Abweichende Beschlüsse am Rote-Khmer-Tribunal: Patt hemmt die Recht­sp­re­chung

Gastbeitrag von Dr. Eike Fesefeldt

15.09.2018

Derzeit agiert mit Michael Bohlander zum zweiten Mal ein Deutscher als Untersuchungsrichter am Rote-Khmer-Tribunal in Phnom Penh. Wie sein Vor-Vorgänger Siegfried Blunk hat er dort einiges auszuhalten, berichtet Eike Fesefeldt.

Die "außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha", wie das Rote-Khmer-Tribunal offiziell heißt, untersuchen und aburteilen seit 2006 die von den Roten Khmer begangenen Verbrechen während des Völkermords in Kambodscha. Mehreren Beschuldigten werden schwere Verbrechen im Zeitraum 1975 bis 1979 vorgeworfen, bei denen bis zu zwei Millionen Menschen gestorben sind.

Teil dieses von den Vereinten Nationen (UN) und Kambodscha getragenen internationalen Tribunals sind zwei Untersuchungsrichter. Einer dieser Richter muss jeweils Kambodschaner sein, der andere kommt aus dem Ausland, bislang überwiegend aus Europa. Namentlich sind dies derzeit You Bunleng und seit Juli 2015 Michael Bohlander, ehemals Landrichter aus Thüringen und Professor an der University of Durham.

Dieses Konstrukt nennt sich im Statut des Tribunals "Co-Investigation Judges". Daneben gibt es ebenfalls zwei "Co-Prosecutors". Die Untersuchungsrichter agieren als Instanz zwischen diesen Anklägern und den Prozessrichtern. Ähnlich wie ein Staatsanwalt im deutschen Strafrecht leiten die Untersuchungsrichter in erheblichem Maße die Ermittlungen, sammeln Beweismittel und befragen Zeugen. Wenn die Untersuchungsrichter der Ansicht sind, dass genügend Beweismaterial für eine Verurteilung gesammelt ist, leiten sie den Fall an die Ankläger weiter, die auf diesem Material aufbauend eine Anklage verfassen und die Hauptverhandlung vorbereiten.

Konfliktträchtige Besetzung des Gerichts

Nicht umsonst sind Kammern und Senate im deutschen Recht in der Regel mit einer ungeraden Anzahl an Richtern besetzt. Selbst in den Fällen, in denen eine gerade Anzahl von Richtern vertreten ist, kann es – abgesehen vor dem Bundesverfassungsgericht – nicht zu Pattsituationen kommen. So bestimmt zum Beispiel § 196 Abs. 4 Strafprozessordnung (StPO), dass bei einer Stimmengleichheit in einer vierköpfigen Strafkammer die Stimme des Vorsitzenden Richters den Ausschlag gibt.

Es verwundert nicht, dass die Anzahl der Untersuchungsrichter ein umstrittener Verhandlungspunkt bei der Erarbeitung des Gerichtsstatuts war. Die UN wollten im Hinblick auf eine Verfahrensvereinfachung nur einen Untersuchungsrichter und einen Ankläger, besetzt jeweils mit einem internationalen Juristen. Die am Ende gewählte und von Kambodscha gewünschte Variante mit zwei gleichberechtigten Untersuchungsrichtern wurde bei keinem anderen internationalen Tribunal praktiziert.

Es wird auch das letzte Mal sein, dass sich die UN auf solch eine Lösung einlassen. Zwei im September veröffentlichte Beschlüsse der Untersuchungsrichter Bunleng und Bohlander zeigen, dass die Richter nicht darüber einig sind, wer von den noch lebenden Roten Khmer die Hauptverantwortlichen sind. Konkret bezogen sich diese Beschlüsse auf den Beschuldigten Ao An, gegen den sich im Ermittlungsverfahren eine Verbrechensliste ohne Ende ergeben hatte: Völkermord an den Cham, Mord, Vernichtung, Versklavung, Folter, Verfolgung von Zivilisten und weitere unmenschliche Handlungen wie Vergewaltigungen oder körperliche Misshandlungen.

Die Suche nach den Hauptschuldigen

Die Suche nach den Hauptschuldigen ist eines der immer wiederkehrenden Themenschwerpunkte des Völkerstrafrechts. In einer eindrucksvollen Szene in Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" beaufsichtigt eine jüdische Architektin den Bau eines KZ-Lagerhauses. Nachdem sie sich an den hinzugekommenen Lagerkommandanten Amon Göth mit Ratschlägen wendet, weil sie der Meinung ist, dass die Konstruktion des Lagerhauses fehlerhaft ist, verzieht dieser keine Miene und ordert einen Untergebenen an, die Architektin zu erschießen, was dieser nach einmal tief durchatmen vor Ort erledigt. Zwei danebenstehende Soldaten unternehmen nichts beziehungsweise trinken ihren Kaffee.

Als erstes wird den meisten in den Sinn kommen, dass der Lagerkommandant und Untergebene als Hauptschuldige an diesem Mord zu qualifizieren sind und zu bestrafen sind. Aber die Hauptschuldigen, im Völkerstrafrecht als die "most responsible persons" bezeichnet, sind mit diesen Täterfiguren nicht abgedeckt. Es geht im internationalen Völkerstrafrecht viel eher um die Personen, die eventuell nichts von dieser Tat mitbekommen haben und nichts von ihr wissen, aber die Grundlagen für diese geschaffen haben. Dies waren in den Fällen der KZ-Massenmorde Hitler oder Himmler.

Angesichts der großen Anzahl an Tatbeteiligten und den extrem begrenzten Ressourcen der internationalen Justiz ist eine Selektion auf solche Hauptschuldige notwendig. Solche "most responsible persons" sind bei Betrachtung der Rechtsprechung internationaler Tribunale politische oder militärische Führer, welche das Gesamtunrecht maßgeblich beeinflussen, bei den tatsächlichen Taten aber meistens im Hintergrund blieben. Insoweit bestimmt das Statut des Internationalen Strafgerichtshof in Art. 1 und Art. 5, dass die Gerichtsbarkeit des Tribunals auf die schwersten Verbrechen beschränkt ist, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren.

Richter uneinig

Diese Frage wird in den separaten "Closing Orders" der beiden Untersuchungsrichter im Fall Ao An behandelt. Die beiden Richter konnten keine Einigung hinsichtlich der Frage finden, ob der Beschuldigte einer der Hauptverantwortlichen war und somit der personellen Gerichtsbarkeit des Tribunals unterfällt. Um diese Frage zu beantworten, werteten sie die Schwere der vorgeworfenen Verbrechen, den zeitlichen Rahmen und die Stellung des Angeklagten aus.

Bohlander kam dabei zum Ergebnis, dass Ao An zu verschiedenen Zeitpunkten hohe politische Stellungen in verschiedenen Gremien hatte. Als Teil einer verbrecherischen Gruppierung habe er unter anderem Arbeitslager errichten und massenhaft Unschuldige töten lassen. Als verwerflichste Tat stellte der deutsche Richter den Völkermord an den Cham – ein sunnitisches Bauernvolk – dar, die aufgrund ihrer Religion und Ethnie verfolgt wurden. Es gäbe genügend Beweise, die darauf hindeuten, dass Ao An den Befehl gab, diese Ethnie in seinem Zuständigkeitsbereich vollständig festzunehmen und umzubringen, was auch vollstreckt worden ist.

Bunleng stellte auf formale Beweise ab. Insbesondere verwies er darauf, dass kein offizielles Dokument aufgefunden werden konnte, welches Ao An als Sekretär des fraglichen Bezirks auswies. Auch konnte er nicht erkennen, dass der Beschuldigte über genügend Autorität oder Befehlsgewalt verfügte, um als Hauptverantwortlicher zu gelten. Zusammengefasst würde Ao An nur einer von unzähligen anderen Tätern sein, über welche das Tribunal aber keine personelle Zuständigkeit hat.

Diese abweichenden Beschlüsse sind symptomatisch für die unübersichtliche und verkomplizierte Arbeitsweise des Rote-Khmer-Tribunals. Ständige Uneinigkeiten zwischen dem internationalen und nationalem Personal am Gericht hat die Zusammenarbeit zu jeder Zeit geplagt. Das hatte schon bei der Grundsatzkonzeption der Verfahren angefangen, wonach der kambodschanische Untersuchungsrichter und Ankläger nur zwei Fälle – die bereits abgehandelten beziehungsweise fast fertigen Fälle 001 und 002 – verhandeln wollten. Die Verfahren 003 und 004 kamen seit 2009 nur im Schneckentempo voran.

Ständige politische Einmischung

Daneben sahen und sehen sich die internationalen Vertreter ständiger politischer Einmischung durch die regierende kambodschanische Volkspartei ausgesetzt. Wenn man den entsprechenden Berichten glauben darf, war dies auch der Grund, wieso der vormalige deutscher Richter Blunk im Jahr 2011 hinwarf.

Es ist auch nicht verwunderlich, wenn sich angesichts des vielen Gegenwinds, den zähen Entwicklungen und wenigen Erfolgen Müdigkeit im Rote-Khmer-Tribunal breitmacht. Viel-leicht ist es wirklich Zeit für ein ergebnisloses Ende der noch nicht verhandelten Verfahren, unter anderem bezüglich Ao An. Eventuell muss akzeptiert werden, wenn die Hauptschuldigen – wie in dem oben beschriebenen Beispiel Himmler und Hitler – bereits tot sind.

Wie es mit dem Verfahren gegen Ao An weitergeht, ist noch nicht bekannt. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Untersuchungsrichtern sieht das Statut ein Verfahren vor einer Vorverfahrenskammer vor, welche eine klärende Entscheidung zu treffen hat. Immerhin besteht diese aus einer ungerade Anzahl an Richtern: drei Kambodschaner und zwei Internationale.

Zumindest kann die Völkerstrafgerichtsbarkeit aus solchen Problemen lernen. Es dürfte unwahrscheinlich sein, dass sich die UN bei der Konzeption eines internationalen Tribunals noch einmal auf ein Modell einlassen, in welchem auf der Richterbank eine Pattsituation entstehen kann.

Der Autor Dr. Eike Fesefeldt ist Staatsanwalt aus Stuttgart.

Zitiervorschlag

Eike Fesefeldt, Abweichende Beschlüsse am Rote-Khmer-Tribunal: Patt hemmt die Rechtsprechung . In: Legal Tribune Online, 15.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30883/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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