Chinesische Flüchtlinge und Kommunisten vor Gericht: Nach­wehen der Kul­tur­re­vo­lu­tion

von Martin Rath

16.05.2021

Am 16. Mai 1966 begann in der Volksrepublik China offiziell die Kulturrevolution. Der Terror dieser Epoche hat im deutschen Recht erstaunlich wenige Spuren hinterlassen – beispielsweise in zwei Fällen zum religiösen Selbstverständnis.

Als Helmut Schmidt (1918–2015) wenige Jahre vor seinem Tod wieder einmal gebeten wurde, den deutschen Zeitungsleser:innen darzulegen, wie er sich die Volksrepublik China vorzustellen habe, übte sich der Bundeskanzler a.D. in einer zunächst bescheiden wirkenden Pose.

Angesprochen beispielsweise auf das Tian'anmen-Massaker – am 3. und 4. Juni 1989 hatte die Volksbefreiungsarmee den Protest von

Student:innen, freisinnigen Gewerkschaftsleuten und einfachen Bürger:innen im Zentrum von Beijing niedergeschlagen – erklärte Schmidt, es habe sich um ein Ereignis gehandelt, "das der Westen nicht einmal im Ansatz" verstanden habe.

Schmidt hingegen hatte natürlich den Durchblick. Er war neben Ludwig Erhard* der bisher einzige Bundeskanzler mit militärischer Erfahrung – darauf zurückzuführen, dass seinerzeit Michail Gorbatschow (1931–) als Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Genossen der chinesischen Bruderpartei besucht habe, die das "Gesicht" verloren hätten. Denn sie seien gezwungen gewesen, ihren hohen Gast "durch die Hintertür" zu empfangen, während draußen das Volk für demokratische Rechte demonstrierte (WZ, 13.04.2008).

Traumata der Herrschaft Maos

Soziologisch und biografisch mindestens ebenso, wenn nicht plausibler erscheint eine andere Deutung: Vielen Angehörigen der chinesischen Führung steckten noch Erfahrungen mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen in den Knochen, die seit dem 16. Mai 1966 als "Große Proletarische Kulturrevolution" ihren Lauf nahmen.

An diesem Tag beschloss das Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas die "Mitteilung des 16. Mai", mit der es eine allgemeine Paranoia vor "bourgeoisen Elementen" in den eigenen Reihen und die Furcht vor liberalen Umsturzplänen beschwor.

Vorangegangen war der ökonomisch und ökologisch katastrophale "Große Sprung nach vorn" – der utopische Versuch, mit allen Mitteln die Montanindustrie aufzubauen und zugleich die Landwirtschaft zu modernisieren. Die Zahl der Hungertoten infolge dieser Politik der Jahre 1958 bis 1961 wird auf 15 bis 45 Millionen Menschen geschätzt.

In der etwas moderateren Staatspraxis, die darauf folgte, sah Mao Zedong (1893–1976) wiederum die Gefahr einer bürokratischen Erstarrung der kommunistischen Herrschaft. Sein Zirkel setzte zunächst jugendliche und heranwachsende Anhänger:innen gegen "reaktionäre akademische Autoritäten" und andere Menschen mit verdächtigem "Klassenhintergrund" in Bewegung. Es folgte deren Verschleppung aufs tief agrarisch geprägte Land, die Zerstörung von Kulturgütern, die Misshandlung und Tötung von "Klassenfeinden", demütigende Rituale der "öffentlichen Selbstkritik", der auch Teile der staatlichen Funktionseliten ausgesetzt waren.

Diese bürgerkriegsähnliche Gewalt ging namentlich von Schüler:innen und Student:innen aus: Jugendtypischer Altersstarrsinn ergänzt um die staatliche Erklärung, sich im Kampf für das Gute und gegen das Böse zu engagieren – wann ist jemals etwas Gescheites dabei herausgekommen?

Es spricht einiges dafür, dass die Nomenklatura der Volksrepublik im Jahr 1989 erneuten jugendlichen Überschwang befürchtete. Zu den zahllosen altgedienten Kommunisten, die während der Kulturrevolution gedemütigt wurden, zählte beispielsweise Xi Zhongxun (1913–2002), der Vater des heutigen "überragenden Führers" Xi Jinping (1953–).

In der Kulturrevolution aufs Land geschickt, Christen geworden

Trotz der zahlreichen Opfer der Einparteien-Herrschaft in der Volksrepublik China, die vielfach als akademisch gebildete Menschen auch weltweit mobil sind, bekam die deutsche Justiz mit bemerkenswert wenigen Fällen in diesem Zusammenhang zu tun.

In jüngerer Zeit hatte sich beispielsweise das Verwaltungsgericht (VG) Freiburg mit der Lebensgeschichte eines chinesischen Ehepaars auseinanderzusetzen, deren Leiden mit der "Kulturrevolution" begannen.

Die 1949 und 1950 geborenen Kläger, Staatsangehörige der Volksrepublik China, waren im Rahmen der Kulturrevolution im Jahr 1968 zur Arbeit aufs Dorf geschickt worden. 1980 kam ihr Sohn, als ihr einziges Kind zur Welt. Bis 1987 im Ladengeschäft des kollektivierten Dorfes tätig, hatten sie sich dann selbständig machen können, wurden aber vom Bürgermeister systematisch als "neureich gewordene Zugezogene" angefeindet, zu Waren- und Geldleistungen genötigt worden und blieben im Dorf "zugezogene Fremde".

Die Opposition der Eltern gegen den Bürgermeister kostete ihrem 20-jährigen Sohn das Leben. Er wurde von gedungenen Mafia-Schlägern schwer verletzt, starb nach sechsmonatiger Leidenszeit. Der Versuch, nach ausbleibendem Schutz von staatlicher Seite, selbst Anklage gegen den Bürgermeister zu erheben, verlief im Sande.

Nach Ansicht des Gerichts trugen die Eheleute glaubwürdig vor, sie hätten "in der Folgezeit aber den ungesühnten Tod ihres einzigen Kindes nicht verwinden können und der Seelsorge bedurft. Nachdem sie bis dahin Atheisten gewesen seien, hätte ihnen 2010 ein Freund/Kollege des Klägers die Bibel vorgestellt."

Die Versammlungen zur gemeinsamen Lektüre der Bibel wurden immer wieder von der Polizei gestört, die – angehenden – Christen kurzzeitig festgenommen.

Während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sich auf das individuelle Verhalten des Bürgermeisters fokussierte und auf die Millionen von Christen verwies, die heute in der Volksrepublik weitgehend ungestört praktizieren könnten, setzte sich das VG Freiburg mit der bedrängten Situation der staatlich nicht kuratierten "christlichen Hauskirchen" auseinander und verpflichtete das Bundesamt, den Eheleuten die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (Urt. v. 17.10.2019, Az. A 9 K 4768/17).

Marxismus-Leninismus und Maoismus als modische Weltanschauung in Deutschland

Sehr viel häufiger als mit Menschen, die vom atheistischen Herrschaftssystem geschädigt wurden, das Mao Zedong 1949 etablierte, waren deutsche Gerichte mit Verfahrensbeteiligten konfrontiert, die den Lehren des kommunistischen Politikers etwas Gutes abgewinnen wollten.

Mit Mao als Theoretiker des Partisanenkrieges sind hierzulande häufig konservative bis rechtsterroristische Zirkel gut vertraut. Karl-Heinz Hoffmann (1937–) berief sich etwa im Verfahren, das zum Verbot der nach ihm benannten "Wehrsportgruppe" führte, auf das Vorbild Maos, der bei seinem Kampf bis zur "Machtübernahme" in der Dimension von Jahrzehnten und über seine Lebenszeit hinaus gedacht habe (BVerwG, Urt. v. 02.12.1980, Az. 1 A 3.80).

Angehörige einst linksextremer Kreise konnten sich mit Mao hingegen auf eine Weise anfreunden, die sich später – meist ohne intellektuelle, öffentliche Anstrengung – als biografische Verwirrung abtun ließ.

Die frühere SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (1949–) oder der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (1948–) gehörten dem maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschlands an, eine Delegation unter Hans-Gerhard Schmierer (1942–) reiste gar 1978 nach Kambodscha, das unter der Terrorherrschaft der Bruderpartei der "Roten Khmer" stand.

Aus den vielfachen dienst- und arbeitsrechtlichen Problemen, die den zumeist akademisch gebildeten deutschen Ex-Kommunistinnen und -Kommunisten begegneten, soll ein Fall aus dem Ruhrgebiet herausgegriffen werden – er gesellt sich gut zur Sache der chinesischen Flüchtlinge in Freiburg.

Zum 1. April 1984 war ein 28-jähriger staatlich geprüfter Erzieher für die Arbeit mit 6- bis 16-Jährigen in einem katholischen Kinderheim in Gelsenkirchen-Horst angestellt worden. Nachdem er bei der NRW-Kommunalwahl 1984 für den "Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands" kandidierte, kündigte die Kirchengemeinde das Arbeitsverhältnis.

Im Kündigungsschutzverfahren berief sich der kommunistische Erzieher darauf, die katholische Gemeinde verkenne das Parteienprivileg, Artikel 21 Grundgesetz, und könne sich auch nicht auf den Tendenzschutz ihres Betriebes berufen, weil dieser ausschließlich aus öffentlichen Mitteln finanziert werde. Seine Kandidatur stehe nicht im Gegensatz zur christlichen Lehre, denn der "Marxismus/Leninismus lehne lediglich das religiöse Dogma von der Existenz einer göttlichen Macht als Schöpfer und Lenker der Geschicke der Menschheit ab. Der Marxismus/Leninismus trete andererseits für eine völlige Bekenntnisfreiheit, also auch der Freiheit der Religionsausübung, ein."

Christliche Nächstenliebe vs. Diktatur des Proletariats

Die beklagte Gemeinde erklärte, weltanschaulich vertrage sich der Kampf für "die proletarische Kulturrevolution" und die "Diktatur des Proletariats" nicht mit der betrieblichen "Aufgabenauffassung der christlichen Nächstenliebe".

Ein hübsches Detail: Der kommunistische Kläger führte an, dass sich die Kirchengemeinde nicht auf den Umstand stützen könne, dass er bekennender Atheist sei, denn das habe er im Vorstellungsgespräch offengelegt.

Der bei diesem Gespräch anwesende Pfarrer erinnerte sich im Verfahren anders: Er hatte dem Umstand, dass der neue Erzieher aus der Kirche ausgetreten war, eher entnehmen wollen, dass dieser ein "Suchender" auf dem Weg zurück zum rechten Glauben sei.

Das Landesarbeitsgericht Hamm folgte dem Antrag der beklagten Kirche, die es ihr auch in Betrieben außerhalb ihrer Kernaufgaben erlaube, von den Mitarbeitern einzufordern, im Sinn des kirchlichen Selbstverständnisses tätig zu sein. Die Parteizugehörigkeit hätte der Bewerber nicht verschweigen dürfen – denn seit dem 1. Juli 1949 vom Heiligen Offizium, seit 1983 durch can. 1374 Codex Iuris Canonici (CIC) geregelt sei die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei für Katholiken mit dem Kirchenbann belegt (LAG Hamm, Urt. v. 26.11.1985, Az. 7 Sa 1571/85).

Nicht überall war also der Terror, unter anderem der "Kulturrevolution", als Übung exotischer Chinesen in Erinnerung geblieben, für die einzutreten in Deutschland irgendwie populärkulturell harmlos und jugendlich unschuldig sei

*Korrektur 17.05.2021: Ludwig Erhard war Soldat im Ersten Weltkrieg und erlitt schwere Verwundungen (der Verfasser hatte hier den Zweiten Weltkrieg im Blick).

Zitiervorschlag

Chinesische Flüchtlinge und Kommunisten vor Gericht: Nachwehen der Kulturrevolution . In: Legal Tribune Online, 16.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44968/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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