Pilotprojekt "Staatsanwältin vor Ort" in Berlin-Neukölln: "Bei über­wachten Tele­fo­naten fällt schon mal mein Name"

Interview von Dr. Markus Sehl

19.12.2018

Menschenhandel, spektakuläre Einbrüche, kriminelle Clans: Viele Spuren führen in den Berliner Stadtteil Neukölln. Vor einem Jahr starteten Strafverfolger hier ein neues Pilotprojekt. LTO sprach mit der zuständigen Oberstaatsanwältin.

Frau Leister, wir treffen uns heute am Sitz der Berliner Staatsanwaltschaft in Moabit, aber eigentlich sind Sie ja "Staatsanwältin vor Ort" in Neukölln?

Mit dem Pilotprojekt haben wir zusätzliche Aufgaben übernommen, es entbindet aber nicht von der regulären Arbeit im Dezernat bei der Organisierten Kriminalität. Ich bin unregelmäßig vor Ort im Stadtteil Neukölln.

Gibt es dort eine Außenstelle?

Am Amtsgericht gibt es ein Büro, in dem wir uns mit Mitarbeitern des Jugendamts, vom Jobcenter oder des dortigen Polizeiabschnitts treffen. Wir von der Staatsanwaltschaft wollen besser verstehen, was genau vor Ort passiert.

Seit gut einem Jahr läuft das Projekt "Staatsanwaltschaft vor Ort" in Berlin, wie sind Ihre Erfahrungen?

Bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität sind regelmäßig zahlreiche Behörden eingebunden. Und typischerweise begehen kriminelle Clans Straftaten überall in der Stadt, nicht nur in dem Viertel aus dem sie stammen, dort sogar eher selten. Das führt etwa dazu, dass eine Vielzahl an Polizeiabschnitten über die ganze Stadt verteilt beteiligt ist, und allein dadurch gehen natürlich Informationen in der Abstimmung verloren. Die Delikte reichen von Serieneinbrüchen über Menschenhandel bis hin zu Drogengeschäften. Deshalb sind auch gleichzeitig mehrere Abteilungen des Landeskriminalamtes und auch der Staatsanwaltschaft zuständig. Das alles macht es schwierig, aus den Puzzleteilen die großen Zusammenhänge krimineller Gruppen zu erkennen.

Auf Schwerpunkteinsatz in Neuköllner Bars Cafes

Was verspricht sich die Justiz von einer "Staatsanwältin vor Ort"?

Es ist wichtig, dass es eine Stelle gibt, bei der alle Erkenntnisse zusammenlaufen. Manchmal sind es ja auch erstmal nur Gerüchte oder Hinweise von vor Ort, die der einen Stelle unbedeutend vorkommen mögen, einer anderen Stelle aber zu einem Durchbruch verhelfen. Wo der eine nur eine Nötigung sieht, sehen andere, die Hintergründe kennen, vielleicht einen erpresserischen Menschenraub. Das kann auch erklären, warum ein Zeuge erstmal nichts sagen will. Wir können dann aber vielleicht über geeignete Schutzmaßnahmen nachdenken.

Ein ganz ähnliches Projekt läuft seit Sommer nun auch in Duisburg – wie fällt ihr Resümee nach einem Jahr in Berlin aus?

Es gibt noch viel zu tun, aber was etwa die Vernetzung der Behörden angeht sind wir wirklich ein ganzes Stück vorangekommen. Das Projekt wird in Berlin nun weitergeführt.

Wie darf man sich ihren Job vor Ort in Neukölln konkret vorstellen?

Es ist viel Vernetzungsarbeit, aber ich bin auch bei Schwerpunkteinsätzen dabei. Dann kontrollieren Bezirksämter, Steuer- und Zollbehörden zusammen mit der Polizei etwa einschlägige Shisha Bars oder Cafes. Oft stellen die Behörden dort "nur" unverzollten Tabak oder Schwarzarbeit fest. Wir wollen damit aber ein Zeichen setzen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen. Auch nicht, wenn bei einer Fahrzeugkontrolle eines bekannten Familienmitglieds in Neukölln schnell 15 bis 50 durchtrainierte Familienangehörige auftauchen.

Wie gut kennen Sie den Bezirk Neukölln?

Ganz gut, ich habe dort früher sogar selbst gelebt. Die Schwerpunkteinsätze sind natürlich auch Gelegenheiten, ein Gefühl für die einschlägigen Orte zu bekommen. Oft betrete ich ein Cafe, in dem gar kein Essen oder Getränken angeboten werden, und jedes Gespräch sofort verstummt. Da fragt man sich schon, was machen die hier eigentlich? Wir nennen diese Räume "vorgelagerte Wohnzimmer" der arabischen Großfamilien. Gerade die unverheirateten Männer wohnen oftmals noch zu zuhause, da sind diese Läden wichtige Treffpunkte. Daneben haben wir natürlich verdeckte Personen im Einsatz, die uns helfen sich mit dem Bezirk vertraut zu machen.

Nach StGB-Änderung: Schneller Vermögen abschöpfen

Sie waren mitverantwortlich dafür, dass vor einigen Monaten über 70 Immobilien einer Großfamilie im Wert von über neun Millionen Euro eingezogen wurden.

Nach der Sprengung einer Bankfiliale konnten wir einen der Täter ermitteln, er gehörte einer arabischen Großfamilie an. Damals wurden knapp zehn Millionen Euro erbeutet. Uns fiel bei einer Telekommunikationsüberwachung auf, dass ein anderes Familienmitglied sich vom Bezug von Sozialleistungen abgemeldet hatte. Plötzlich trat er als Immobilienmakler auf und gründete diverse Gesellschaften. Als Eigentümer wurden vor allem Frauen oder jüngere Männer mit noch gutem Leumund eingetragen. Im Grunde waren immer die gleichen Leute in wechselnden Rollen beteiligt. Das führte uns auf die Spur.

Die Beschlagnahme wurde bundesweit als Erfolg gefeiert, es handelt sich aber nur um eine vorläufige Maßnahme nach den neuen, durchaus umstrittenen Regelungen zur Vermögensabschöpfung im StGB – können sie die Häuser den Leuten dauerhaft entziehen?

Wenn wir uns schlechte Chancen ausrechnen würden, dann hätten wir das nicht gemacht. Wenn ein Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt werden würde, dann kommen nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz ganz immense Ansprüche auf das Land zu. Wir haben uns das schon sehr genau überlegt.

Was bringt die Neuregelung der Vermögensabschöpfung vor einem Jahr konkret für Ihre Arbeit?

Die Strafrechtsänderung bringt zwar keine Beweislastumkehr aber eine Beweiserleichterung nach § 437 StPO. Wir müssen bei der selbständigen Einziehung nach Paragraph 76a Abs. 4 StGB nachweisen, dass es entsprechende Taten in diesem Familienkreis gegeben hat und dann in diesem Kreis auf unerklärliche Weise sehr viel Geld auftaucht. Die andere Seite muss dann diese Vermutung entkräften.

Wenn die besten Freunde alle Familie sind

Wie begegnen Ihnen die Clan-Mitglieder, wenn sie die bei einer Razzia oder im Gericht treffen?

Mir gegenüber sind sie grundsätzlich immer sehr höflich. Über heimliche Telefonüberwachung bekommt man allerdings mit, dass die wahre Einstellung durchaus eine andere ist. Bei überwachten Telefonaten fällt schon mal auch mein Name.

Parallel zum Pilotprojekt ist vor einem Jahr auch die TV-Serie "4 Blocks" erschienen, die sich mit Clan-Kriminalität in Neukölln und auch den Immobiliengeschäften beschäftigt – schauen Sie sich die an?

Ich habe die erste Staffel angefangen und auch eine Zusammenfassung der zweiten gesehen. Ich weiß, dass es hier bei der Staatsanwaltschaft auch Fans gibt, aber so ein großes Thema ist es hier nicht. Und mir ist das zu gewalttätig.

Aber es ist Fiktion – Sie haben hier ja jeden Tag in Aktenstapeln das reale Vorbild auf dem Tisch.

Spannend finde ich, dass die Serie thematisiert, wie schwer es sein mag, aus einer solchen kriminellen Gruppe wieder herauszukommen, wenn man einmal darin aufwächst. Bei diesen Clans sind die Freunde zugleich auch die Verwandten. Das heißt, es gibt für diese Leute kaum Bezugspunkte nach außen. Und damit wenig Perspektiven ihr Leben zu verändern. Die Kriminalität dieser Leute ist definitiv ein gesamtgesellschaftliches Problem und ihre Bekämpfung nicht allein eines der Strafverfolgung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zitiervorschlag

Pilotprojekt "Staatsanwältin vor Ort" in Berlin-Neukölln: "Bei überwachten Telefonaten fällt schon mal mein Name" . In: Legal Tribune Online, 19.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32815/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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