Weihnachtsfeuilleton: Der Zensus – (k)eine juris­ti­sche Weih­nachts­ge­schichte

von Martin Rath

24.12.2018

Die biblische Weihnachtsgeschichte erzählt nicht nur von religiösen Anliegen, sondern auch von römischem Verwaltungsrecht. Ein Kalenderblatt über Volkszählungen im alten Rom, in Deutschland und den USA.

Für Übungen, beispielsweise ob sich der Herbergsvater (H) zu Betlehem durch die Weigerung, der Maria (M) zwecks Entbindung (E) des Jesuskinds (J) Unterkunft zu bieten, strafbar nach § 323c Strafgesetzbuch (StGB) gemacht haben könnte, ist die biblische Erzählung zu schade. Denn zum einen weht durch die Vorschrift bekanntlich der jeweilige moralische Zeitgeist kräftiger als der Winterwind durch den Stall zu Bethlehem, so dass beispielsweise für eine sinnvolle Subsumtion in Erfahrung zu bringen wäre, ob seinerzeit das Kreißen in Ställen nicht als nestwarme Annehmlichkeit galt. Zum anderen käme niemand auf den Gedanken zu fragen, ob etwa die Geburt des Griechengottes Zeus in der Höhle von Psychro mit dem minoischen Hebammenrecht vereinbar war – de lege lata oder ferenda, einerlei. Dabei wäre es aus Diversity-Gründen längst nötig, sich nicht immer nur auf die biblische Erzählung zu fixieren.

Immerhin gibt der Sachverhalt aus Lukas 2, 1–6 einen interessanten Einblick in das antike römische Verwaltungshandeln:

"Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die ward schwanger."

Die Geschichte hat einiges mit Sachverhalten gemein, die einer juristischen Bewertung unterworfen werden: Man weiß durchaus weniger, wohin das führt, als man zunächst glaubt.

Dem Umstand, dass die Eheleute nach Bethlehem reisten, um sich dort, im mutmaßlichen Heimatdorf von Josephs Clan ("Geschlechte Davids"), der Volkszählung zu unterwerfen, wird oft als Beleg für die Märchenhaftigkeit der Geschichte herangezogen: Es sei für die Bevölkerungsstatistik doch viel sinnvoller, am Wohnort, nicht am Herkunftsort des Clans gezählt zu werden.

Der Evangelist Lukas habe sich den Geburtsort Bethlehem nur zurechtgelegt, um die Geburtsgeschichte in den theologischen Kontext von Vorzeichen einzubetten , die sich in der jüdischen Überlieferung anboten.

127 n. Chr.: Steuerbescheid in nur zwei Tagen fertig

Für Juristen, die hier um drei Ecken denken möchten, bietet die Althistorikerin Henrike Maria Zilling eine befriedigendere Interpretation an, die auch Aspekte des antiken Verwaltungsrechts berührt. Zwar sei den Evangelisten mit dem Verweis auf den römischen Spitzenbeamten Cyrenius wohl die eine oder andere Unpässlichkeit in der Datierung von Christi Geburt unterlaufen, die Reise zum Geburtsort sei jedoch verwaltungstechnisch durchaus sinnvoll gewesen, soweit dort Grundbesitz vorhanden war:

"Bei der persönlichen Vorstellung im 'Steuerbüro' erfolgte vor Zeugen eine Deklaration über Alter, Geschlecht und den ganzen Besitz; die Zensusbeamten legten danach ihre Steuerlisten an. Nach einer Überprüfung der Angaben konnte dann die direkte Steuer, die Kopfsteuer und die Bodensteuer, angesetzt werden; der Besitzer erhielt eine testierte Steuererklärung. Da Männer Kopfsteuer vom 14. bis zum 65. Lebensjahr und Frauen schon vom 12. bis zum 65. Lebensjahr (die Angaben gelten für Syrien) entrichten mussten, ist es ganz entscheidend, dass ganze Familien vor den Zensusbeamten persönlich zu erscheinen hatten, um prüfen zu lassen, wer überhaupt kopfsteuerpflichtig war."

Am Beispiel des zwischen dem 2. und 4. Dezember des Jahres 127 nach Christi Geburt erstellten Steuerbescheids der jüdischen Frau Babatha in Rabbath-Moab –  "zwei Tage brauchten die Beamten, bis sie die Steuererklärung bearbeitet hatten und ihr das Dokument aushändigten"  – zeigt Zilling, wie viel Mobilität und Präzision den steuerpflichtigen Untertanen des Römischen Weltreichs abverlangt wurde: Viele Meilen von ihrem Grundbesitz entfernt hatte Babatha ihn den ortsfremden Steuerbeamten doch so genau zu beschreiben, dass sie ihn jederzeit identifizieren konnten.

Es wird oft auch als Beleg gegen den Wahrheitsgehalt der Weihnachtsgeschichte angeführt, eine reichsweite Volkszählung des Augustus sei nicht überliefert. Dass aber auch Babatha in Rabbath-Moab ihr Steuerformular im Namen des Kaisers auszufüllen hatte, lässt sich als Beleg für den Gebrauch einer solchen Formulierung auf regionaler Ebene werten.

Zwischenfazit zur weihnachtlichen Volkszählungsgeschichte

Ein typisches Weihnachtsritual sieht in wohl nicht wenigen Familien wie folgt aus:

  1. Weihnachtsgeschichte hören (Kirche, Lesung zu Hause, Radio)
  2. Ein wenig Lamentieren über ihren historischen Unwahrheitsgehalt unter der Leitfrage, wozu die Wanderung nach Bethlehem gut gewesen sein soll
  3. Kritik am Lamentieren unter 2), also Besserwisserei zweiter Ordnung: aus Gründen der Grundsteuer.
  4. Frage, ob das unter 3) aktive Familienmitglied nicht vielleicht Jura studieren möchte (sofern noch nicht geschehen).

Sollte das feiertägliche Familiengespräch – angesichts der oft eher unzureichenden Vorbereitung auf den theologischen Gehalt des Weihnachtsfests – nunmehr beim Thema Volkszählung und Statistik hängenbleiben, bietet es sich unter anderem an, auf die Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung sprechen zu kommen.

Zensus, Statistik und einige Geschichten von fehlender deutscher Wahrheitsliebe

Diese Wahl, am 19. Januar 1919, zeichnete sich nicht allein dadurch aus, dass nun erstmals Frauen und jüngere Menschen teilnehmen durften, das Wahlalter war von 25 auf 20 Jahre reduziert worden, sondern auch darin, dass das neue Verhältniswahlrecht nicht länger mit statistischen Tricks arbeitete.

Bei allen Reichstagswahlen bis 1912 war nämlich im Wahlkreiszuschnitt auf die Volkszählungsergebnisse des Jahres 1864 zurückgegriffen worden, so dass in manchem ländlichen Wahlkreis die Mehrheit unter wenigen zehntausend, in den großstädtischen Wahlkreisen Berlins oder des Ruhrgebiets hingegen unter einigen hunderttausend Wählern zu finden war.

Demokratiefortschritte hin, deutsche Statistikpolitik her: In der gleichen Zeit belastete ein Statistik-Erlass des vormaligen preußischen Kriegsministers Adolf Wild von Hohenborn (1860–1925) aus dem Jahr 1916 die junge Republik: Zum Stichtag 1. November 1916 war der Anteil der wehrpflichtigen Juden im deutschen Militär erhoben worden, ausdrücklich auch die Zahl der gefallenen oder an der Front eingesetzten jüdischen Soldaten. Weil das Ergebnis nicht der antisemitischen Propaganda entsprach, jüdische Deutsche drückten sich vor dem Kriegseinsatz, wurde ihr Ergebnis solange zurückgehalten, bis die unterdrückte Veröffentlichung selbst wieder das antisemitische Ressentiment durch den paranoiden Gedanken beflügelte, die Judenzählung habe ein für die Betroffenen unvorteilhaftes Ergebnis ermittelt.

Der nationalsozialistische Staat sollte wenige Jahre später in zwei Volkszählungen, 1933 und 1939, gesonderte Erhebungen zur jüdischen Bevölkerung anordnen. Vielfach, auch im Streit um die für 1983 geplante Volkszählung im freien Teil Deutschlands, ist angenommen worden, dass die Erfassung der jüdischen Deutschen im Jahr 1939 unter Bruch des Statistikgeheimnisses erfolgt sei – also des Verbots, zu anderen als statistischen Zwecken auf die Antworten der Erhebungsteilnehmer zuzugreifen –, dem daher nach einer etwas kruden Logik auch im demokratischen Verfassungsstaat nicht zu vertrauen sei. Heute scheint die historische Forschung dahin zu tendieren, dass der Verbrecherstaat den Völkermord planen konnte, ohne das Statistikgeheimnis zu brechen – man erpresste die Daten vielmehr nochmals gesondert von den zu Ermordenden.

Rechtsstaat selbst in der rassistischen Unfairness, aber kein Statistikgeheimnis

Will man passend zur Weihnachtsgeschichte noch weitere unerwartete Zensusfakten in Erfahrung bringen, bietet sich – als Thema mit aktueller Zukunft – noch der zweite amerikanische "War Powers Act" vom 27. März 1942 an: Das Gesetz ermächtigte – hübsch verklausuliert – die US-Regierung dazu, Ausnahmen vom Statistikgeheimnis zu machen. In der Folge wurden Volkszählungsdaten dazu genutzt, die Internierung von Bürgern und Einwohnern der USA zu betreiben, die allein aufgrund ihrer japanischen Abstammung dem Verdacht ausgesetzt waren, mit dem Kriegsfeind Japan im Bunde zu stehen.

Zu kontraintuitivem Denken über Rechtsnormen lädt auch das wiederum ein: Die für das Jahr 2020 angesetzte US-Volkszählung wird voraussichtlich auch nach der Staatsangehörigkeit fragen. Angesichts der fremdenfeindlichen Äußerungen von US-Präsident Donald Trump (1946–) werden daher in der Öffentlichkeit Erinnerungen an frühere Durchbrechungen des Statistikgeheimnisses wach.

Angesichts der machiavellistischen Untiefen, die einer alten Republik wie der amerikanischen eigen sind, wäre es aber zu kurz gedacht, das strategische Kalkül nur in einem beabsichtigten Bruch mit dem alten Rechtsprinzip des Statistikgeheimnisses zu wittern: Bereits indem US-Einwohner ohne oder mit zweifelhaftem Rechtsstatus sich dem 2020er-Zensus aus Angst entziehen dürften, werden Bundesstaaten mit hohen Zuwandereranteilen in ihrer Bevölkerungsstärke untergewichtet – entsprechend lassen sie sich z.B. bei der Verteilung von Mitteln aus dem Bundeshaushalt später, nicht zuletzt bei Maßnahmen zugunsten von Zuwanderern, benachteiligen.

Es stecken in (rechts-) historischen Erzählungen von Volkszählungen mehr handfeste wirtschaftliche und Machtinteressen als man ihnen auf den ersten Blick anschaut.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Weihnachtsfeuilleton: Der Zensus – (k)eine juristische Weihnachtsgeschichte . In: Legal Tribune Online, 24.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32907/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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