BMJ-Reformpapier zu Unterbringung in psychiatrischen Anstalten: Lehren aus dem Fall Mollath oder Wahlkampfpropaganda?

Das Bundesjustizministerium hat ein Eckpunktepapier zum Unterbringungsrecht erarbeiten lassen. Es soll schwieriger werden, Straftäter langjährig in der Psychiatrie zu behalten. Doch ein Experte zweifelt an der Umsetzbarkeit der Vorschläge - und erinnert daran, dass Sachverständige lieber einmal zu oft die Unterbringung empfehlen, als von der Öffentlichkeit für einen Fehler gekreuzigt zu werden.

"Kern der Überlegungen ist, durch ein engmaschiges Netz an Kontrollen dafür Sorge zu tragen, dass der massive Eingriff in die Freiheit der Betroffenen, den die Unterbringung darstellt, dort, wo er nicht zwingend angezeigt erscheint, vermieden wird." So heißt es in einer Meldung des Bundesjustizministeriums (BMJ) zu dem Anfang der Woche veröffentlichten Papier. Ein hehres Ziel, wenn man sich den drastischen Anstieg der nach § 63 Strafgesetzbuch (StGB) untergebrachten Straftäter - laut BMJ von knapp 3.000 im Jahr 1996 auf 6.750 im Jahr 2012, bezogen auf die alten Bundesländer - vor Augen führt.

Erreicht werden soll es durch eine Reihe von Umstellungen der aktuellen Gesetzeslage. So soll in Zukunft nicht mehr ausreichen, dass von dem Täter "infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist".

Vielmehr sollen nur solche erheblichen rechtswidrigen Taten genügen, durch die zudem "die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird". Nach acht Jahren der Unterbringung fällt zudem das Kriterium der Gefahr wirtschaftlicher Schäden weg.

Zahl der Unterbringungen seit 1996 mehr als verdoppelt, Schwerverbrechen rückläufig

"Das Anliegen, im Hinblick auf die Tiefe des Eingriffs die Zahl der Anordnungen zu beschränken, halte ich durchaus für begrüßenswert", kommentiert Thomas Ullenbruch, Richter am Amtsgericht Emmendingen. "Wenn man sich ansieht, dass die Menge an schweren Straftaten seit 1996 eher rückläufig ist, sich die Zahl der Unterbringungen aber mehr als verdoppelt hat, dann scheint da doch etwas im Argen zu liegen."

Bedenken hat der Mitherausgeber der Neuen Zeitschrift für Strafrecht jedoch hinsichtlich der praktischen Möglichkeit einer so exakten Prognose, wie der Entwurf sie vorsieht: "Ich spreche hier in meiner Funktion als Rechtswissenschaftler, nicht als Richter. Aber die Erfahrung lehrt doch, dass es ungemein schwer ist, überhaupt vorauszusehen, ob jemand in Zukunft straffällig werden wird. Dies außerdem hinsichtlich der Art und Schwere der künftigen Straftat zu spezifizieren, macht die Sache noch einmal komplizierter, und in vielen Fällen wird ganz einfach keine akkurate Vorhersage möglich sein."

Neben der Differenzierung nach bedrohten Schutzgütern sieht das Eckpunktepapier gleich mehrere Neuerungen bei der Überprüfung der Unterbringung vor. So soll § 67e Abs. 2 StGB künftig eine Prüfung der Maßnahme erstmalig vier Monate nach ihrer Anordnung, sodann nach weiteren acht und anschließend nach jeweils zwölf Monaten verlangen. Dadurch könnten "Fehleinschätzungen bei Anordnung der Maßnahme schnell korrigiert und Erfolge einer Therapie zeitnah berücksichtigt werden", heißt es in der Begründung.

Diese Überprüfungen müssen zudem jeweils von (neuen) Sachverständigengutachten getragen werden. Bislang sieht § 463 Abs. 4 Strafprozessordnung (StPO) lediglich vor, dass das Gericht bei der Überprüfung ein Sachverständigengutachten einholen "soll". Daraus will das Eckpunktepapier eine bindende Vorschrift machen; alle zwei Jahre soll zudem ein neuer Sachverständiger beauftragt werden, damit der bisherige nicht der Versuchung erliegt, seinen früheren Befund lediglich "fortzuschreiben". Nach sechs Jahren der Unterbringung sollen gar zwei neue Sachverständige hinzugezogen werden.

Im Zweifel lieber nicht entlassen

"Auch das halte ich im Grundsatz für keinen schlechten Gedanken, aber hier hat man die Rechnung ohne den Wirt gemacht", meint Ullenbruch. "Das Problem besteht darin, dass es schlicht nicht ausreichend viele gute Sachverständige in diesem Bereich gibt. Das ist ja nichts, was man mal eben im Abendkurs an der Uni lernen könnte, sondern eine ausgesprochen schwierige Materie, die Jahre der Übung erfordert. Ich wäre verblüfft, wenn sich im ganzen Land 100 kompetente Gutachter für diese Fälle finden würden." Wenn man nun die Fristen, in denen neue Gutachten fällig werden, so stark verkürzte, dann würden die vorhandenen Sachverständigen einfach nicht ausreichen, um all diese Gutachten zu erstellen, beurteilt der ehemalige Leiter einer Justizvollzugsanstalt die Situation.

Noch größere Schwierigkeiten sieht er aber bei der Anreizstruktur für Sachverständige: "Aus Sicht des Gutachters ist es fast immer der gefahrlosere Weg, eine Unterbringung zu empfehlen, als dies nicht zu tun", fasst Ullenbruch das Problem zusammen. "Denn wenn jemand, der auch entlassen werden könnte, auf Ihre Empfehlung hin in der Anstalt bleibt, stehen die Chancen gut, dass der Fehler niemandem auffällt. Wenn aber ein Täter wegen einer falschen wissenschaftlichen Expertise freigelassen wird und erneut eine schwere Straftat begeht, dann werden Sie als Gutachter von der Öffentlichkeit und den Medien ans Kreuz geschlagen. Ich denke, dieser schwierige Konflikt zwischen der Verpflichtung zur sauberen wissenschaftlichen Arbeit und einem gewissen Selbstschutz ist mit dafür verantwortlich, dass es überhaupt so wenige Experten auf dem Gebiet gibt."

Eine Lösung des Dilemmas setzt deshalb aus Ullenbruchs Sicht neben gesetzgeberischen Maßnahmen vor allem auch einen Wandel im Bewusstsein der Öffentlichkeit voraus: "Prognosen sind bekanntlich oft ungenau und Fehler lassen sich nicht immer vermeiden. Man muss sich als Gesellschaft deshalb fragen, was man schwerer erträglich findet: Dass jemand möglicherweise ohne Not in der Psychiatrie festgehalten wird, oder dass er zu Unrecht freikommt und ein neues Verbrechen begeht." In den Medien werde natürlich aus beiden Situationen ein Skandal gemacht und das Bewusstsein erzeugt, als wären wir von freilaufenden Mördern und eingewiesenen Unschuldigen umgeben, so der Experte. "Dabei ist die Verbrechensstatistik der letzten Jahre eigentlich recht positiv - nur geht das leider oftmals unter."

Zitiervorschlag

Constantin Baron van Lijnden, BMJ-Reformpapier zu Unterbringung in psychiatrischen Anstalten: Lehren aus dem Fall Mollath oder Wahlkampfpropaganda? . In: Legal Tribune Online, 19.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9176/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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