Geld und Geschenke in der Grauzone: Korruption fängt bei Keksen an

von Martin Rath

19.11.2011

Während jede am Arbeitsplatz verzehrte Maultasche zu einem Mediengewitter führt, weil die Urteile der Gerichte nicht jedem schmecken, bleiben andere Regelverstöße auffällig unbeachtet: Korruption ist ein ähnlich weites Feld moralisch fragwürdiger Bereicherung in Wirtschaft und Verwaltung – und Gegenstand des neuesten Werks von Frank Überall. Ein Rezensionsessay von Martin Rath.

Dem gerne als "Kindergärtnerinnen" bezeichneten Personal der Verwahranstalten für den noch kleingeratenen Nachwuchs könnte die angeblich auch in Deutschland zunehmende Strenge gegenüber der "Korruption" ganz gut tun. Eine rigorose Korruptionsbekämpfung in deutschen Verwaltungen sollte es den Erzieherinnen leicht werden lassen um ihre Hüften, folgt man einem Gedanken, den Frank Überall in seinem jüngsten Buch zur Korruption äußert.

Der Politikwissenschaftler hat sich mit Recherchen zur spezifisch Kölner Form der Gefälligkeiten einen Namen gemacht, dem "Klüngel". In seiner neuen, journalistisch geschriebenen Studie, die jetzt unter dem etwas zu viel versprechenden Titel "Abgeschmiert. Wie Deutschland heruntergewirtschaftet wird" erschienen ist, nennt Überall die Kindergärten als Beispiel für eine neue Aufmerksamkeit, was Korruption in deutschen Verwaltungen betrifft.

Weil dem Personal deutscher Verwaltungseinrichtungen die Annahme von Geschenken dienstherrlich verboten sei, also heutzutage restriktiver als in den seligen Nehmerzeiten zwischen Adenauer und Kohl gehandhabt werde, stießen schon jene selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen auf Bedenken, mit denen sich in diesen Tagen Eltern für die frühpädagogischen Bemühungen am Nachwuchs bedanken.

Hochkalorische Korruptionsbeispielkunde

So gerne Kindergärtnerinnen aber in diesen Tagen die Annahme verweigern würden, um ihre Kalorienaufnahme zu begrenzen, so schwierig wäre es für sie, dies im Einzelfall juristisch-moralisch zu begründen. Das Moment der Peinlichkeit spielt in den Szenen der Korruption zwar immer wieder eine wesentliche Rolle, wie Überall anhand zahlreicher Beispiele beschreibt. Aber die Kaliber unterscheiden sich, vor alle juristische Subsumtionsarbeit ist hier die diffuse Alltagssoziologie gesetzt:

Relativ nebulös ist beispielsweise die Situation, wenn zwischen dem Mitarbeiter einer Bauverwaltung und einem antragstellenden Wintergarten- oder Häuslebauer nicht nur ein strapaziöses Genehmigungsverfahren mit allen Unsicherheiten juristischer Ermessensspielräume steht, sondern auch ein – verbindliches, halbprivates – Gespräch über Rotweine unbekannter Preisklassen. Ist das die Aufforderung, beim nächsten Besuch ein paar Flaschen mitzubringen? Oder eine Kiste? Wo beginnt die Anstiftung, wo der Versuch?

Eindeutiger, aber situativ viel schwerer aufzulösen sind aber die systematischen Formen der Einflussversuche. Überall beschreibt die idealtypische Vorgehensweise: Um sich die diffuse Abhängigkeit eines entscheidenden Behördenvertreters oder Managers zu erkaufen, würden in der Regel nicht mehr plump Geld oder Sachgüter über den Schreibtisch befördert. Subtil fragt der Verführer stattdessen nach dem Musikgeschmack der Entscheidergattin. Unverhofft trifft sie dann später die Einladung zum Robbie-Williams-Konzert, samt Backstage-Karten, selbstverständlich für zwei Personen.

Es finden sich in Überalls Studie zahllose interessante Fallminiaturen und Hinweise. Ohne sich auch nur andeutungsweise der boshaften Frage zu widmen, woher sie ihre Expertise hat, zitiert er etwa aus einer Untersuchung der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PWC): "Der typische Wirtschaftsstraftäter ist sozial unauffällig, er ist im Durchschnitt um die 40 Jahre alt, überwiegend männlich, überdurchschnittlich gebildet und gehört seit vielen Jahren dem Unternehmen an."

Diese Definition mag bereits erklären, warum der verbotene Verzehr von Maultaschen schneller zum Skandal werden kann als die nicht minder geschmacklose Zugangverschafferei zu Robbie-Williams-Konzerten, doch fächert Überall die grobe PWC-Beschreibung noch weiter auf. In seiner Typologie des Korrupten taucht der "Gierige" ebenso auf wie der "Verunsicherte", der die sozialen Codes auf seiner Ebene des Managements oder der Auftragsverwaltung nicht hinreichend beherrscht und darum eher aus Hilflosigkeit zum sozialen Schmiermittel greift.

Analytische Ansätze kommen bei so grober Typologie und Kasuistik in Überalls Buch leider ein wenig zu kurz. Gewiss, die nachgerade peinliche Zögerlichkeit der Bundesregierung, UN-Konventionen oder EU-Recht zur Korruptionsbekämpfung umzusetzen, wird gegeißelt. An einem legaldefinierten Konzept von "Korruption" fehlt es überdies, ohne dass viele Juristen darum auf die Barrikaden stiegen oder von Polizeigewerkschaftlern empörte Erklärungen zu hören wären.

Transparenz-Berichte von Seiten des Bundeskriminalamts oder von "transparency international" lobt Überall hingegen ebenso, wie jene Schulungen, die eine kirchliche Unternehmensberatung ihrer Klientel aus der klerikalen Vermögensverwaltung angedeihen lässt, um der Verführung nicht zu erliegen.

Korruption soll "sexy" sein

Damit erschöpft sich die Erklärung über den Verbreitungsgrad von Korruption in Deutschland und anderenorts aber leider mit einem schlichten: Sie sei eben "sexy". Das Stichwort "sexy" lenkt uns nun von Frank Überalls Buch und der Frage ab, ob es beim vorweihnachtlichen Buchhandlungsbesuch in Augenschein genommen werden sollte, und richtet den Blick auf jene Religion, der man heute wohl die größten Anstrengungen beim Austreiben von Versuchungen aller Art zuschreibt. – Was also hat uns "der" Islam zu sagen?

Dass die Sharia als normativer Hintergrund für Rechtsordnungen, denen rund eine Milliarde Menschen mehr oder weniger intensiv unterworfen sind, zur Schnittstelle von Recht und Versuchung mehr Antworten feilbietet als die einer absurden orientalischen Sexualmoral, entwickelt Siti Faridah Abdul Jabbar in seinem Aufsatz "Money laundering laws and principles of Shari’ah: dancing to the same beat?". Veröffentlicht hat ihn der an der Universität von Kenbangsaan, Malaysia, lehrende Dozent nicht in irgendeiner obskuren muslimischen Kirchenzeitung, sondern im "Journal of Money Laundering Control" (2011, Seiten 198-209), das regelmäßig hoch seriöse juristisch-dogmatische wie auch rechtssoziologische Studien bringt.

Jabbar stellt in seiner rechtsdogmatischen Untersuchung zur Frage, ob und wie weit die internationalen, meist nach US-amerikanischem Vorbild entwickelten Normen zur Bekämpfung von Geldwäsche mit dem Recht der Sharia vereinbar sind. Die Bereicherung an unrechtmäßig erworbenem Gut sei "haram", also verboten, unrein. Man kennt den Begriff hierzulande von muslimischen Menschen, die es beim Essen ganz genau nehmen, also nur schweinefleisch- und alkoholfreie Dinge konsumieren, die "halal" sind, also rein beziehungsweise erlaubt. Geld, das aus verbotenen Geschäften stammt oder sie bezweckt, ist nach diesem uralten, religiös imprägnierten Konzept "haram". Geldwäsche, also Finanztransaktionen, die eine illegale Herkunft von Geld verschleiern sollen, sind demnach unrein und verboten.

Einer der rechtsdogmatischen Bausteine, mit denen Siti Faridah Abdul Jabbar die These der Deckungsgleichheit von Sharia und modernem, US-amerikanisch inspiriertem Geldwäscherecht untermauert, wirkt etwas bizarr. Er führt nämlich aus, dass der Prophet Mohammed mit normativer Autorität gesagt habe: "[The] sweat of a person who unjustly enriches himself is void."

Nun ist es im Abendland leider etwas aus der Mode gekommen, in juristischen Diskussionen zum Beispiel die vergleichbar amüsante Frage zu stellen, ob sich ein Zusammenhang herstellen lässt zwischen der Höhe der Hartz-IV-Tarife und dem Umstand, dass Jesus Christus im ganzen Neuen Testament wohl niemals Bargeld in die Hand genommen hat. Aber womöglich helfen die uralten orientalischen Gleichnisse und ihre körperlichen Metaphern mitunter weiter: Vielleicht liegt in den Grenzfällen der kleinen Korruption des Alltags die Beurteilung in der physischen Selbstwahrnehmung: Steht eine der beteiligten Personen, der potenzielle Bestecher oder der potenziell Bestochene, vielleicht auch alle Beide, in der Situation vor einem Schweißausbruch, ist der Vorgang heikel, sozusagen "haram".

Übertragen in den Hinterkopf der deutschen Kindergärtnerin hieße das: "Wollen die Eltern mit den Plätzchen gute Stimmung für ihren Rotzlöffel machen (Bestechung) oder wollen sie mich einfach nur fett werden lassen (neutrale Gabe)?" Wenn die deutsche Verwaltungsangestellte (m/w) in Grenzfällen schwitzt, sollte sie bei hilfsweise analoger Anwendung muslimischer Rechtsideen also eine Gabe auch noch so dürftiger Art ablehnen.

Empirisch-juristisches Mikroexperiment zu Weihnachten 2011

Zugegeben, am forensischen Beweis über die Schweißausbrüche oder die Gedankengänge korruptionsverdächtiger Personen wird man noch etwas arbeiten müssen. Auch dürfte die Übertragung normativer Ideen eines orientalischen Propheten wenig populär sein.

Aber wir haben ja auch noch kein abschließendes Wort über die Qualitäten des Buches von Frank Überall verloren. Grobe inhaltliche Schnitzer finden sich nur wenige. Juristen werden zum Beispiel beim Versuch des Politikwissenschaftlers aufstöhnen, den Verbotsirrtum zu definieren. Philosophen dürften den Kopf schütteln, wenn sie Bernard Mandeville (1670-1733) – einen britischen Arzt und Philosophen holländischer Herkunft –  bei Überall als  "niederländischen Soziologen" wiederfinden.

Eher ist das Buch ein bisschen ermüdend kleinteilig und aus vielen Szenen und Informationshappen "zusammengeschnitten", wie das allzu oft der Fall ist, wenn Rundfunk- und TV-Journalisten längere Texte zu schreiben versuchen.

Aber das muss ja alles nicht stören, denn wer liest schon die Bücher selbst, die gegen Jahresende gekauft werden. Sicherlich kennen Sie in Ihrem Unternehmen oder der Behörde, mit der Ihr Unternehmen oft zu tun hat, jemanden, der etwas zu entscheiden hat – über Beförderungen oder Genehmigungen, Investitionen oder die Kontakte zur Macht. Vielleicht schenken Sie ihm oder ihr zu Weihnachten das Buch "Abgeschmiert. Wie Deutschland durch Korruption heruntergewirtschaftet wird" von Frank Überall.

Denn damit würden Sie sich in den Dienst der Wissenschaft stellen, genauer gesagt: der Rechtssoziologie. Entweder, Ihr Geschenk wird als Form der Beleidigung interpretiert. Dann wäre empirisch nachzufassen, ob die Ehrverletzung im geringen Wert des Buches oder der Humorlosigkeit Ihres Gegenübers liegt.

Oder Ihr Geschenk gilt als Form der Bestechung. Dann kämen Sie, vorausgesetzt Ihr Gegenüber findet über die Feiertage Zeit zum Lesen, in Zukunft nicht mehr für Geschäfte der "haram"-Art in Betracht. Hier müsste empirisch messbar eine Korrelation zwischen den Verkaufszahlen des Buches und der Zahl der Korruptionsdelikte im Jahr 2012 herzustellen sein.

Nicht, dass wir das wirklich glauben. Aber wir schenken uns selbst für die bald einbrechende Vorweihnachtszeit einfach einmal diesen frommen Gedanken.

Martin Rath, freier Lektor und Journalist in Köln. Das Überall’sche Buch wurde als Rezensionsexemplar von Verlag kostenlos zur Verfügung gestellt. Im Übrigen bestehen aktuell keine Beziehungen zwischen dem Verlag und dem Lektor.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Geld und Geschenke in der Grauzone: Korruption fängt bei Keksen an . In: Legal Tribune Online, 19.11.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4845/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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