Ermittlungen gegen Woelki abgelehnt: Kar­di­nal­fehler der Staats­an­walt­schaft

Gastbeitrag von Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M.

09.11.2022

Bei einer Anzeige gegen Kardinal Woelki habe die Staatsanwaltschaft zu früh aufgegeben, statt Befragungen anzustrengen, kritisiert Holm Putzke. So entstehe der Eindruck einer Sonderbehandlung zugunsten der Kirche. 

Nachdem Rainer Maria Kardinal Woelki Mitte September in einem weiteren Fall wegen "Falscher Versicherung an Eides statt" angezeigt worden war, hat die Staatsanwaltschaft Köln Ende Oktober erneut die Aufnahme von Ermittlungen gegen Kölns Erzbischof abgelehnt, weil schon kein Anfangsverdacht gegeben sei. In dem presserechtlichen Verfahren, bei dem die eidesstattliche Versicherung abgegeben worden war, ging es um einen Bericht der Bild-Zeitung mit Vorwürfen gegen Woelki. 

Die Ablehnung staatsanwaltlicher Ermittlungen in Köln hat wiederum den Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Daniel Deckers, in einem Kommentar veranlasst zu schreiben, dass es "gar nicht gut" sei, dass der Ermittlungseifer immer dann zu erlahmen scheine, wenn es um innerkirchliche Belange gehe. Konkret dränge sich der Verdacht auf, dass grundsätzlich nur entlastende Indizien gewürdigt und die Mittel des Rechtsstaats nicht eingesetzt, konkret keine Zeugen befragt worden seien. So verspiele ein Staat das Vertrauen, auf das er angewiesen sei. 

Anfang November hat dies sodann Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn auf den Plan gerufen, der bei der Staatsanwaltschaft Köln für das Prüfungsverfahren zuständig war, und veranlasst, in einem Interview für Domradio.de ausführlich zu den – in seinen Augen unsinnigen – Vorwürfen Stellung zu nehmen. Im Internet ist ihm sogleich Rechtsanwalt Björn Gercke applaudierend zur Seite gesprungen, ebenso Rechtsanwalt Ralf Höcker. Beide sind in diesen Fall eingebunden, Gercke sogar als Verteidiger von Rainer Maria Woelki, was, das sei nur am Rande angemerkt, mit Blick auf seine Vorbefassung als Gutachter für das Erzbistum Köln berufsrechtlich problematisch sein könnte, was Gercke bestreitet.

Ein Staatsanwalt rechtfertigt im Interview seine eigene Entscheidung 

Dass ein Staatsanwalt öffentlich seine Entscheidung zu einem konkreten Fall rechtfertigt, ist für sich genommen schon ungewöhnlich. Unabhängig davon lohnt es sich, den Inhalt seiner Erklärung genauer zu betrachten, weil der Kölner Strafverfolger eine Verschiebung anerkannter strafprozessualer Maßstäbe unternimmt. Das wäre, vor allem aus Sicht von Strafverteidigern, nicht weiter zu beklagen, vorausgesetzt der Maßstab gälte für alle und nicht nur für Kirchenleute. Doch daran sind, wie zu zeigen sein wird, erhebliche Zweifel angebracht. 

Zunächst ein Wort zur Ausgangslage: Kardinal Woelki stand im Verdacht, im Rahmen eines presserechtlichen Zivilverfahrens eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben zu haben. Der Kardinal hat bestritten, anlässlich einer Beförderungsentscheidung die Personalakte des Priesters gekannt zu haben, abgesehen von einem Vorfall aus dem Jahr 2001 seien etwaige Auffälligkeiten des Priesters nicht mehr als diffuse Gerüchte gewesen. Die wegen der Anzeige zu klärende Frage war nun, ob das Wissen von Kardinal Woelki bei der Beförderungsentscheidung im Jahr 2017 über das hinausging, was sich als "diffuses Gerücht" bezeichnen lässt und ob ihm die Personalakte bekannt war. Bejahendenfalls hätte er eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben und sich nach § 156 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar gemacht. 

Die entscheidende Frage ist, ob die Staatsanwaltschaft angesichts des ihr vorgelegenen Sachverhalts mehr hätte tun müssen, um diesen aufzuklären. Oberstaatsanwalt Willuhn stellt sich in dem Interview auf den Standpunkt, dass man erst dann mit dem Ermitteln anfangen darf, wenn die Staatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht positiv festgestellt hat. Erst dann dürfen Zeugen vernommen oder Akten beschlagnahmt werden. 

Befragungen schon vor einem Anfangsverdacht zulässig 

Zunächst zu der Frage, ob die Staatsanwaltschaft schon dann mit dem Ermitteln anfangen darf, wenn sie noch keinen Anfangsverdacht positiv festgestellt hat. Wenn man "ermitteln" sprachlich nicht formaljuristisch verengt auf eine Tätigkeit in einem eingeleiteten (also nach Bejahung eines Anfangsverdachts) offiziellen Ermittlungsverfahren, sondern versteht als "den Sachverhalt aufklären", dann ist das nach der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum völlig klar: Vorermittlungen sind zulässig. Was dürfen diese umfassen? Schon in einem Aufsatz von Keller/Griesbaum in der NStZ 1990 hieß es dazu auf Seite 417, dass auch Zeugenvernehmungen zulässig sind. Soweit es sich jedenfalls um informatorische Befragungen handelt, darf das heute durchaus als herrschende Meinung angesehen werden. Das Landgericht Offenburg hat in einem Beschluss vom 25. Mai 1993 (NStZ 1993, 506) im Rahmen von Vorermittlungen sogar richterliche Untersuchungshandlungen nach § 162 Strafprozessordnung (StPO) für zulässig erklärt. Die Grenze wird erst dort zu ziehen sein, wo es um Zwangsmaßnahmen mit Grundrechtseingriffen geht.  

Informatorisches Befragen oder Zeugenvernehmungen gehören dazu aber nicht – sie sind ohne Weiteres auch bei Vorermittlungen zulässig. Wenn Oberstaatsanwalt Willuhn denjenigen, die unterlassene Zeugenvernehmungen kritisieren, entgegenhält, sie hätten "schlicht die gesetzlichen Bedingungen für staatsanwaltschaftliches Handeln überhaupt gar nicht begriffen", dann fällt das unmittelbar auf ihn zurück. Es war insoweit gut und richtig, dass der Journalist Deckers dem Ratschlag von Willuhn, er hätte sich bei ihm vorab besser informieren sollen, nicht gefolgt ist: Denn dann hätte er von Herrn Oberstaatsanwalt eine rechtsfehlerhafte Auskunft erhalten. Im konkreten Fall hätten mithin potentielle Zeugen nicht nur vernommen werden können, sondern sogar müssen, um zu klären, ob Herrn Woelki 2017 der Inhalt die Personalakte bekannt war, ihm diese vielleicht sogar vorlag. Dass es dafür geeignete Zeugen aus der Verwaltung gibt, liegt auf der Hand, etwa Mitarbeiter des Sekretariats oder der Personalabteilung, was aktuelle Meldungen eindrucksvoll belegen. Woelkis Verteidiger Gercke hatte in dem anderen angezeigten Sachverhalt sogar angeboten, die Büroleiterin des Kardinals zu befragen.  

Die Staatsanwaltschaft geht von einem falschen Maßstab aus 

Auf die vorstehenden Überlegungen zum Umfang von Vorermittlungen käme es aber gar nicht an, wenn sogar ein Anfangsverdacht zu bejahen gewesen wäre. Auch insoweit sind die Äußerungen von Oberstaatsanwalt Willuhn bemerkenswert. Auf die Frage, was denn für die Annahme eines Anfangsverdachts hätte vorliegen müssen, sagt Willuhn, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür hätten vorliegen müssen, dass die eidesstattliche Versicherung falsch war, also etwa "E-Mails, Telefonate, Gesprächsnotizen, eben etwas, was beweisrechtlich das ist, was an Tatsachen anknüpfen lässt." Richtig ist, dass die Strafprozessordnung in § 152 Absatz 2 StPO eine Pflicht zum Einschreiten, und also einen Anfangsverdacht, knüpft an "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" für verfolgbare Straftaten.  

Der das Interview mit Willuhn führende Journalist Johannes Schröer stellt sodann die richtige Frage: "Aber schalten wir mal gesunden Menschenverstand ein: Ist es denn realistisch, dass ein Erzbischof, der weiß, dass ein Priester mit einem Prostituierten verkehrt hat, der auch von weiteren Gerüchten hört, dass der Kardinal da nicht einmal, bevor er ihn befördert, in die Personalakte schaut, um sich zu informieren?" An der Antwort von Herrn Willuhns ist so gut wie alles falsch: Erstens die Behauptung, dass Kategorien wie "Das kann doch gar nicht anders sein" oder "Das ist doch voll unrealistisch" keine tauglichen Argumente im Strafverfahren seien. Doch, das sind sie, nämlich immer dann, wenn eine Einlassung etwa als Schutzbehauptung bezeichnet und ihr deshalb nicht gefolgt wird. Zweitens legt Willuhn einen falschen Maßstab für die Annahme eines Anfangsverdachts zugrunde. Auf die Frage des Journalisten Schröer antwortet er dazu: "Für uns stellte sich vielmehr nur die Frage, ob die entsprechende Behauptung Kardinal Woelkis in der eidesstattlichen Versicherung sich durch Tatsachen so sicher widerlegen lässt, dass kein vernünftiger Zweifel daran verbleibt, dass er diese Personalakte dann doch schon 2017 oder vor der Beförderung tatsächlich gelesen hat. Solche Tatsachen gibt es aber nicht bzw. sind nicht bekannt geworden." Diesen Maßstab anzulegen, ist immer dann richtig, wenn es um eine Anklageerhebung geht, die hinreichenden Tatverdacht voraussetzt, also eine Verurteilungswahrscheinlichkeit.  

Beim Anfangsverdacht hingegen geht es allein darum, ob nach kriminalistischer Erfahrung die Möglichkeit einer verfolgbaren Straftat gegeben ist, ob sich aus den gegenwärtig bekannten konkreten Tatsachen der Schluss ziehen lässt auf eine in der Vergangenheit möglicherweise begangene Tat. Die Staatsanwaltschaft darf danach keineswegs erst in Ermittlungen eintreten, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ein Strafgesetz verletzt wurde, oder gar kein vernünftiger Zweifel an der Schuld besteht. Wer das behauptet und sich daran orientiert, darf, einmal abgesehen von mit dem Fall befassten Rechtsvertretern des Kardinals, nicht damit rechnen, dafür auch noch gelobt zu werden. Im Gegenteil ist dieser Maßstab grob fehlerhaft und provoziert zu Recht Kopfschütteln und Widerspruch. 

Wenn es nun um das Vorhandensein konkreter Tatsachen geht, so ist etwa im Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung zu lesen, kann eine solche Tatsache auch "in einem nicht völlig haltlosen Gerücht oder einer Behauptung Dritter begründet liegen, denn die Prüfung des Wahrheitsgehalts ist gerade die Aufgabenstellung für das Ermittlungsverfahren". Und im Karlsruher Kommentar ist zu lesen, dass die "Schwelle […] von Rechts wegen sehr niedrig angesetzt" ist. Wenn die Staatsanwaltschaft Köln hingegen davon ausgeht, dass die Schwelle des Anfangsverdachts alles andere als eine niedrigschwellige Hürde ist, dann ist das keine Begründung, die zur Rechtslage passt, sondern eine dem Ergebnis angepasste. Die Ermittlungspflicht der Strafverfolgungsbehörden beginnt nicht erst dann, wenn Beweise auf dem Silbertablett serviert werden. 

Aufgehört, wo Aufklärung hätte beginnen müssen 

Und an dieser Stelle spielt die kriminalistische Erfahrung eine bedeutende Rolle. Dabei kommt es an auf Plausibilitätserwägungen, was – laienhaft formuliert – in die Richtung des "gesunden Menschenverstands" geht, von dem der Fragesteller Schröer in seiner Frage spricht. Der Einsatz kriminalistischer Erfahrung ist eine Methode, mit der außerhalb des kirchlichen Kontextes schon viele Straftaten aufgeklärt wurden.  

Im vorliegenden Fall gab es vor der Ernennung des Pfarrers zum stellvertretenden Stadtdechanten, also dem stellvertretenden Vorsteher von Priestern der 32 Kirchengemeinden Düsseldorfs, durch Kardinal Woelki zahlreiche konkrete Hinweise auf mögliches sexuelles Fehlverhalten, etwa im Jahr 2015 ein eingeleitetes Leitlinienverfahren. Es sah unter anderem eine Begutachtung des Pfarrers durch einen bundesweit anerkannten forensischen Psychiater vor und hielt fest, dass der Pfarrer keine Kinder- und Jugendarbeit mehr ausüben darf. Wenn man sich nun einmal vor Augen führt, dass spätestens seit dem im Jahr 2013 ausgeschriebenen MHG-Forschungsprojekt zum Thema „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ die kirchlichen Institutionen und Funktionsträger unter besonderer öffentlicher Beobachtung stehen, dann muss man noch nicht einmal kriminalistische Erfahrung bemühen, um erhebliche Zweifel an Woelkis Erklärung zu haben.

Immerhin war der Pfarrer bekanntermaßen kein unbeschriebenes Blatt und stand wiederholt – warum auch immer – im Gerede. Und bei der Ernennung zum stellvertretenden Stadtdechanten von Düsseldorf ging es auch nicht um irgendeine x-beliebige Stelle. Nach kriminalistischer Erfahrung liegt es eher fern, dass dieser Vorgang keine besondere Aufmerksamkeit beim ihn befördernden Kardinal erhalten haben soll, etwa durch Vorlage einer Personalakte oder andere an ihn herangetragene konkrete Informationen. Dass auf Basis der Gesamtbetrachtung aller Indizien nach kriminalistischer Erfahrung die Möglichkeit besteht, dass die eidesstattliche Versicherung falsch ist, lässt sich nur verneinen, wenn man – wie die Staatsanwaltschaft Köln – von einem falschen Maßstab ausgeht. 

Pflicht, Zeugen zu befragen?

Da sogar ein Anfangsverdacht zu bejahen ist, besteht, unabhängig von den auch bei bloßen Vorermittlungen angezeigten Maßnahmen, allemal die Pflicht, Zeugen zu befragen, etwa den Generalvikar oder die Büroleiterin. Die Aussage von Oberstaatsanwalt Willuhn, dass Tatsachen, die für die Falschheit gesprochen hätten, nicht bekannt gewesen oder geworden sind, grenzt an Arbeitsverweigerung: Nichtermittler Willuhn hat genau dort aufgehört den Sachverhalt aufzuklären, wo er damit hätte anfangen müssen. 

Am Schluss des Interviews vermutet Willuhn mit Blick auf den Kritiker Deckers eine "emotionale Verstrickung des Kommentators" und ein fehlendes Interesse an "objektiver Aufklärung". Allein auf Basis des von Willuhn gegebenen Interviews und angesichts der darin enthaltenen rechtlichen Kardinalfehler hat vielmehr der Journalist Deckers uneingeschränkt Recht mit seiner Kritik. Das Ausmaß der fehlerhaften Prämissen ist derart eindeutig und gravierend, dass es berechtigt erscheint, schon von Rechtsblindheit zu sprechen, was allemal eine Befangenheit des Oberstaatsanwalts befürchten lässt. Einmal mehr hat eine Strafverfolgungsbehörde die Chance vertan zu zeigen, dass Kirchenleute keine Sonderbehandlung erfahren. Dass die Behauptung einer Sonderbehandlung keineswegs "blanker Populismus" ist, wie Willuhn meint, hat er mit seiner Einstellungsentscheidung und Begründung eindrucksvoll bestätigt. 

Prof. Dr. Holm Putzke ist Inhaber einer Professur für Strafrecht an der Universität Passau sowie außerplanmäßiger Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden. Zudem ist er als Strafverteidiger tätig. Er gehört zu einer Gruppe von Strafrechtsprofessoren, die im Jahr 2018 im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche bei 27 Staatsanwaltschaften in Deutschland Anzeigen erstattet haben

Anm. d. Red. Text in der Fassung vom 11.11.2022, 10.20 Uhr.

Zitiervorschlag

Ermittlungen gegen Woelki abgelehnt: Kardinalfehler der Staatsanwaltschaft . In: Legal Tribune Online, 09.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50115/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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