Für eine Abschiebung muss die Aufnahmebereitschaft des Landes positiv feststehen, entschied das BVerwG. Zu den Folgen einer illegalen Wiedereinreise für Rechtsbehelfe hat das Gericht den EuGH angerufen. Die Details erklärt Thomas Oberhäuser.
Asylanträge müssen grundsätzlich in den Ländern bearbeitet werden, in denen sie erstmals gestellt wurden. Ziehen die Schutzsuchenden weiter, müssen sie innerhalb von sechs Monaten in diese Länder zurück gebracht werden. Ansonsten können sich die Schutzsuchenden auf den Ablauf der Frist berufen, wenn die Aufnahmebereitschaft des anderen Landes nicht positiv feststeht. Die Regelung hat insofern individualschützenden Charakter. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) am Mittwoch entschieden (Urt. v. 27.04.2016, Az. 1 C 24.15). Das Gericht hatte zwei ähnlich gelagerte Fälle zu entscheiden.
Der Kläger im ersten Fall war iranischer Staatsangehöriger. Er beantragte in Deutschland Asyl, nachdem er das zuvor bereits in Ungarn getan hatte. Ungarn stimmte der Wiederaufnahme des Klägers im Rahmen des Dublin-Verfahrens zu, das Bundesamt für Migration lehnte den Antrag wegen anderweitiger Zuständigkeit als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Eine Überstellung nach Ungarn erfolgte aber innerhalb der nach der Dublin III-Verordnung (VO) einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht.
Ein Land muss zuständig sein
Schon das Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz hatte entschieden, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der Überstellungsfrist während des gerichtlichen Verfahrens von Ungarn auf Deutschland übergegangen sei (Beschl. v. 23.11.2015, Az. 1 A 10969/15). Hierauf könne sich der Iraner auch berufen, da Ungarn inzwischen nicht mehr aufnahmebereit sei.
Das BVerwG hat diesen individualschützenden Charakter der Überstellungsfrist jedenfalls für die Fälle bestätigt, in denen die fehlende Bereitschaft des ursprünglich zuständigen Mitgliedstaats zur Auf- oder Wiederaufnahme feststeht. Andernfalls drohe die Situation eines „refugee in orbit“, eines Schutzsuchenden, für den sich kein Mitgliedstaat zuständig zeigt. Dies widerspräche Sinn und Zweck der Dublin-Bestimmungen.
Ob sich ein Schutzsuchender auch dann auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen und den eigentlich unzuständigen Mitgliedstaat zum Selbsteintritt zwingen kann, wenn unklar ist, ob der andere Mitgliedstaat noch auf- oder wiederaufnahmebereit ist, konnte das BVerwG offen lassen. Das OVG hatte die fehlende Wiederaufnahmebereitschaft bindend festgestellt. Selbst, wenn diese nicht bindend geklärt sind, ist jedoch vom Individualschutz der Norm auszugehen. Die Bundesrichter haben mitgeteilt, die Bereitschaft müsse "positiv feststehen".
Bisherige Rechtsprechung hinfällig
Zur Frage, ob der Individualschutz auch besteht, wenn andere Verfahrensvorschriften der Dublin III-VO verletzt sind, sind derzeit zwei Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig (C-63/15 Ghezelbash und C-155/15 Karim). Die Generalanwältin ist in ihren Schlussanträgen bereits von dem generellen Individualschutz der Regelung ausgegangen.
Der bisher gängigen Rechtsprechung, wonach von einer fortbestehenden Auf- oder Wiederaufnahmebereitschaft auszugehen sei, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, wäre damit der Boden entzogen.
Aus Sicht der Betroffenen ist an dieser Entscheidung des BVerwG zu begrüßen, dass der Einzelne – zumindest bei fehlender Auf- oder Wiederaufnahmebereitschaft des anderen Mitgliedstaats – erfolgreich rügen kann, dass der Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, das geltende Recht nicht beachtet.
BVerwG zu Ablauf der Überstellungsfristen und unerlaubter Wiederkehr: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19241 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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