Tag des Regenwurms 2020: Wert, Wahn und Würde eines beson­deren Kriech­tiers

von Martin Rath

15.02.2020

Dass sich die Justiz nicht mit Kleinigkeiten aufhalten könne ("minima non curat praetor"), zählt bekanntlich zu den sehr zweifelhaften Phrasen. Wie viele rechtliche Probleme rund um den Wurm gemacht werden, erstaunt aber doch.

Dass Lehrerinnen und Lehrer nicht in jedem Fall besonders geeignet sind, über das schulische Schicksal von Kindern zu entscheiden, musste das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) mit Beschluss vom 30. März 2010 (Az. 19 A 2076/09) am Beispiel des Regenwurms erkennen.

In NRW war bis zu einer Änderung des Schulgesetzes Ende 2010 die Empfehlung der Grundschule im Halbjahreszeugnis der Klasse 4 relativ verbindlich, welche weiterführende Schule das Kind besuchen sollte. Waren die Eltern mit der Empfehlung nicht einverstanden – nur auf Gymnasien werden Kinder bekanntlich klug – wurde der Nachwuchs einem dreitägigen sogenannten Prognoseunterricht in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachkunde ausgesetzt.

Während der 2000er Jahre bestätigten nach diesem Profiling den Kindern fremde Lehrkräfte, die von der Schulaufsicht, einer weiterführenden und einer Grundschule gestellt wurden, in zwei Dritteln der über 3.000 jährlich getesteten Fälle den ursprünglichen Befund.

Wie sehr in der Sache mitunter der Wurm steckte, entdeckte in diesem Fall erst die Berichterstatterin des Verwaltungsgerichts. Das Kind hatte auf die Frage: "Warum ist es wichtig, die Flasche schichtweise mit Erde und Sand zu füllen?" die orthografisch eigenwillige Antwort gegeben: "Das die Regenwümmer den Sand und Erde durch füllen."

Nach Auffassung des Gerichts war diese Antwort auf die Frage nach einem für Regenwürmer günstigen Habitat "trotz der Rechtschreibfehler inhaltlich zumindest vertretbar". Dass der Prüfling auf der Rückseite des Aufgabenblattes eine weitere Antwort gegeben hatte, war den Prognoselehrkräften entgangen. Wegen der inzwischen anderweitig erfolgten Beschulung des Kindes war sein Weg von der Grundschule zum Gymnasium jedoch bereits verbaut.

Faszinierendes Tier, dieser Regenwurm

Die insgesamt unterkomplexe Bearbeitung des Regenwurm-Sachverhalts durch alle Beteiligten – Kind, Pädagogen, ja sogar die Richterin – wird vermutlich die Zöglinge bildungsstolzer Bundesländer wie Sachsen, Bayern oder Baden-Württemberg bestürzen.

Dass es sich bei Regenwürmern (Lumbricidae) um bemerkenswerte Tiere handelt, deren im deutschsprachigen Raum verbreitete Arten es auf sechs bis 30 Zentimeter Körperlänge und ein Alter von mehreren Jahren bringen können, wird dort natürlich jeder Sextaner noch aus dem Schlaf gerissen referieren können – einschließlich der faszinierenden Anatomie dieser Würmer, die als gleichsam durch den Erdboden wühlende kleine Därme mit komplexem Nervensystem kaum hinreichend beschrieben ist. Komplex ist ihr Fressorgan, wertvoll sind die Ausscheidungen, die diese Tiere erzeugen, nachdem sie allerlei organisches Material durch ihren – nicht selten von Parasiten bevölkerten – Verdauungstrakt transportiert haben.

In NRW sollte es für den Besuch eines Gymnasiums genügen, wenn ein Viertklässler versteht, dass sich "Wümmer" durch lockeres Substrat besser wühlen können als durch festes. Das verkennt womöglich den Wert des Wurmes, und zwar nicht nur in pädagogischer Hinsicht, sondern mit Blick auch auf die etwas größeren (Rechts-) Fragen.

Existenzielle Betrachtungen zu allem, was da kreucht und fleucht

Der Philosoph Günther Anders (1902–1992) hinterließ eine Reihe von hoch garstigen Schriften, die sich mit unserer technisch geformten, ethisch unbedarften Gesellschaft auseinandersetzten – in einer derart radikalen Form, dass sich nicht nur heutige Social-Media-Kontroversen vorwerfen lassen müssen, deutlich unter dem gebotenen Niveau an Zeitkritik zu bleiben.

In seinem späten Buch "Ketzereien" (München, 1982) findet sich beispielsweise die Anekdote von einem achtjährigen Mädchen, das einem Maikäfer einen Flügel ausgerissen hatte. Günther Anders erzählt, dass er dem Kind das Tier entrissen und es sofort getötet habe: "'Nein!' schrie sie. 'Jetzt hast du ihn mir weggenommen!' 'Weggenommen? Du meinst: jetzt kannst du ihn nicht mehr weiter quälen?'"

Die Pointe: Auf den Tadel des Philosophen, das Kind solle sich merken, dass der Schmerz des verletzten Käfers "ganz genau so groß wie der Schmerz des verletzten Walfisches" sei, habe das achtjährige Mädchen geantwortet, dass sie das wisse – was Anders in der entsetzt-rhetorischen Frage münden lässt, ob sie den Käfer gerade deshalb gequält habe.

Es bliebe hier bei einer tief pessimistischen Anekdote eines Philosophen, der in einer Epoche des existenziellen Schreckens lebte, hätte nicht einem Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf (v. 15.01.2002, Az. 36 C 11551/01) ein ähnlicher Sachverhaltsvortrag zugrunde gelegen.

Am Nachmittag des 24. März 2001 hatte die Klägerin "ihren alten, tauben und blinden Pudel" durch ein waldnahes Wohngebiet tief im Osten von Düsseldorf ausgeführt – einer idyllischen Gegend übrigens, die einst den großen Kirchenmusiker Joachim Neander (1650–1680) inspirierte.

Dort begegnete sie nach eigenem Bekunden einer Horde Kinder, die ihr nicht nur den Hund entrissen und diesen vor sich her getrieben hätten. Auch an einem Regenwurm sollen einige Kinder herumgezerrt haben: "Sie habe darauf aufmerksam gemacht, dass es sich dabei um ein Lebewesen handele, das man nicht quälen dürfe. Daraufhin habe sie den Wurm schnell gepackt und auf die Erde gelegt."

Das weitere Geschehen spitzte sich dramatisch zu: "Bei ihrem Weggang sei die Beklagte herangekommen. Die Klägerin habe plötzlich einen starken Schmerz an ihrem linken Fußgelenk verspürt. Die Beklagte habe sie nämlich fest gegen den Außenknöchel getreten. Als die Klägerin sich herumgedreht habe, habe die Beklagte mit beiden Händen an deren Jacke gezogen und die Klägerin angebrüllt, sie solle den Regenwurm wieder herausgeben."

Dieser Aufforderung kam die Seniorin vordergründig nach, indem sie der Beklagten – Mutter eines der Kinder – ein Taschentuch überreichte, das jedoch nicht den Regenwurm, sondern den zuvor pflichtgemäß aufgelesenen Kot des Pudels enthielt. Die Klage auf Schadensersatz wegen des womöglich verletzten Knöchels und eines beschädigten Gesundheitsschuhs verlief letztlich im Sande – auch weil in der unmittelbaren ärztlichen Behandlung ein Hämatom wegen der "Vielzahl der Varizen am Bein der Klägerin" nicht sichtbar festgestellt werden konnte.

Der Fall zog ein erwartbar bescheidenes rechtswissenschaftliches Echo nach sich. In den "Juristischen Arbeitsblättern" (2005, S. 504–508) fand sich beispielsweise eine Auseinandersetzung mit den sachenrechtlichen Fragen des Eigentumserwerbs am Wurm und den Abwehrrechten gegen die störende Seniorin.

Das ist alles ein bisschen grausam, etwas makaber und damit natürlich vor allem komisch. Aus der Perspektive des schnell entsetzten Philosophen Günther Anders wäre aber fundamental zu fragen gewesen: Wie kann Artikel 20a Grundgesetz (GG) behaupten, "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen … die Tiere" schützen zu wollen, wenn Kinder, die Regenwürmer quälen, noch nicht einmal das Jugendamt auf den Plan treten lassen? Warum hat der Gesetzgeber 1990 im Bürgerlichen Gesetzbuch forsch erklärt: "Tiere sind keine Sachen" (§ 90a Abs. 1 BGB)?

Wer ist weniger ernst zu nehmen, die merkwürdige Seniorin, die, mit einem betagten Pudel im Schlepptau, die Sache des Regenwurms verteidigt, oder ein Gesetzgeber, der noch dem Gewürm verspricht, sich um seinen rechtlichen Schutz zu sorgen? Und was sagt es über die Haltung des Volkes aus, wenn ihm derartige Unbedachtheiten seines Parlaments im Grunde gleichgültig bleiben?

Ein Probierwurm der Menschenwürde im Wehrrecht

Im Wehrdisziplinarrecht hat es der Regenwurm immerhin zu höchstrichterlicher Aufmerksamkeit gebracht. Im Rahmen einer Übung für wehrpflichtige Sanitätssoldaten hatte ein Zugführer der Bundeswehr im Mai 1989 seinen Untergebenen befohlen, Regenwürmer zu essen. Der Chef der Kompagnie war nicht eingeschritten.

Mit Urteil vom 12. Juni 1991 (Az. 2 WD 53/90) bestätigte der zweite Wehrdisziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts die Maßregelung der beiden vorgesetzten Soldaten, weil sie die Wehrpflichtigen entwürdigend behandelt und dabei sowohl gegen die Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr als auch gegen einen konkreten Befehl des Bataillonskommandeurs verstoßen hätten.

Damals hatte das Gericht sichtlich vor Augen, dass der Verzehr von Regenwürmern überwiegend mit Ekel verbunden war. Es fragt sich, ob dies heute noch ebenso gesehen würde: Nicht nur, dass die Qualitätsdetails von Insekten oder Würmern bereits ein Thema des staatlichen Verbraucherschutzes sind und nicht weniger als 15 Jahre mit TV-Produkten wie dem "Dschungelcamp" die Schamgrenzen gelockert haben, die staatlichen Streitkräfte konkurrieren heute auch mit privaten Anbietern, die ihren Absolventen ein militärisches Überlebens- und Fluchttraining anbieten – der Verzehr von Ungeziefer dürfte jedenfalls unter diesen Feldpredigern allgemeiner Notstandsfantasien und notwendiger Abhärtung zu den einfacheren Übungen zählen.

Was die Dame mit dem blinden Pudel oder der leicht erregbare Philosoph Günther Anders zu der ins Kraut geschossenen Prepper-Szene gesagt hätten, wäre schon eine interessante Frage. Ein noch reizvolleres Thema würde es aber sein, sollten die gastronomischen Liebhaber des Regenwurms in freier Wildbahn nicht hinreichend fündig werden. So stellte das Finanzgericht Düsseldorf mit Urteil vom 25. April 1994 fest, dass zwar Weichtiere dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent unterlägen, Regenwürmer als Gliedertiere jedoch nicht hierzu zählten (Az. 5 K 2536/91 U).

Bei aller Sympathie für den Regenwurm: Jenem Tag, an dem sich die harten Kerle aus der Prepper- und der (para-) militärischen Trainingsszene vor dem Finanzgericht einfinden, um nach dem Vorbild anderer bedeutender sozialer Bewegungen der Gegenwart für einen ermäßigten Wurmumsatzsteuersatz zu kämpfen, darf man hoffnungsfroh entgegensehen.

Zitiervorschlag

Tag des Regenwurms 2020: Wert, Wahn und Würde eines besonderen Kriechtiers . In: Legal Tribune Online, 15.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40299/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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