Die Revolution im Asylrecht ist ausgeblieben: Der EuGH überlässt es den Mitgliedstaaten, humanitäre Visa für Drittstaatenangehörige wie etwa Syrer auszustellen. Verpflichtet sind die Länder dazu nicht.
Visa für längere Aufenthalte in den Mitgliedstaaten fallen nicht unter den Visakodex der Europäischen Union. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag entschieden (Urt. v. 07.03.2017, C-638/16 PPU).
Die Mitgliedstaaten der europäischen Union seien daher auch nach dem Unionsrecht nicht verpflichtet, Personen, die sich in ihr Hoheitsgebiet begeben möchten, um dort Asyl zu beantragen, ein humanitäres Visum zu erteilen. Es stehe ihnen frei, so die Luxemburger Richter, dies auf der Grundlage ihres nationalen Rechts zu tun.
Das Unionsrecht aber lege nur die Verfahren und Voraussetzungen fest zur Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte dort für maximal 90 Tage.
Ziel: Raus aus Aleppo
Ein Ehepaar mit drei kleinen Kindern, das in der seit Jahren umkämpften Stadt Aleppo in Syrien lebt, hatte am 12. Oktober 2016 in der belgischen Botschaft in Beirut im Libanon Visumsanträge gestellt. Am darauffolgenden Tag kehrten sie nach Syrien zurück.
Mit ihren Anträgen begehrten sie die Erteilung von Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit nach dem EU-Visakodex, der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009. Dieser Kodex ist die in Schengen-Staaten unmittelbar geltende europarechtliche Grundlage sowohl für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Schengen-Gebiet als auch für kurzfristige Aufenthalte im Schengengebiet durch Drittstaatenangehörige.
Mit dem Visum wollte die Familie Aleppo verlassen, um in Belgien einen Asylantrag zu stellen. Einer der Ehepartner hatte erklärt, er sei von einer bewaffneten Gruppe entführt, geschlagen und gefoltert worden, bevor er schließlich gegen Lösegeld freigelassen worden sei. Die Eheleuteführten zudem insbesondere die Verschlechterung der Sicherheitslage in Syrien im Allgemeinen und in Aleppo im Besonderen an. Schließlich seien sie aufgrund ihres christlich-orthodoxen Glaubens der Gefahr einer Verfolgung wegen ihrer religiösen Überzeugung ausgesetzt.
Weil die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien zwischenzeitlich geschlossen worden sei, habe die Familie keine Möglichkeit, sich in einem der angrenzenden Länder als Flüchtling registrieren zu lassen. Dabei verpflichteten, so die Argumentation der Syrer, die Charta der Grundrechte der EU und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) die Mitgliedstaaten positiv dazu, das Asylrecht zu gewährleisten. Die Gewährung internationalen Schutzes sei das einzige Mittel, um die Gefahr eines Verstoßes gegen das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung abzuwenden.
Belgisches Ausländeramt behielt Recht
Am 18.Oktober 2016 lehnte das Ausländeramt in Belgien die Anträge ab. Die Familie wolle in Belgien einen Asylantrag stellen. Daher plane sie offensichtlich, sich länger als 90 Tage in Belgien aufzuhalten. Derartige langfristige Visa seien aber vom Visakodex nicht gedeckt. Darüber hinaus seien die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, alle Personen, die eine katastrophale Situation erlebten, in ihr Hoheitsgebiet aufzunehmen.
Die syrische Familie focht die Ablehnungsentscheidung vor dem Conseil du contentieux des étrangers, dem Rat für Ausländerstreitsachen in Belgien an. Dieser legte dem EuGH die Fragen zur Vorabentscheidung vor.
2/2: Generalanwalt wollte Pflicht zur Humanität
Der Generalanwalt regte in seinen Schlussanträgen vom 7. Februar 2017 eine kleine Revolution an: Er vertrat die Ansicht, die Syrer fielen mit ihrer Situation unter das Unionsrecht und den Visakodex. Bei der Erteilung von Visa führten die Mitgliedstaaten Unionsrecht durch und seien daher verpflichtet, die in der Charta garantierten Rechte zu wahren.
Ein Mitgliedstaat könne verpflichtet sein, Drittstaatenangehörigen ein Visum zu erteilen. Das gelte dann, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass den Menschen ohne das Visum Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung drohten. Das folge aus Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Gebe es diese Pflicht zur Visumserteilung nicht, werde den Drittstaatenangehörigen das Recht vorenthalten, in der Europäischen Union um internationalen Schutz zu ersuchen.
Für den Generalanwalt stand fest, dass die Antragsteller in Syrien zumindest der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung von extremer Schwere ausgesetzt waren, die eindeutig unter das Verbot nach Art. 4 der Charta falle. Insbesondere in Anbetracht der Informationen, die über die Lage in Syrien verfügbar seien, dürfe der belgische Staat nicht den Schluss ziehen, dass er davon befreit sei, seiner positiven Verpflichtung nach Art.4 der Charta nachzukommen.
Anträge fallen nicht unter Visakodex
Diesen Erwägungen folgt der EuGH schon in der Grundannahme nicht: Das Gericht weist in seinem Urteil zunächst darauf hin, dass die Regelungen zum Visakodex lediglich geplante 90-tägige Aufenthalte innerhalb von insgesamt 180 Tagen beträfen.
Die syrische Familie habe ihre Anträge auf Visa aus humanitären Gründen aber in der Absicht gestellt, in Belgien Asyl und somit einen nicht auf 90 Tage beschränkten Aufenthaltstitel zu beantragen. Demzufolge sei der Visakodex gar nicht anwendbar.
"Zwar ist die Auffassung des EuGH, der Visakodex regele nur Aufenthalte von bis zu 90 Tagen Dauer, zutreffend, so dass das Urteil insofern folgerichtig erscheint", sagt Marcel Keienborg, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Asylrecht und Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Allerdings diene der Visakodex nicht nur der Festschreibung, sondern auch der Weiterentwicklung einer europäischen Visumpolitik. „Dabei müssen auch Grundrechte eine Rolle spielen. Indem der EuGH sich gar nicht mit diesem Aspekt auseinandergesetzt zu haben scheint, hat er leider die Chance verpasst, grundrechtsorientierte Maßstäbe für diese Weiterentwicklung aufzustellen."
Die Luxemburger Richter erklärten indes, es gebe bisher keine europäischen Regelungen für Visa oder Aufenthaltstitel für einen langfristigen Aufenthalt für Drittstaatenangehörige aus humanitären Gründen.
Daher seien die Anträge der syrischen Familie allein nach nationalem Recht zu beurteilen, auch die Vorschriften der Charta fänden keine Anwendung, so der EuGH. Eine Möglichkeit zu schaffen, durch Visumsanträge internationalen Schutz im Mitgliedstaat ihrer Wahl zu erreichen, würde das System der nationalen Regelungen beeinträchtigen.
Tanja Podolski, EuGH zur Erteilung von Visa für Drittstaatenangehörige: Humanität bleibt Sache der Mitgliedstaaten . In: Legal Tribune Online, 07.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22292/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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