Strafverfolgung im beschleunigten Verfahren: Ein wenig Zero Toler­ance in Sachsen

von Dr. Markus Sehl

12.09.2018

Nach den Ausschreitungen in Chemnitz soll die Staatsanwaltschaft in Sachsen mehr Strafverfahren im beschleunigten Verfahren vor die Gerichte bringen. Das geschieht bislang so gut wie gar nicht – und das Verfahren erfährt auch Kritik.

Schon in dieser Woche beginnen am Amtsgericht (AG) Chemnitz die ersten beiden Strafverfahren nach den Demonstrationen rund um den 27. August in der Stadt am Rand des Erzgebirges. Am Donnerstag geht es um "Sieg Heil"-Rufe sowie einen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Am Freitag verhandelt das Gericht das Zeigen des Hitlergrußes. Diese beiden Verfahren laufen als sog.  beschleunigte Verfahren nach § 417 Strafprozessordnung (StPO), wie das Gericht auf Anfrage von LTO bestätigte. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte dafür gesorgt, dass die Fälle so schnell wie möglich zu Gericht kommen.

Nach dem Willen der Strafverfolger soll die Justiz in Sachsen nun auch generell verstärkt zum Instrument des beschleunigten Verfahrens greifen. Dazu hat der Generalstaatsanwalt Hans Strobl am 1. September eine Verfügung erlassen. Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) bekräftigte am Montag in Dresden, "die Strafe sollte einer Straftat möglichst direkt auf dem Fuße folgen“. Täter und potenzielle Straftäter müssten spüren, dass sie mit ihrem Handeln eine Grenze überschritten haben.

Nur bei einfachem Sachverhalt oder klarer Beweislage

Im beschleunigten Verfahren sollen nach der StPO nicht mehr als sechs Wochen zwischen dem Antrag der Staatsanwalt bei Gericht und dem Beginn der Hauptverhandlung liegen. Zusätzlich kann auch eine Hauptverhandlungshaft nach § 127b StPO angeordnet werden, falls zu befürchten steht, dass der Festgenommene sich der Hauptverhandlung entzieht. Eine Anklageschrift muss nicht vorher eingereicht werden, sie kann bei Beginn der Hauptverhandlung mündlich mitgeteilt werden. Die Ladungsfrist beträgt nur 24 Stunden.

Diese herabgesetzten rechtsstaatlichen Anforderungen machen schon deutlich, dass die StPO das Verfahren bloß in engen Grenzen vorsieht: nach § 417 StPO nur, "wenn die Sache auf Grund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist." Nach § 419 Abs. 1 darf keine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verhängt werden. Stellt sich heraus, dass die Voraussetzungen für das beschleunigte Verfahren nicht vorliegen, beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig wird. Es geht dann also im gewohnten Gang nach § 203 StPO weiter. Das beschleunigte Verfahren zeichnet sich also vor allem durch ein ausgespartes Zwischenverfahren aus.

"Theoretisch passt alles, wenn Sie einen geständigen Täter haben und nicht mehr als ein Jahr Straferwartung", erläuterte Generalstaatsanwalt Strobl. Anwendbar soll das Verfahren damit auf Diebstahl, Drogendelikte, Angriffe auf Beamte und Journalisten, aber auch bei fremdenfeindlichen Straftaten und Verstößen gegen ausländerrechtliche Bestimmungen sein.

Bislang kaum Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft

Die Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft scheint nötig zu sein, wenn man einen Blick auf die Zahlen des Statistischen Bundesamtes wirft: Von den 654.537 in ganz Deutschland im Jahr 2017 erledigten Strafverfahren vor den Amtsgerichten waren nur 14.362 im beschleunigten Verfahren eingeleitet worden. In Sachsen waren es: 13. Im Verhältnis zu den 35.000 dort erledigten Verfahren ergibt das eine Quote von unter 0,05 Prozent. Das wird nur noch vom Saarland unterboten, dort wurden insgesamt drei solcher Verfahren erledigt. Spitzenreiter ist Bayern mit 4.142 beschleunigten Verfahren.

Dass das Verfahren in Sachsen bisher kaum angewandt wird, führt Generalstaatsanwalt Strobl auch auf mangelnde Erfahrung bei Staatsanwaltschaften und Gerichten zurück. "Die überwiegende Meinung ist, dass es nicht ins tägliche Geschäft passt und der Nutzen den Aufwand nicht rechtfertigt." Sachsen hat zwar eine der höchsten Anklage- und Strafbefehlsquoten bundesweit, das beschleunigte Verfahren aber noch untergeordnete Bedeutung, pflichtete Gemkow bei. "Das ist ein Zustand, den wir ändern wollen."

Laut dem Justizminister ist die Verfügung Teil einer Null-Toleranz-Strategie, an der derzeit gearbeitet werde. Wie das sächsische Justizministerium auf Anfrage von LTO mitteilte, gehört dazu auch eine Verfügung von Anfang Mai 2018, mit der der Generalstaatsanwalt Strobl seine Staatsanwälte anweist, bei Angriffen auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte praktisch keine Verfahren mehr einzustellen.

Außerdem sollen Intensivtäter soweit möglich nur noch von einem zuständigen Staatsanwalt bearbeitet werden, um "eine Gesamtschau zu ermöglichen", so der Pressesprecher des Ministeriums. Zudem arbeite man daran, die generelle Einstellungspraxis bei Strafverfahren im Land genauer unter die Lupe zu nehmen.

"In einer Situation, in der das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung leidet und in der viele Menschen das Gefühl haben, die Strafverfahren dauerten zu lange, wollen wir so effektiv und optimal wie möglich Gebrauch davon machen", so Justizminister Gemkow.

Richterverein: "Organisierte Kriminalität viel größere Bedrohung für den Rechtsstaat"

Kritik kommt von der Fraktion der Grünen im Landtag. So erklärte die rechtspolitische Sprecherin Katja Meier: "Das Bemühen um Verfahrensbeschleunigung und -effektivierung droht zu Lasten der rechtsstaatlichen Verfahrensrechte der Beschuldigten zu gehen." Sie betonte zudem: "Die Belehrung der Beschuldigten über ihre Rechte im Ermittlungsverfahren gewinnt hier erheblich an Bedeutung."

Der Sächsische Richterverein betont, dass die Verfolgung schwerer und organisierter Kriminalität nicht in den Hintergrund geraten dürfe. "Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir nur die Kleinen hängen und die Großen laufen lassen", sagte der Vorsitzende Reinhard Schade. Cyberkriminalität, Schlepperbanden, Autoschieber und mafiöse Clans seien eine viel größere Bedrohung für den Rechtsstaat. Ihnen das Handwerk zu legen, erfordere intensive Arbeit, Geduld, Ressourcen und politischen Willen.

Mit Materialien der dpa

Zitiervorschlag

Strafverfolgung im beschleunigten Verfahren: Ein wenig Zero Tolerance in Sachsen . In: Legal Tribune Online, 12.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30897/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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