Missbrauchsopfer scheitern mit Entschädigungsklage vorm EGMR: Immunität für den Hei­ligen Stuhl

Gastbeitrag von Holger Hembach

30.10.2021

Die lasche Reaktion der Kirchen auf den Missbrauchsskandal hat viel Kritik hervorgerufen – nicht nur in Deutschland. Auch der EGMR lässt die Opfer im Regen stehen und überrascht mit einer lebensfremden Begründung, meint Volker Hembach. 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die Europäische Menschenrechtkonvention (EMRK) belgische Gerichte nicht verpflichtet, sich mit Klagen gegen den Heiligen Stuhl auseinanderzusetzen (Beschwerdenr. 11625/17).  

Bei den Beschwerdeführern handelte es sich um 24 Opfer des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Sie hatten deshalb in Belgien eine Klage auf Schadensersatz erhoben. Diese Klage richtete sich sowohl gegen den Heiligen Stuhl als auch gegen einen Erzbischof und verschiedene andere kirchliche Würdenträger und Einrichtungen. Die Kläger machten vor allem geltend, die Kirche habe durch ihr Stillschweigen und durch ihren Umgang mit dem Problem des sexuellen Missbrauchs durch Priester Schäden verursacht. Die belgischen Gerichte wiesen die Klage ab, ohne das Vorbringen der Kläger zu prüfen. Sie waren der Auffassung, der Heilige Stuhl genieße als Staat Immunität gegen derartige Klagen.  

Die Kläger legten dagegen Beschwerde beim EGMR ein. Sie führten aus, die Weigerung der belgischen Gerichte, die Klage inhaltlich zu prüfen, verletze ihr Recht auf ein faires Verfahren.  

Staatenimmunität des Vatikans 

Tatsächlich entspricht es der langjährigen Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf ein faires Verfahren, dass Klägern die Möglichkeit eingeräumt wird, ein Gerichtsverfahren führen zu können. Das Gebot erschöpft sich also nicht darin, dass ein Verfahren fair sein muss, wenn es denn stattfindet. Es umfasst auch das Recht, überhaupt ein Verfahren zu bekommen. 

Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht ohne Einschränkung. Es gibt Ausnahmen, also Situationen, in denen Kläger kein durch die EMRK geschütztes Recht darauf haben, dass Gerichte ihren Fall inhaltlich prüfen. Der EGMR setzte sich deshalb mit der Frage auseinander, ob eine solche Ausnahme vorlag oder die Entscheidung der belgischen Gerichte die Grundrechte der Beschwerdeführer verletzt hat.  

Gleichrangigkeit der Staaten 

Staaten genießen bei hoheitlichem Handeln nach internationalem Recht Immunität vor den Gerichten anderer Staaten. Die erste Frage war daher, ob diese Immunität auch dem Heiligen Stuhl die Immunität von Staaten zugutekommt. Das ist eine Folge des Grundsatzes von souveränen Staaten. Wenn Staaten aber gleichrangig sind, so der Gedanke, kann ein Gericht eines Staates nicht über das Verhalten eines anderen Staates urteilen. Dieser Grundsatz ist auch in einem Übereinkommen der Vereinten Nationen festgelegt.  

Allerdings ist der Heilige Stuhl kein Staat im eigentlichen Sinn. Der EGMR verwies aber darauf, dass der Heilige Stuhl mehrere internationale Abkommen unterzeichnet hat und im internationalen Rechtsverkehr wie ein Staat behandelt wird. Dies müsse dann auch im Bereich der Immunität gelten, folgerte der Gerichtshof. Diese Einschätzung steht im Einklang mit den Entscheidungen anderer Gerichte und entspricht der herrschenden Lehre in der Rechtswissenschaft.  

Staatenimmunität hat lange gerichtliche Historie 

Dann wandte sich der Gerichtshof der wichtigsten Frage zu: Gilt eine Ausnahme vom Grundsatz der Immunität von Staaten, wenn es um schwere Verstöße gegen Menschenrechte geht?  

Die Beschwerdeführer machten geltend, der jahrelange sexuelle Missbrauch durch katholische Priester sei eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung habe im internationalen Recht eine besondere Bedeutung. Deshalb müsse das Prinzip der Staatenimmunität in diesem Bereich durchbrochen werden.  

Die Frage nach Ausnahmen vom Grundsatz der Immunität bei möglichen schweren Verstößen gegen Menschenrechte, wird bereits lange diskutiert. Der Internationale Gerichtshof (IGH) setzte im Jahr 2012 einen vorläufigen Schlusspunkt unter die Debatte. Mehrere italienische Gerichte hatten entschieden, dass Deutschland für Menschenrechtsverletzungen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden könne. Deutschland initiierte ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof. Dieser entschied, dass das Prinzip der Staatenimmunität auch in diesem Fall gelte (Germany v. Italy: Greece intervening, Urt. v. 03.02.2012).  

EGMR folgt Internationalem Gerichtshof 

Auch der EGMR entschied mehrfach in diesem Sinne. Bereits im Jahr 2001 urteilte er, dass ein Beschwerdeführer nicht berechtigt war, den Emir von Kuweit in Großbritannien zu verklagen (Al-Adsani g. Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 35763/97, Urt. der Großen Kammer vom 21.11.2001). Der Betroffene hatte behauptet, der Emir habe ihn schwer foltern lassen.  

Später bestätigte der Gerichtshof seine Auffassung noch einmal im Fall eines Mannes, der angab, in einem Gefängnis in Saudi-Arabien wiederholt gefoltert worden zu sein (Jones u.a. g. Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 34356/06, Urt. v. 14.01.2014).  

Britische Gerichte verneinten ihre Zuständigkeit für eine Klage gegen die Person, die die Folter vorgenommen hatte. Auch ihnen komme die staatliche Immunität zugute. Der Gerichtshof bezog sich dabei ausdrücklich auf das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall Deutschland gegen Italien. 

EGMR lehnt Ausnahme von Staatenimmunität ab 

An diese Rechtsprechung knüpfte der EGMR im Fall der belgischen Missbrauchsopfer an. Er entschied, dass das Recht der Beschwerdeführer auf ein faires Verfahren nicht dadurch verletzt werde, dass die belgischen Gerichte auf die Immunität des Heiligen Stuhls verwiesen hatten.  

Der Gerichtshof erkannte an, dass die Beschwerdeopfer in ihrem Recht auf Zugang zu einem Gericht beschränkt worden seien. Diese Beschränkung sei aber gerechtfertigt, weil der Grundsatz der Staatenimmunität im internationalen Recht anerkannt sei. Das Urteil des EGMR bringt also auf den ersten Blick nicht viel Neues.  

Staat sollte die Gerichtsbarkeit über die Kirchen erhalten 

Dennoch gibt es einige Besonderheiten, die möglicherweise eine andere Beurteilung gerechtfertigt hätten - darauf wies auch der Richter Pavli in einer abweichenden Meinung hin. Die katholische Kirche ist in vielen Ländern langfristig aktiv. Ihre Einrichtungen und Mitarbeiter spielen oft eine wichtige Rolle in den Gesellschaften, in denen sie tätig ist. Das prägt auch die Interessenlage: Wenn die Kirche dauerhaften Einfluss auf das Leben der Bürger eines Staates hat, spricht viel dafür, diesem Staat auch die Gerichtsbarkeit dafür zuzugestehen.  

Anders als bei der angeblichen Folter durch den Emir von Kuwait oder die Misshandlung eines britischen Staatsangehörigen in einem saudi-arabischen Gefängnis, geht es hier nicht um das Verhalten eines Staates innerhalb seiner eigenen Grenzen. Im Gegensatz zum Fall Deutschland gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof ging es auch nicht um das Verhalten von Besatzungstruppen. In Rede stand vielmehr der jahrzehntelange Missbrauch von Kindern im direkten Zusammenhang mit der Tätigkeit der katholischen Kirche in Belgien. 

Lebensfremde Einschätzung über die Einflussnahme des Vatikans 

Auch das UN-Übereinkommen zur Staatenimmunität unterscheidet grundsätzlich Maßnahmen eines Staates innerhalb seiner eigenen Grenzen vom Verhalten auf dem Gebiet eines anderen Staates. Es sieht vor, dass Staaten keine Immunität genießen, wenn ihre Vertreter im Gebiet eines anderen Staates Schäden an Leben oder Gesundheit verursachen.  

Der EGMR sah diese Ausnahme nicht als einschlägig an. Er ging auf Grundlage einer Stellungnahme des Heiligen Stuhls davon aus, dass die belgischen Bischöfe ihr Amt unabhängig ausübten. Sie hätten ihre Entscheidungen über den Umgang mit dem Missbrauch eigenständig getroffen, ohne dass der Heilige Stuhl hierfür verantwortlich gemacht werden könne. Doch dieses Argument scheint in Anbetracht der ausgeprägten Hierarchie in der katholischen Kirche und der Rolle des Papstes eher lebensfremd. 

Darüber hinaus führt es zu einer Ungleichbehandlung verschiedener Religionen, die Immunität des Heiligen Stuhl anzuerkennen. Die katholische Kirche ist zu unterscheiden vom Heiligen Stuhl als staatlichem Gebilde; im Ergebnis kommt ihr die staatliche Immunität aber zugute. Andere Religionen und ihre Institutionen genießen diesen Vorteil nicht. Dies ist historisch begründet. Es stellt sich aber die Frage, ob eine solche Privilegierung in einer zunehmend diversen und pluralistischen Gesellschaft noch zeitgemäß ist. 

Der Autor Holger Hembach ist Rechtsanwalt und spezialisiert auf Menschenrechte. Er vertritt Mandanten beim EGMR und ist Autor eines Buches zur Beschwerde beim EGMR.  

Zitiervorschlag

Missbrauchsopfer scheitern mit Entschädigungsklage vorm EGMR: Immunität für den Heiligen Stuhl . In: Legal Tribune Online, 30.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46512/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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