Der Prozess gegen Verena Becker: Mitgefangen – Mitgehangen?

von Prof. Dr. Thomas Rotsch

07.10.2010

Hat Verena Becker am 7. April 1977 den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen? Obwohl selbst die Bundesanwaltschaft nicht davon ausgeht, dass Becker auf dem Tatmotorrad saß, muss sie sich seit Donnerstag vor dem OLG Stuttgart verantworten. Weshalb die Anklage wegen mittäterschaftlichen Mordes nicht zu halten ist – von Prof. Dr. Thomas Rotsch.

Michael Buback will nach über 33 Jahren endlich die Wahrheit über die Ermordung seines Vaters erfahren. Der Sohn des ehemaligen Generalbundesanwalts Siegfried Buback, der in dem Verfahren gegen Verena Becker als Nebenkläger auftritt, ist überzeugt davon, dass sie die Todesschützin ist. Nach eigener Aussage geht es ihm jedoch nicht darum, "dass Verena Becker nun verurteilt wird, weil sie Briefmarken auf Bekennerbriefe geklebt hat." Wenn es nach dem Willen der Bundesanwaltschaft geht, soll aber genau dies geschehen.

Nach der Anklageschrift ist Verena Becker hinreichend verdächtig, sich als Mittäterin an dem Attentat der terroristischen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" (RAF) vom 7. April 1977 auf den damaligen Leiter der Bundesanwaltschaft beteiligt zu haben. Anders als Michael Buback sieht die Bundesanwaltschaft keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Verena Becker bei der von einem Motorrad aus begangenen Ermordung des damaligen Generalbundesanwalts unmittelbar anwesend war.

Sie meint jedoch, ihr nachweisen zu können, dass sie maßgeblich an der Entscheidung für den Mordanschlag, an dessen Planung und Vorbereitung sowie der Verbreitung von Selbstbezichtigungsschreiben der "RAF" beteiligt war, die diese etwa eine Woche nach der Tat an verschiedene Zeitungsverlage und Presseagenturen verschickt hatte. Darauf stützt die Bundesanwaltschaft ihre Anklage wegen gemeinschaftlichen Mordes, die das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) unverändert zugelassen hat.

Keine Mittäterschaft nach Ansicht des BGH

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat diese Umstände in seinem Beschluss vom 23. Dezember 2009, mit dem er die Entlassung Beckers aus der Untersuchungshaft angeordnet hatte, ganz anders bewertet. Nicht des mittäterschaftlichen Mordes, sondern allenfalls der Beihilfe hierzu sei die Beschuldigte dringend verdächtig. Dabei hat der BGH freilich nicht – wie dies in Presseberichten immer wieder zu lesen war – den Haftbefehl aus diesem Grund, sondern deshalb aufgehoben, weil der für die Anordnung von Untersuchungshaft erforderliche Haftgrund gem. § 112 Abs. 1 S. 1 der Strafprozessordnung (StPO) nach Ansicht der Bundesrichter nicht vorlag.

Daran ist zweierlei erstaunlich. Zunächst scheint die konkrete Tatkonstellation im Hinblick auf die beteiligten Mitglieder der "RAF" undurchsichtiger denn je. Während mit Knut Folkerts, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt 1980 bzw. 1985 bereits drei ehemalige Mitglieder der "RAF" wegen der Ermordung Bubacks verurteilt wurden, hatte man die Ermittlungen gegen Verena Becker seinerzeit mangels hinreichenden Tatverdachts gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

30 Jahre danach gehen sowohl der BGH wie auch die Bundesanwaltschaft im Hinblick auf die Rolle von Becker von demselben Sachverhalt aus. Das bedeutet, dass Verena Becker weder als der ominöse Sozius, der vom Motorrad aus die tödlichen Schüsse abgab, noch als eine der beiden anderen unmittelbar an der Tat Beteiligten in Betracht kommt. Dennoch hält die Bundesanwaltschaft an ihrem Vorwurf des mittäterschaftlichen Mordes fest.

In strafrechtsdogmatischer Hinsicht erstaunlich ist darüber hinaus freilich die deutliche Distanzierung des BGH von der Mittäterschaftsthese. Nach den Ermittlungen habe die Beschuldigte sich in besonders intensiver Weise dafür eingesetzt, den von den in Stammheim einsitzenden Führungsmitgliedern der "RAF" erteilten Befehl zur Tötung Bubacks umzusetzen. Auch sei sie an den Vorbereitungen des Anschlags auf Buback beteiligt gewesen. Auf drei Umschlägen, in denen Kopien der Selbstbezichtigungsschreiben versandt wurden, seien Speichelspuren Beckers gefunden worden. Schließlich habe man bei ihr und dem weiteren Tatverdächtigen Günter Sonnenberg bei deren Festnahme etwa einen Monat nach der Tat die Tatwaffe sichergestellt.

All dies begründet nach Ansicht des BGH eine "gewisse Nähe" zur Tat sowie eine aktive Beteiligung an dem Nachtatgeschehen. Für die Bundesrichter führt dies "mit großer Wahrscheinlichkeit" – lediglich – zu einer Strafbarkeit wegen Beihilfe zu dem Attentat, das für Buback und seine beiden Begleiter tödlich endete.

Mittäterschaft oder Beihilfe

Durchaus erstaunlich sind diese Ausführungen des BGH deshalb, weil er – von der Strafrechtswissenschaft deutlich kritisiert – bislang ein sehr weites Mittäterschaftsverständnis vertreten hat. Seit jeher wird in der strafrechtlichen Literatur völlig zu Recht kritisiert, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung jede beliebige und noch so geringfügige Mitwirkung im Vorbereitungsstadium einer Tat Mittäterschaft begründen kann. Damit werden insbesondere Handlungen, die typischerweise der Beihilfe gem. § 27 des Strafgesetzbuches (StGB) zuzuordnen sind, zu (mit-)täterschaftlichen Handlungen nach § 25 Abs. 2 StGB aufgewertet – und können dementsprechend schwerer bestraft werden. Denn der Mittäter wird nach § 25 Abs. 2 StGB"als Täter bestraft", während die Strafe für den Gehilfen zu mildern ist (§ 27 Abs. 2 S. 2 StGB).

Die vom Gesetzgeber in den §§ 25 ff. StGB normierte Unterscheidung zwischen Täterschaft (§ 25 StGB) einerseits und Teilnahme (§§ 26, 27 StGB) anderseits wird durch diese Rechtsprechung unterlaufen.

Kann die Tat beherrschen, wer nicht am Tatort ist?

Nach der ganz überwiegend in der Strafrechtswissenschaft vertretenen Tatherrschaftslehre, der sich auch der BGH immer mehr annähert, unterscheidet den Täter vom Teilnehmer die so genannte "Tatherrschaft", also die Beherrschung der Tat. Bei der Mittäterschaft, die sich gerade durch eine arbeitsteilige Vorgehensweise auszeichnet, muss es dementsprechend mehrere, nämlich mindestens zwei "Tatherren" beziehungsweise Mittäter geben. Voraussetzung sind ein gemeinsamer Tatplan und die gemeinsame Tatausführung der an der Tat Beteiligten.

Besonders schwierig zu beurteilen sind seit jeher diejenigen Fälle, in denen einer der potentiellen Mittäter nicht am Tatort anwesend, sondern nur in der Vorbereitungsphase (oder eben erst nach der Tat) tätig geworden ist. Während die strafrechtswissenschaftliche Literatur hier weithin wenigstens verlangt, dass die im Vorbereitungsstadium einer Tat geleisteten Beiträge in ihr Ausführungsstadium hinein fortwirken, hat der BGH unter heftiger Kritik der Literatur gar schon die bloße Zusage der Mitwirkung als mittäterschaftsbegründend angesehen (BGHSt 16, 12; 37, 289).

Das Bestreben der Rechtsprechung, einen Beschuldigten nicht lediglich als Teilnehmer, sondern als Täter einer Straftat bestrafen zu können, erscheint kriminalpolitisch häufig durchaus nachvollziehbar.

Mit der herrschenden Doktrin der Tatherrschaft verträgt es sich allerdings allzu oft nicht. Immer häufiger ist in jüngerer Zeit die Klage zu hören, dass in der deutschen Beteiligungslehre trotz jahrzehntelanger Bemühungen eine Abgrenzung der unterschiedlichen Beteiligungsformen noch immer nicht – manche behaupten: immer weniger – gelingt.

Die Bestimmung der Beteiligungsform setzt eine Klärung des Tatbegriffs voraus

Seinen Grund hat dies schlicht in dem Umstand, dass die Tatherrschaft eine "Herrschaft über die Tat" verlangt, allerdings bis heute völlige Uneinigkeit darüber herrscht, was unter dem Begriff der Tat eigentlich zu verstehen ist. Die Anklage der Bundesanwaltschaft zeigt dies deutlich. Während eine enge Auffassung hierzu nur den Zeitraum zwischen Versuchsbeginn und Tatvollendung zählen wird, rechnet die Bundesanwaltschaft die Tatvorbereitungen (!) und das Nachtatverhalten (!) zur Tat und nähert sich damit dem prozessualen Tatbegriff i.S.d. § 264 StPO an.

Es lässt sich leicht vorhersagen, dass vor einer Klärung des Tatbegriffs eine überzeugende Abgrenzung der Beteiligungsformen nicht gelingen wird.

Die deutliche Stellungnahme des BGH gegen die Annahme von Mittäterschaft in Sachen Verena Becker ist daher – auf dem Boden der getroffenen Feststellungen – zu begrüßen. Es ist zu wünschen, dass das OLG Stuttgart sich von der Klarstellung des BGH, Verena Becker komme nicht als Mittäterin, sondern allenfalls als Gehilfin in Betracht, nicht unbeeindruckt zeigt. Sollte die Hauptverhandlung freilich ergeben, dass Becker doch die Todesschützin war, ändert sich alles. Dann bekäme Michael Buback vielleicht doch noch seinen Frieden.

Der Autor Prof. Dr. Thomas Rotsch ist Inhaber der Professur für Straf- und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Völkerstrafrecht und Leiter des CCC – Center for Criminal Compliance der Universität Augsburg. Er ist Begründer und Mitherausgeber der ZIS (www.zis-online.com) und ZJS (www.zjs-online.com).

Zitiervorschlag

Thomas Rotsch, Der Prozess gegen Verena Becker: Mitgefangen – Mitgehangen? . In: Legal Tribune Online, 07.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1653/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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