Zeugin der Anklage: Als Agatha Christie auf Billy Wilder traf…

Jochen Thielmann

01.10.2011

Wenn zwei Meister ihres Fachs zusammenarbeiten, ist das Ergebnis nicht zwangsläufig das erhoffte Meisterwerk – im Falle von "Zeugin der Anklage" waren jedoch eine Schriftstellerin und ein Filmemacher auf der Höhe ihres Könnens. Billy Wilders Version von Agatha Christies Theaterstück ist ein klassisches Gerichtsdrama voller Humor, Spannung und spektakulären Wendungen.

Der Mord an einer reichen Witwe und der Prozess gegen einen verheirateten Mann, der nicht zuletzt wegen seiner Stellung als Alleinerbe von Beginn an als Hauptverdächtiger gilt, stehen im Mittelpunkt des wohl bekanntesten Werkes der britischen Schriftstellerin Agatha Christie. Bereits 1925 hatte sie es unter dem Titel "Traitor Hands" erstmals als Kurzgeschichte veröffentlicht und später in "The Witness for the Prosecution" umbenannt.

Die Schriftstellerin erkannte jedoch das darin schlummernde Potential und verarbeitete später die Geschichte zu einem Theaterstück, das im Jahre 1953 in London uraufgeführt wurde. Zwischen Dezember 1954 und Juni 1956 wurde das Stück zudem mit großem Erfolg am Broadway gespielt, so dass es unvermeidlich war, dass in Hollywood unverzüglich eine Filmversion vorbereitet wurde.

Billy Wilder statt Alfred Hitchcock

Bei diesem Stoff würde man bei der Suche nach dem geeigneten Regisseur eher an Alfred Hitchcock denn als Billy Wilder denken. Aber auf Bitte der mit ihm befreundeten Marlene Dietrich, die sich dadurch zu Recht die besseren Chancen auf die Titelrolle erhoffte, nahm sich Wilder des Stücks an und machte daraus eines der klassischen "courtroom drama" der Filmgeschichte.

Seine Bearbeitung beließ dem Stoff seine ursprüngliche Stärke, die vor allem in der genialen Konstruktion des Plots lag, und reicherte diese mit Details oder sogar neu ausgedachten Figuren (zum Beispiel die resolute Krankenschwester des Verteidigers) an, die sich perfekt eingliederten. Die Geschehnisse im Nachkriegsdeutschland, wo Tyrone Power als britischer Soldat eine deutsche Schauspielerin (Marlene Dietrich) kennen- und lieben lernt, erzählt der Regisseur mithilfe einer Rückblende, was mit dazu beitrug, dass der Film visuell meilenweit von einem verfilmten Theaterstück entfernt ist. Auch der Nachbau eines originalen Gerichtssaals aus dem legendären Londoner Strafgerichtsgebäude Old Bailey sorgte für die richtige Atmosphäre.

Nur wenige Gerichtsfilme können mit einer solch perfekten Besetzung der beiden Hauptrollen aufwarten: Für Marlene Dietrich war ihre Rolle als betrogene Ehefrau des Angeklagten einer der Höhepunkte ihrer gesamten Karriere. Aber die eigentliche Attraktion ist der unvergessliche Charles Laughton als körperlich angeschlagener Star-Verteidiger mit unvermindert messerscharfem Verstand. Für Wilder war Laughton der beste Schauspieler, mit dem er jemals gearbeitet hatte.

Die Manipulierbarkeit des Strafrechtssystems

"Zeugin der Anklage" ist ein Film, der keine ernsten Botschaften transportiert, sondern einfach nur auf höchstem Niveau unterhalten will – und dem dieses Vorhaben bestens gelingt. Dennoch lassen sich auch aus diesem Stoff allgemeine Schlussfolgerungen über die Manipulierbarkeit der Strafjustiz ziehen. Wie überall, wo Menschen Entscheidungen zu treffen haben, besteht auch vor Gericht die Möglichkeit, auf unterschiedliche Art und Weise hinters Licht zu führen und geführt zu werden. Und das Thema der Täuschung ist in diesem Film allgegenwärtig – und wenn es nur darum geht, dass der herzkranke Verteidiger Sir Wilfried den Konsum von Zigarren und Whiskey vor seiner Krankenschwester zu verheimlichen versucht.

Auch wenn der britische Strafprozess traditionell dem "adversary system" folgt und es folglich in Deutschland weder Zeugen der Anklage noch Zeugen der Verteidigung gibt, so könnte die Geschichte grundsätzlich auch hierzulande spielen. Allerdings wäre heutzutage die erfolgreiche Durchführung einer Manipulation der Strafgerichtsbarkeit in einem sensationellen Mordprozess schon durch den heutigen Medienaufwand nahezu ausgeschlossen. Insofern bleibt "Zeugin der Anklage" ein im besten Sinne des Wortes altmodischer Film.

Agatha Christie verneigt sich

Der Film war bei seinem Erscheinen ein großer finanzieller Erfolg, erhielt etliche Oscar-Nominierungen und stellte auch die Kritiker zufrieden. Billy Wilder freute sich vor allem über das Lob einer bestimmten Person, wie er 1969 zugab: "Ich fühlte mich gewaltig geschmeichelt, als ich kürzlich in einem Interview mit Agatha Christie las, sie habe gefunden, es sei die einzige Verfilmung eines ihrer Werke, die ihr wirklich gefallen habe."

Es ist fast unmöglich, "Zeugin der Anklage" richtig zu würdigen, ohne die spektakulären Wendungen der Geschichte anzusprechen. Aber dies wäre gleichzeitig ein großes Vergehen gegenüber allen, die diesen Film noch nie gesehen haben, denn ihnen würde dadurch ein Großteil des Vergnügens genommen. Tatsächlich wurden die Kinobesucher 1957 beim Abspann des Films sogar ausdrücklich gebeten, das Ende der Geschichte nicht weiterzuerzählen. Und so soll es auch hier nicht verraten werden. Die wahre Größe des Films zeigt sich jedoch daran, dass man sich auch beim wiederholten Ansehen immer wieder königlich amüsieren kann.

Der Autor Jochen Thielmann ist Fachanwalt für Strafrecht im "Strafverteidigerbüro Wuppertal". Daneben hat er neben regelmäßigen Fachartikeln für Publikationen wie Strafverteidiger, Deutsche Richterzeitung oder Zeitschrift für Rechtspolitik in der Vergangenheit auch Beiträge über Kinofilme verfasst.

 

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Zitiervorschlag

Jochen Thielmann, Zeugin der Anklage: Als Agatha Christie auf Billy Wilder traf… . In: Legal Tribune Online, 01.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4442/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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