen, greifen, wenn die britische Gesetzgebung zu einem spürbaren Vorteil für ihr Land im internationalen Handel führt. 

Die Krux: Dies setzt voraus, dass der behauptete Wettbewerbsvorteil tatsächlich nachweisbar ist. Damit sind langwierige Schiedsgerichtsverfahren vorgezeichnet, bevor es tatsächlich zu derartigen Sanktionen kommen kann.

Sind britische Arbeitsgerichte an die EuGH-Rechtsprechung gebunden?

A propos Gerichtsverfahren: Bereits nach dem EU Withdrawal Act 2018 (EUWA) ist klargestellt, dass britische Arbeitsgerichte zwar nicht mehr an die Urteile des Europäischen Gerichtshofes gebunden sind. Sie sollten diese aber, wenn nötig, berücksichtigen. 

Was das genau bedeutet, ist noch völlig unklar und wird die Gerichte in den kommenden Jahren sicherlich beschäftigen. Spannend wird diese Problematik insbesondere dann, wenn sich die britische Rechtsprechung dazu entscheidet, ein wichtiges EuGH-Urteil zu ignorieren. 

Auch hier wieder das Problem: Dass die EU die Abweichung der britischen Rechtsprechung von Leitsatzentscheidungen des EuGH etwa durch besagte Strafzölle sanktionieren kann, ist unwahrscheinlich. Denn hier wird es noch schwieriger, eine wesentliche Auswirkung auf den Handel nachzuweisen.

Wichtige offene EU-Arbeitsrechtsrichtlinien werden wohl noch umgesetzt

Die arbeitsrechtlich relevanten EU-Richtlinien, deren Umsetzungsfrist derzeit noch läuft, werden aller Voraussicht nach in britisches Recht umgesetzt. Die Richtlinien zum Schutz von Whistleblowern (2019/1937/EU), zu transparenten und vorhersehbaren Arbeitsbedingungen (2019/1152/EU) und zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige (2019/1158/EU) sind bereits teilweise in nationales Recht umgesetzt. Sie sollen bis zum Ende der jeweiligen Umsetzungsfristen – spätestens im Jahr 2022 – vollständig adaptiert werden. 

Sollte Großbritannien von diesen Vorhaben absehen und es hierdurch zu einer signifikanten Abweichung bei den Arbeitsrechten kommen, würden erneut die vorgenannten Mechanismen greifen, schlimmstenfalls also zu Strafzöllen führen.

Was kurzfristig für deutsche Arbeitnehmer in Großbritannien gilt

Für EU-Bürger gilt zukünftig, dass kurze Geschäftsreisen für die Dauer von bis zu sechs Monaten von Führungskräften, Freiberuflern sowie Arbeitnehmern, die zur Ausführung eines Auftrags in Großbritannien tätig sind, in den meisten Fällen kein Visum erforderlich sein wird. Dazu zählen Teilnahmen an Besprechungen, Konferenzen, Seminaren oder Vorstellungsgesprächen, Verhandlungen und Vertragsabschlüsse mit Geschäftspartnern oder Messebesuche. 

Zu berücksichtigen ist, dass spätestens ab dem 1. Oktober 2021 ein Personalausweis als Reisedokument nicht mehr bei der Einreise akzeptiert wird. Gültigkeit behalten hingegen die Regelungen zur A1-Bescheinigung, sodass diese weiterhin für Dienst- und Geschäftsreisen beantragt werden müssen. 

Langfristige berufliche Tätigkeiten, welche mit einem dauerhaften Aufenthalt jenseits des Ärmelkanals einhergehen, erfordern zukünftig die Bewerbung für den “settled status”. Ähnlich wie in Australien oder Kanada erfolgt die aufenthaltsrechtliche Bewertung dann über ein punktebasiertes Einwanderungssystem. Punkte gibt es dann zum Beispiel für die Berufsqualifikation des potenziellen Arbeitnehmers oder wenn schon ein Stellenangebot in Großbritannien vorliegt.

Als deutscher Anwalt in Großbritannien und umgekehrt – was jetzt?

Die Abschlüsse von Ärzten, Architekten, Rechtsanwälten, Ingenieuren und anderen Berufen werden mit dem neuen Handelspakt nicht mehr automatisch anerkannt. Diese Berufsträger müssen sich also um die nationale Anerkennung in dem Land bemühen, wo sie arbeiten wollen. Immerhin dürfen sie bis zu 90 Tage auf der anderen Seite des Ärmelkanals ohne Visum wohnen und arbeiten.

Für Anwälte im speziellen ändert sich daran nichts, obwohl das Handels- und Kooperationsabkommen den Bereich der Rechtsberatung ausdrücklich erwähnt: Angesichts der beträchtlichen Zugangsbeschränkungen, welchen britische Anwälte auf dem “Kontinent” und in der EU zugelassene Anwälte in Großbritannien nunmehr unterliegen, wird hier eher herausgearbeitet, was zukünftig nicht mehr erlaubt ist.

Britische Anwälte finden sich nunmehr in derselben Position wieder wie Anwälte aus Drittstaaten, wie z. B. den USA. Inwieweit sie in der EU noch zu britischem Recht beraten dürfen, hängt von den Regeln der einzelnen Mitgliedstaaten ab. In Deutschland etwa ist dies möglich, sofern sie in eine örtliche Rechtsanwaltskammer aufgenommen wurden. Im Gegensatz zu früher ist ihnen aber nunmehr die Beratung zu EU-Recht in der EU generell verboten, ebenso wie (üblicherweise) Beratung zu dem jeweiligen nationalen Recht des Mitgliedstaates.

EU-Anwälte dürfen in Großbritannien weiterhin zu ihrem jeweiligen nationalen Recht beraten, grundsätzlich auch ohne sich zu registrieren. Zudem dürfen sie wie Anwälte aus Drittstaaten grundsätzlich auch weiterhin zu englischem und walisischem, schottischem und nordirischem Recht beraten, sofern es sich nicht um bestimmte “reservierte” Aktivitäten handelt. 

Theoretisch könnten Anwälte alle diese Probleme umgehen, wenn sie sich auch eine Zulassung in Großbritannien bzw. im jeweiligen Wunschmitgliedstaat der EU besorgen. Doch auch das ist schwieriger geworden – und beinhaltet in vielen Fällen eine Rückkehr an die Universität für ein rechtswissenschaftliches Studium, was wenig praktikabel sein dürfte.

Die EU und Großbritannien werden wohl auseinanderdriften

Das Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU verhindert im Arbeitsrecht zwar den großen Bruch mit den Jahrzehnten der EU-Gesetzgebung. Dennoch dürften beide Parteien in den kommenden Jahren langsam auseinanderdriften, jedenfalls was die Gesetzgebung im Arbeitsrecht angeht. 

So bestehen bereits jetzt neue bürokratische Hürden beim Zugang zum britischen Arbeitsmarkt. Wie belastbar die ausgehandelten Konfliktlösungsmechanismen sind, wird sich erst dann zeigen: Macht Großbritannien Ernst und unterschreitet europäische Schutzniveaus erheblich, können die Betroffenheit von Handel und Investitionen sowie die Signifikanz der gesetzgeberischen Abweichungen wahrscheinlich nur in langwierigen Schiedsgerichtsverfahren festgestellt werden. Bis es wirklich zu Strafzöllen kommt, wird es also dauern.

Die Autoren sind Rechtsanwälte bei der Kanzlei Oppenhoff in Köln und Frankfurt. 

Zitiervorschlag

Das Arbeitsrecht nach dem Brexit-Pakt: Den Bruch verhindert, doch die Trennung gestartet . In: Legal Tribune Online, 13.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43982/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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