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Abwege der Rechtsgeschichte: Belich­tete Augen – absurde Kri­mi­na­listik

von Martin Rath

18.12.2011

Belichtete Augen – absurde Kriminalistik

© Tyler Olson - Fotolia.com

Bei Blitzlicht wird sie gerade in der Weihnachtsfotografie gerne in Gestalt "roter Augen" sichtbar: die Netzhaut. Rechtsmediziner und Fotografen erhofften sich geraume Zeit, die Retina kriminalwissenschaftlich auswerten zu können. Das neue Buch "Belichtete Augen" von Bernd Stiegler erzählt auch ein Stück absurder Rechtsgeschichte. Eine Rezension von Martin Rath.

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1924/25 wurde gegen den Angeklagten Fritz Angerstein wegen Mordes an seiner Frau und sieben weiteren Personen verhandelt. Das Verfahren zählte in der Weimarer Zeit zu den sensationellen "Massenmord"-Prozessen, ist aber – anders als die Strafsachen Fritz Hamann (Hannover) oder Peter Kürten (Düsseldorf) heute kaum bekannt.

Das Motiv des Angeklagten gab nicht nur der Justiz, sondern auch Angerstein Rätsel auf. Nach Angaben der "Deutschen Juristenzeitung" wurde wohl erstmals ein psychoanalytischer Sachverständiger hinzugezogen, der einen rätselhaften Triebstau konstatierte. Doch kam nicht nur zum ersten Mal die esoterische Lehre von Sigmund Freud vor einem deutschen Gericht zum Einsatz. Eine Wiener Zeitung wollte auch in Erfahrung gebracht haben, dass der Oberstaatsanwalt den Angeklagten Angerstein zudem – und das wohl letztmals in der deutschen Strafjustizgeschichte – mit einem kaum minder esoterisch anmutenden Beweismittel konfrontiert haben soll:

Ein Optogramm, also die phototechnische Auswertung von Bildern, die sich auf der Netzhaut der Getöteten "eingebrannt" hatten, hätte den ohnehin verdächtigen Angerstein als Täter bestätigt.

Netzhaut des Opfers "speichert" Täterbilder

In seinem jüngst erschienen Buch "Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina" zeichnet Bernd Stiegler, der lange den Wissenschaftsbereich des Suhrkamp-Verlages verantwortete und heute in Konstanz Literatur lehrt, die bizarre Geschichte der Optogramme nach.

Der Vorstellung, dass sich die letzten Bilder, die einem Lebewesen begegnen, das einem Gewaltakt zum Opfer fällt, auf der Netzhaut "einbrennt" wie das Bild auf der Platte eines zeitgenössischen Fotoapparats, wurde zunächst in Frankreich nachgegangen – dem Mutterland der Photographie.

1868 schickte der Arzt einer Provinzstadt in den Vogesen einen Brief an die Pariser Gesellschaften für Rechtsmedizin sowie für Medizinische Psychologie, mit dem er Bilder vorlegte, die er von den Netzhäuten zweier Mordopfer angefertigt hatte. In zwei Versammlungen diskutierten die Mediziner die wissenschaftliche Relevanz der Sache. Unter den urbanen Wissenschaftlern wurde Skepsis laut. Es gab aber auch den Hinweis auf vergleichbar rätselhafte Phänomene, etwa den Bericht, dass Uransalze auf Photomaterial chemisch nicht erklärbare Reaktionen auslösten (bis dies mit "Radioaktivität" erklärt werden konnte, sollte es noch Jahrzehnte dauern).

Dem Mediziner Auguste Gabriel Maxime Vernois, der sich bereits mit einer kritischen Untersuchung der Homöopathie verdient und mit einer vorbildlichen sozialmedizinischen Untersuchung der frühindustriellen Arbeitsplätze einen Namen gemacht hatte, wurde die empirische Prüfung der Hypothese übertragen, dass die Netzhaut in der beschriebenen Art als "Bildspeicher" diene.

Den Experimenten Vernois‘ fielen in der Folgezeit 16 Hunde und Katzen zum Opfer, als Befund veröffentlichte er späterhin durchgängig ein "rien" – "nichts", kein Bild war zu finden gewesen.

"Rien" – trotzdem geht die Idee um die Welt

Trotz des negativen Befunds ging die Idee um die Welt, wozu beigetragen haben mag, dass neben dem "rien" des Doktor Vernois auch der Brief seines Kollegen aus den Vogesen publiziert wurde. Zur Konjunktur der später von einem deutschen Gelehrten, dem Heidelberger Professor Friedrich Wilhelm Kühne, so genannten „Optogramme“ – die Stiegler für den Zeitraum zwischen den 1850er- und den 1920er-Jahren ausmacht –  trug sicher auch bei, dass in den Ländern der westlichen Welt die Fotografie zunächst ihren Siegeszug als forensisches Beweismittel erst noch antreten musste, galten Fotografen doch vielerorts als Künstler – mit entsprechend zweifelhaftem sozialen Renommee.

In einem US-amerikanischen Verfahren, "Eborn v. Zimpelman", in dem die Verwertbarkeit von fotografischem Material zu diskutieren war, wurde 1877 auch der forensische Wert von Netzhaut-Spuren problematisiert – mit recht aufgeschlossenen Worten. So heißt es bei den US-Richtern, dass der Mensch Objekte wahrnehmen könne, "weil sie von der Retina fotografiert" würden. Ihr Vertrauen in die zeitgenössische Forschung dokumentierten sie mit der erstaunlichen Aussage: "Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass eine perfekte 'Fotografie' eines Objektes, das im Auge eines Sterbenden reflektiert wird, nach dem Tod auf der Retina fixiert bleibt." Damit gewährten die US-Richter "der Wissenschaft" doch recht üppige Vorschusslorbeeren.

Dem Heidelberger Gelehrten Kühne, dem die deutsche Sprache neben dem verschollenen Wort "Optogramm" auch das "Enzym" verdankt, fielen derweil ganze Heerscharen an Versuchstieren zum Opfer – Kaninchen etwa, die ihre letzten Stunden mit fixierten Augenlidern ins Fensterkreuz des Labors starren mussten. Keine appetitliche Lektüre. Die Augen einer in einer Pforzheimer Seniorenresidenz – 1878 sprach man noch sachnäher von "Siechenhaus" – verstorbenen Frau, die eine halbe Minute vor ihrem Tod mit einem schwarzen Tuch verbunden worden waren, hatten den Nachteil, erst nach zwei Tagen in die Hände Kühnes zu geraten. Sie waren "cadaverös" verdorben.

Auf den Netzhäuten eines 31-jährigen, gesunden Mannes fand Professor Kühne hingegen am 16. November 1880 eine halbwegs geometrische Figur, die er als "kein Pseudooptogramm" bezeichnete – was im Umkehrschluss wohl auf eine "fotografische" Abbildung schließen lassen soll. Der Mann war, was nebenbei für ein gewisses Interesse der Justiz an der Sache spricht, in Bruchsaal mit dem Fallbeil hingerichtet worden.

Naturwissenschaft beendet forensische Phantasie

Während die Idee, dass die Retina ein Abbild der letzten Sinneseindrücke bewahre, noch weiter durch die Öffentlichkeit spukte – Bernd Stiegler berichtet etwa von Arthur Conan Doyle, der bekanntlich nicht nur der"Vater" des als höchst rational geltenden Sherlock Holmes war, sondern auch bekennender Spiritist – verfeinerte sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis von der optischen Wahrnehmung. Zur Ehrenrettung Kühnes sollte erwähnt werden, dass er auch dazu Grundlegendes beitrug. Für die „Optogramme“ auf der Netzhaut blieb dabei kein Platz mehr: Allein der Umstand, dass an der „Schnittstelle“ von Netzhaut und Sehnerv ein "blinder Fleck" zu finden ist, durch den eine ganze Mörderbande unsichtbar außerhalb des wahrgenommenen Bildes bleiben müsste, würde sich das Auge nicht unmerklich bewegen und das Gehirn sich nicht das Bild "zusammenrechnen", sollte schließlich dem naturwissenschaftlichen Mindestverstand zum Sieg verhelfen.

Im Fall des Polizisten George William Gutteridge von der Essex County Constabulary, der am 27. September 1927 ermordet wurde,  konnte allerdings das öffentliche Phantasma von der Retina-Abbildung noch eine paradoxe Rolle spielen (Gedenkseite der britischen Polizei). Die Täter glaubten an die Existenz des Optogramms und schossen ihrem Opfer zusätzlich in die Augen, um dieen Beweis zu vernichten. Dem kriminalwissenschaftlichen Fortschritt einerseits, ihrem Glauben in das Wissenschaftsmärchen vom Retinabild andererseits, verdankten sie die Überführung – die Kugeln sollten sie als Beweismittel überführen.

"Belichtete Augen" regen zum Nachdenken an

Mit den rechtsgeschichtlichen Facetten des „Optogramms“ ist Bernd Stieglers kleine Studie "Belichtete Augen" indes längst nicht hinreichend rezensiert. Stiegler erzählt zudem eine teils ziemlich krude Mediengeschichte, die sich nicht darin erschöpft, dass im Kern recht boulevardistische Presseberichte über das vermeintliche Funktionieren des Optogramms in diversen Richterköpfen eine gewisse Sympathie für das "Beweismittel" wecken konnten.
In den modernen Medienmärchen, vom "Mystery"-Schund des Privatfernsehens bis hin zur Werbeikonografie eines großen kalifornischen Elektronikhändlers, spielt die "Retina" ihre mehr oder minder zweifelhafte Rolle.

Um eine zielgruppenpräzisierte Empfehlung zur (Weihnachts-) Lektüretauglichkeit des Buches zu geben: Juristen werden aus dieser bemerkenswerten Karriere eines vermeintlichen naturwissenschaftlichen Beweismittels hoffentlich Zweifel für ihre heutigen Methoden ziehen können. – Warum gilt eigentlich das Gehirn als ein besserer "Bildspeicher" als die Retina? Oder anders formuliert: Hat sich die Justiz der Gegenwart überhaupt schon hinreichend vom zweifelhaften "Zeugenbeweis" emanzipiert? Aber, nur keine Eile, an der Homöopathie wird ja auch schon seit 1835 gearbeitet.

Nichtjuristen, denen wir allgemein einen schwächeren Magen als den durchs Jurastudium in jeder denkbaren Beziehung gestählten Lesern unterstellen möchten, sollten vielleicht die etwas ekligen Kaninchen-Experimente des Heidelberger Professors Kühne überblättern.

Aber "Häschen" muss man ja zu Weihnachten auch nicht vor Augen haben.

Disclaimer:

Das Buch von Bernd Stiegler "Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina", erschienen bei S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, wurde vom Rezensenten, der zu den Fischerverlagen derzeit auch sonst in keiner, sein Urteilsvermögen beschränkenden Beziehung steht, durch Griff in das eigene Portemonnaie erstanden.

Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.

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Martin Rath, Abwege der Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 18.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5125 (abgerufen am: 18.06.2025 )

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