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BVerwG zu Ablauf der Überstellungsfristen und unerlaubter Wiederkehr: Kein Flücht­ling in den Orbit

von Thomas Oberhäuser

28.04.2016

Unentschiedener Antrag auf Asyl

© Ralf Geithe - Fotolia.com

Für eine Abschiebung muss die Aufnahmebereitschaft des Landes positiv feststehen, entschied das BVerwG. Zu den Folgen einer illegalen Wiedereinreise für Rechtsbehelfe hat das Gericht den EuGH angerufen. Die Details erklärt Thomas Oberhäuser.

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Fristen für eine Überstellung müssen eingehalten werden

Asylanträge müssen grundsätzlich in den Ländern bearbeitet werden, in denen sie erstmals gestellt wurden. Ziehen die Schutzsuchenden weiter, müssen sie innerhalb von sechs Monaten in diese Länder zurück gebracht werden. Ansonsten können sich die Schutzsuchenden auf den Ablauf der Frist berufen, wenn die Aufnahmebereitschaft des anderen Landes nicht positiv feststeht. Die Regelung hat insofern individualschützenden Charakter. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) am Mittwoch entschieden (Urt. v. 27.04.2016, Az. 1 C 24.15). Das Gericht hatte zwei ähnlich gelagerte Fälle zu entscheiden.

Der Kläger im ersten Fall war iranischer Staatsangehöriger. Er beantragte in Deutschland Asyl, nachdem er das zuvor bereits in Ungarn getan hatte. Ungarn stimmte der Wiederaufnahme des Klägers im Rahmen des Dublin-Verfahrens zu, das Bundesamt für Migration lehnte den Antrag wegen anderweitiger Zuständigkeit als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Eine Überstellung nach Ungarn erfolgte aber innerhalb der nach der Dublin III-Verordnung (VO) einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht.

Ein Land muss zuständig sein

Schon das Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz hatte entschieden, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der Überstellungsfrist während des gerichtlichen Verfahrens von Ungarn auf Deutschland übergegangen sei (Beschl. v. 23.11.2015, Az. 1 A 10969/15). Hierauf könne sich der Iraner auch berufen, da Ungarn inzwischen nicht mehr aufnahmebereit sei.

Das BVerwG hat diesen individualschützenden Charakter der Überstellungsfrist jedenfalls für die Fälle bestätigt, in denen die fehlende Bereitschaft des ursprünglich zuständigen Mitgliedstaats zur Auf- oder Wiederaufnahme feststeht. Andernfalls drohe die Situation eines „refugee in orbit“, eines Schutzsuchenden, für den sich kein Mitgliedstaat zuständig zeigt. Dies widerspräche Sinn und Zweck der Dublin-Bestimmungen.

Ob sich ein Schutzsuchender auch dann auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen und den eigentlich unzuständigen Mitgliedstaat zum Selbsteintritt zwingen kann, wenn unklar ist, ob der andere Mitgliedstaat noch auf- oder wiederaufnahmebereit ist, konnte das BVerwG offen lassen. Das OVG hatte die fehlende Wiederaufnahmebereitschaft bindend festgestellt. Selbst, wenn diese nicht bindend geklärt sind, ist jedoch vom Individualschutz der Norm auszugehen. Die Bundesrichter haben mitgeteilt, die Bereitschaft müsse "positiv feststehen".

Bisherige Rechtsprechung hinfällig

Zur Frage, ob der Individualschutz auch besteht, wenn andere Verfahrensvorschriften der Dublin III-VO verletzt sind, sind derzeit zwei Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig (C-63/15 Ghezelbash und C-155/15 Karim). Die Generalanwältin ist in ihren Schlussanträgen bereits von dem generellen Individualschutz der Regelung ausgegangen.

Der bisher gängigen Rechtsprechung, wonach von einer fortbestehenden Auf- oder Wiederaufnahmebereitschaft auszugehen sei, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, wäre damit der Boden entzogen.

Aus Sicht der Betroffenen ist an dieser Entscheidung des BVerwG zu begrüßen, dass der Einzelne – zumindest bei fehlender Auf- oder Wiederaufnahmebereitschaft des anderen Mitgliedstaats – erfolgreich rügen kann, dass der Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, das geltende Recht nicht beachtet.

Vorläufiger Rechtsschutz unterbricht die Überstellungsfrist
2/2: Fall zwei - das Schweigen von Italien

In dem zweiten Fall ging es um eine Überstellung nach Italien. Ein Syrer hatte in Deutschland, zuvor allerdings bereits in Italien, Asyl beantragt. Italien reagierte nicht auf das Wiederaufnahmeersuchen. Deutschland lehnte den Antrag dann als unzulässig ab. Der Kläger beantragte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen diese Entscheidung. Dies lehnte das Verwaltungsgericht ab, später wies es auch die Klage ab. Rund elf Monate nach Antragstellung in Deutschland wurde der Syrer nach Italien abgeschoben. Er kehrte jedoch umgehend unerlaubt nach Deutschland zurück. Vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz hatte er mit seinem Rechtsmittel gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig Erfolg, da die Überstellungsfrist zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung abgelaufen gewesen sei (Urt. v. 03.11.2015, Az. 1 A 10805/15).

Italien antwortet auf Überstellungsersuchen grundsätzlich nicht. Die Zustimmung der italienischen Behörden wird deshalb regelmäßig fingiert. Nach Ablauf der Überstellungsfrist sei eine Überstellung auf dieser Grundlage aber nicht mehr zulässig, hatte das OVG befunden.

Das sieht das BVerwG anders (Beschl. v. 27.04.2016, Az. 1 C 22.15). Allerdings nicht, weil es dem Schutzsuchenden kein subjektives Recht zuerkannte, sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist zu berufen. Entscheidend sei, so das BVerwG, dass die Überstellungsfrist im streitgegenständlichen Verfahren nicht abgelaufen war. Der Schutzsuchende hatte nämlich vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Dieser Antrag wurde zwar abgelehnt. Der Lauf der Überstellungsfrist werde aber – so das BVerwG im Gegensatz zu vielen Obergerichten – durch einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nicht nur gehemmt, sondern unterbrochen. Dies hätte zur Folge, dass die Überstellungsfrist mit Ablehnung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz von neuem zu Laufen beginnt. Zum Zeitpunkt der Abschiebung des Schutzsuchenden sei die Überstellungsfrist deshalb noch nicht abgelaufen gewesen und die Überstellung folglich rechtmäßig.

Ende des vorläufigen Rechtsschutzes

Schutzsuchende müssen sich demzufolge entscheiden, ob sie überhaupt Eilrechtsschutz beantragen. Wird dem Antrag stattgegeben, beginnt die Überstellungsfrist erst mit Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache zu laufen. Bis dahin haben sie keinen Anspruch auf eine inhaltliche Prüfung ihres Schutzbegehrens, gegebenenfalls also über Jahre hin nicht.

Die Entscheidung wird zur Folge haben, dass viele Schutzsuchende von gerichtlichen Eilverfahren Abstand nehmen. Mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) ist dies schwerlich vereinbar, zumal wegen der Auslegung des Begriffs "Rechtsbehelf" in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO Anlass bestanden hätte, die Frage der Wirkung eines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz dem EuGH vorzulegen, da auch eine andere Rechtsfolge als eine Unterbrechung, namentlich die Hemmung des Fristablaufs, denkbar wird.

Mit der Beantwortung dieser Frage durch das BVerwG war das Verfahren aber noch nicht abgeschlossen. Der Schutzsuchende war ja kurz nach seiner Überstellung nach Italien unerlaubt erneut ins Bundesgebiet eingereist. Dies führte das BVerwG zu der Frage, welche Folgen die unerlaubte Wiedereinreise im Hinblick auf das Dublin-Verfahren hat. Weil die Dublin III-VO insoweit schweigt, zeigt das BVerwG verschiedene Lösungswege auf, überlässt die Auswahl des richtigen aber im Wege der Vorabentscheidung dem EuGH.

Dublin-III nicht mehr effizient und praktikabel

Bis zu einer Antwort des EuGH auf die ihm vorgelegten Fragen gilt, dass in einer vergleichbaren Konstellation aus einem Dublin-Bescheid nicht vollstreckt werden darf, sofern auch nur eine der vom BVerwG aufgezeigten Lösungsansätze zu einer Zuständigkeit Deutschlands für das Asylverfahren des Schutzsuchenden führt. Andernfalls würde möglicherweise gegen Unionsrecht verstoßen.

So klar das BVerwG mit dieser Entscheidung die Defizite der Dublin III-VO aufzeigt und so richtig die Vorlage an den EuGH ist, so schwierig ist es, im Dublin-System noch das zu erkennen, was es sein sollte: Eine effiziente, praktikable Zuständigkeitsregelung.

Der Autor Thomas Oberhäuser ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Ausländer- und Asylrecht im Deutschen Anwaltverein.

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Thomas Oberhäuser, BVerwG zu Ablauf der Überstellungsfristen und unerlaubter Wiederkehr: Kein Flüchtling in den Orbit . In: Legal Tribune Online, 28.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19241/ (abgerufen am: 20.03.2023 )

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