Pockenschutzimpfung: Impf­schaden wird als Son­der­opfer aner­kannt

von Martin Rath

19.02.2023

Sie war die historisch erfolgreichste, aber auch eine relativ riskante Impfung: Vor 70 Jahren erkannte der BGH im Fall einer missratenen Pockenschutzimpfung an, dass der Staat das "Sonderopfer" des Impflings auszugleichen hatte. 

Im Februar 1967 zog der Freistaat Bayern noch einmal alle seuchenpolizeilichen Register – samt Polizeifahrzeugen, die mit Blutproben und Hautabstrichen über die Autobahn von Regensburg nach München rasten. Blaulicht und Martinshorn blieben selbst im fernen Hamburg nicht unbemerkt. 

Von einer der damals noch recht seltenen Fernreisen war eine Spielwarenhändlerin aus Regensburg erkrankt heimgekehrt – infiziert mit dem Pockenvirus (Orthopoxvirus variolae). Ihre unmittelbaren Kontakte, 141 Mitbürger, gingen in strikte Quarantäne. Nicht weniger als 40.000 Regensburger ließen sich, wie "Der Spiegel" (Nr. 15/1967) berichtete, vorsorglich impfen. 

Wegen ihrer hohen Infektiosität und dem oft tödlichen Verlauf, rund 30 Prozent aller unbehandelten Erkrankten verstarben, hatte sich die Schutzimpfung gegen Pocken seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland weithin durchgesetzt – ausgeführt mit infektiösem Material von Kühen, den Trägern für den Menschen weniger gefährlicher Pockenviren. 

Impfflicht seit 1874 

Das Impfgesetz vom 8. April 1874 ordnete schließlich an, dass alle Kinder "vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres" einer Impfung mit "Schutzpocken" zu unterziehen waren, sofern sie nicht bereits eine unkontrollierte Infektion überlebt hatten. Schulpflichtige Kinder mussten sich im Jahr ihres zwölften Geburtstags gegebenenfalls einer weiteren Impfung unterziehen. 

Ungeachtet des Schreckens, den die Pocken im Jahr 1967 immer noch – und dank beginnenden Fernreise-Tourismus von Neuem – verbreiteten, wusste das Hamburger Nachrichtenmagazin von einer aufkeimenden Opposition gegen diese Zwangsimpfung zu berichten. 

Ihre Gegner führten nun an, dass in den westlichen Ländern kaum noch jemand an den Pocken versterbe. In den USA sei seit 1948 niemand mehr an den Pocken gestorben, in der Bundesrepublik nur sieben Menschen. 

Hingegen waren in den USA seit 1948 rund 300 Menschen an den Folgen der Schutzimpfung verstorben, in Deutschland starben im jährlichen Durchschnitt acht Kinder nach ihrer Impfung, rund 160 Kinder erlitten in jedem Jahr schwere Impfschäden – entstellende Narben, Erblindung oder schwere Hirnfunktionsstörungen. 

Kein Ausgleich für Impfschäden 

Trotz der bekannten und erheblichen Risiken der Schutzimpfung – von großflächigen Pusteln auf der Haut des ganzen Körpers bis zur Gehirnentzündung – tat sich die Justiz schwer mit der rechtlichen Würdigung der Schäden. 

Das Impfgesetz vom 8. April 1874 selbst kannte keinen Ausgleich von etwaigen Schäden durch die Pockenschutzimpfung. Die Rechtsprechung lehnte eine Entschädigung regelmäßig ab, weil meist kein Verschulden des Arztes festzustellen war – darin folgte sie der Erwägung des historischen Gesetzgebers. Der hatte angenommen, es genüge zur Abwehr von Gefahren, die Impfung in die Hand von Ärzten zu legen und diese schon für den bloßen Fall einer fahrlässigen Ausführung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu 500 Mark zu bedrohen. 

In der Diskussion – und als Gegenstand von Klagen gegen den Staat, der den Impfzwang angeordnet hatte – blieb ein Anspruch aus §§ 74, 75 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 (Einl. PrALR): 

"§ 74. Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehn. 

§ 75. Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten." 

Mit Beschluss seines Großen Senats für Zivilsachen vom 16. November 1937 (Az. GSZ 4/36 – VII 200/36 – RGZ 156, S. 305–314) hatte sich das Reichsgericht ausführlich u. a. mit der Frage befasst, ob Vermögensschäden in Folge einer Gesundheitsschädigung durch eine Pockenschutzimpfung nach diesem sogenannten Aufopferungsanspruch auszugleichen seien. 

Diese Entscheidung des Reichsgerichts enthält viele bemerkenswerte Erwägungen. Problematisch konnte, je nach Ort der Impfung, beispielsweise sein, dass das Allgemeine Landrecht von 1794 in den seit 1814/15 von diesem Königreich annektierten Gebieten – und damit sogar in den bevölkerungsreichsten Teilen des Freistaats Preußen – grundsätzlich nicht galt. Eine Kabinettsordre aus dem Jahr 1831 hatte seine Geltung zudem eingeschränkt. 

Voraussetzungen für Aufopferungsanspruch nicht erfüllt 

Ein wesentlicher Einwand beruhte auf dem Gedanken, dass ein Aufopferungsanspruch nur dann in Frage komme, wenn ein Bürger durch einen rechtmäßigen und erwünschten staatlichen Eingriff in seinem Vermögen geschädigt sei. Weil ein Impfschaden das Gegenteil einer guten Absicht darstellt, war diese Voraussetzung nicht erfüllt. Das "besondere Opfer" war nicht schon durch das Erdulden der Impfung selbst eingetreten, sondern entstand planwidrig erst im Nachhinein. 

Zwar erklärte das Reichsgericht, dass eine Entschädigung von Impfschäden aus Gründen der Billigkeit zu erwägen sei. Es wollte aber nicht in dieser Richtung tätig werden, weil dem "Volksgenossen" nach "nationalsozialistischer Staatsauffassung" eine "verstärkte Opferpflicht" obliege, sodass der Entschädigungsgedanke zurücktreten müsse. "Dieser grundsätzliche Wandel in der Haltung des neuen Staates" – gemeint ist die NS-Diktatur seit 1933 – "ist in seiner Gesetzgebung, insbesondere auf dem Gebiete der Enteignung, bereits deutlich zum Ausdruck gekommen." 

Einem Staat, der sich bereits am Leben jener Bürger vergriff, die er zu Feinden erklärt hatte, zudem an ihrer Freiheit und an ihrem Eigentum, mochte das Reichsgericht im Jahr 1937 keinen Aufopferungsanspruch im Fall von Impfschäden aufbürden – selbst wenn die Gründe der Billigkeit und der Entschädigungsansprüche auf anderen Gebieten noch so verlockend schienen. 

Streit um Impfschäden geht in der Bundesrepublik weiter 

Keine 16 Jahre später machte der Bundesgerichtshof (BGH) dieser restriktiven Rechtsprechung zu Impfschäden ein Ende – mit Urteil vom 19. Februar 1953 (Az. III ZR 208/51)

Die Klägerin, vertreten durch ihren Vater, war 1930 als einjähriges Kind von einem amtlich befugten Arzt der gesetzlich vorgeschriebenen Pockenschutzimpfung unterzogen worden. Sie erlitt in der Folge eine Hirnhautentzündung und eine schwere geistige Behinderung, in der Sprache der Zeit ein "dauerndes Siechtum". 

Wegen der bekannten restriktiven Haltung der Gerichte klagte sie gegen die Freie und Hansestadt Hamburg auf den Ersatz ihrer vergangenen und künftigen krankheitsbedingten Mehraufwendungen einmal, weil dem Arzt eine schuldhafte Amtspflichtverletzung vorzuwerfen sei – unterstellt wurde, dass der Impfstoff ungeeignet war –, zum anderen wegen des vielleicht doch noch anzuerkennenden Aufopferungsanspruchs. 

Das Landgericht Hamburg mochte ein Verschulden des Arztes als Voraussetzung eines Amtshaftungsanspruchs zwar nicht feststellen, verurteilte das Land Hamburg aber wegen des Sonderopfers, das die Klägerin hatte erdulden müssen. 

Positionen des Bundesgerichtshofs zum Sonderopfer des Impfschadens 

Weil das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg an der 1937 zuletzt vom Reichsgericht formulierten Rechtsauffassung festhielt, also einen Aufopferungsanspruch ausschloss, kam die Sache vor den BGH. 

Die Karlsruher Richter machten mit einigen Argumenten aus Hamburg bemerkenswert kurzen Prozess. Bekanntlich ist der – circa – heutige Gebietsstand der beklagten Freien und Hansestadt eine Fabrikation des NS-Staats. Erst durch das Groß-Hamburg-Gesetz vom 27. Januar 1937 waren die vormals preußischen Städte Altona, Harburg-Wilhelmsburg und Wandsbek eingemeindet worden. Hatte das OLG Hamburg argumentiert, dass der Aufopferungsanspruch nach §§ 74, 75 Einl. PrALR weder in Hamburg selbst noch im seit 1866 preußischen Altona geltendes Recht gewesen sei, hielt sich der BGH mit derlei Erwägungen nicht lange auf. Er folgte dem LG Hamburg in der Auffassung, es handle sich um einen "allgemeinen ungeschriebenen Rechtssatz …, der in einem Rechtsstaat notwendig aus der Stellung des Staates" gegenüber dem Bürger gelten müsse. Er gelte "gewohnheitsrechtlich" auch außerhalb der preußischen Grenzen von 1794. 

Dem Gedanken der älteren Rechtsprechung und Literatur, dass ein Aufopferungsanspruch nur bei Verletzung des Eigentumsrechts greife, mochte der BGH mit Blick auf die 1949 etablierten Grundrechte nicht folgen.  

Er erklärte, es treffe der "innere Grund, der für die Entschädigung bei Eingriffen in das Eigentum maßgeblich ist, in gleicher Weise für die Eingriffe in sonstige geschützte Lebensgüter, insbesondere für die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit zu. Auch bei den durch Eingriffe kraft Hoheitsrechts verursachten Gesundheitsschäden ist der Verstoß gegen den Gleichheitssatz das besondere Kennzeichen. Ist es aber gerade dieser Verstoß gegen den Gleichheitssatz, der die innere Begründung und Rechtfertigung für die Entschädigungspflicht bei Enteignungen abgibt, dann kann auch bei Eingriffen in die Gesundheit, die in gleicher Weise durch den Verstoß gegen den Gleichheitssatz gekennzeichnet sind, ein Entschädigungsanspruch nicht mehr versagt werden und wird auch hier um des Gleichheitssatzes willen die Entschädigung zum Ausgleich des besonderen Opfers des einzelnen geschuldet." 

Auch eine Art Entnazifizierung des Staatshaftungsrechts 

Dass das Reichsgericht 1937 den Ausgleich von Schäden nach der obligatorischen Pockenschutzimpfung mit dem Hinweis verweigert hatte, dass die nationalsozialistische Weltanschauung dem Individuum eine "verstärkte Opferpflicht" abverlange, kommentierte der BGH im Urteil vom 19. Februar 1953 wie folgt: 

"Einem derartigen Gedanken kann heute nicht mehr Raum gegeben werden. Vielmehr gebietet die Stellung, die der einzelne nach heutiger Anschauung zum Staat einnimmt, und der im heutigen Rechtsstaat dem einzelnen verfassungsmässig garantierte Schutz seiner wichtigsten Lebensgüter (Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum), dass ein Schaden, der dem einzelnen im Interesse der Allgemeinheit durch Eingriffe in diese Lebensgüter zugefügt wird, nicht von dem einzelnen, sondern von der Allgemeinheit getragen wird." 

Zum Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG), hielt der BGH fest, dass die neue Verfassung von 1949 es als "verfassungsmäßig geschütztes Grundrecht ausdrücklich proklamiert", die "verfassungsmäßige Verankerung" das Grundrecht "aber nicht erst zur Entstehung gebracht" habe. Die Rechtsgüter "des Lebens und der Gesundheit" seien vielmehr "von Schöpfung und Natur der Rechtsordnung vorausgesehen und jeder Mensch hat ganz unabhängig von einer entsprechenden gesetzlichen Normierung ein Recht auf diese Lebensgüter". 

Diese Überzeitlichkeit war einerseits von Interesse, weil der Impfschaden hier schon im Jahr 1930 eingetreten war. Die Feststellung erlaubte den Gerichten eine gewisse Unbefangenheit, die Werteordnung des Grundgesetzes auch auf zurückliegende Sachverhalte anzuwenden. 

Andererseits ist diese Vergewisserung zu Artikel 2 GG mit Blick auf die am Urteil vom 19. Februar 1953 beteiligten BGH-Richter bemerkenswert. Willi Geiger (1909–1994) war etwa zugleich seit 1951 Richter am BGH und von 1951 bis 1977 Richter des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Seit den 1960er Jahren war er öffentlicher Kritik unter anderem deshalb ausgesetzt, weil er im NS-Staat als Staatsanwalt auf Todesurteile hingewirkt hatte. Das Pathos der naturrechtlichen Überzeitlichkeit des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit mag damit auch etwas anrüchig wirken. 

Relevanzhinweis 

Als historisch und naturrechtlich begründetes Rechtsinstitut verlor der Aufopferungsanspruch durch die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Eigentum, Artikel 14 GG, später allgemein an Bedeutung. Konkret im Infektionsschutzrecht hat der Gesetzgeber den Fehler des Jahres 1874 nicht wiederholt und regelt die Pflicht zum Schadensausgleich ausdrücklich, heute in § 60 Infektionsschutzgesetz. 

Der Streit um die Frage, wie weit der Staat vernünftigerweise auf den Körper der Bürger zugreifen soll und darf, muss also auch ohne die historische Dimension geführt werden können. 

Zitiervorschlag

Pockenschutzimpfung: Impfschaden wird als Sonderopfer anerkannt . In: Legal Tribune Online, 19.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51101/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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