Studie zum Gedenktafelstreit am BGH: Schwie­rig­keiten mit der eigenen Ver­gan­gen­heit

Gastbeitrag von Prof. Dr. Annette Weinke

02.06.2023

Was passiert mit der Gedenktafel am BGH? Eine von Präsidentin Bettina Limperg beauftragte Untersuchung zeigt: Die meisten geehrten Juristen waren am NS-Unrecht beteiligt. Annette Weinke rezensiert den Sammelband mit den Ergebnissen.

Im November 1995 räumte der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) in einem Urteilsspruch gegen einen früheren DDR-Richter ein, dafür mitverantwortlich gewesen zu sein, dass die strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem NS-Justizunrecht in der Bundesrepublik "insgesamt fehlgeschlagen" sei. Das höchstricherliche Schuldeingeständnis, das erste seiner Art, fand seinerzeit viel Anerkennung und Zustimmung.  

Tatsächlich hatte das Gericht aber seine eigene Rolle damals noch stark untertrieben. Statt von einem passiven Versagen bei der Verfolgung von NS-Richtern zu sprechen, wäre es ehrlicher gewesen, zu bekennen, dass man jahrzehntelang höchst aktiv an der Relativierung und Umdeutung des nationalsozialistischen Justizterrors mitgewirkt hatte. 

Der wohl markanteste Überrest dieser früheren Haltung ist eine Gedenktafel aus grauem Muschelkalk-Blaubank. Etwa ein Meter mal achtzig Zentimenter groß, hängt sie seit Oktober 1957 gut sichtbar im ersten Stock des Karlsruher Gerichtsgebäudes, gleich neben dem Eingang zum heutigen Baurechtssenat.  

Inwieweit waren geehrte Richter an NS-Unrecht beteiligt? 

Gestaltet vom Grafiker und früheren NS-Propagandisten Bogislav Groos, erinnert die goldene Inschrift an 34 frühere Angehörige des Leipziger Reichsgerichts. Im August 1945 hatte der sowjetische Geheimdienst jene auf einen Schlag festgenommen und interniert. Als so genannte Speziallagerhäftlinge und ohne gerichtliches Urteil waren sie einem harten Haftregime ausgesetzt, an dem fast alle über kurz oder lang verstarben. In den sogenannten Waldheimer Prozessen wurden drei Überlebende nach Auflösung der Lager von der DDR-Justiz verurteilt. 

Bereits 2017 machte Volkert Vorwerk, Rechtsanwalt am BGH, Präsidentin Bettina Limperg darauf aufmerksam, dass die meisten geehrten Juristen an typisch nationalsozialistischem Unrecht beteiligt gewesen seien. Limperg gab daraufhin eine Untersuchung in Auftrag und richtete 2022 zudem ein Symposium aus. Die wissenschaftlichen Ergebnisse liegen jetzt in einem schmalen Bändchen vor, das Limperg gemeinsam mit Michael Kißener und Andreas Roth herausgegeben hat. Die zwei Mainzer Rechtshistoriker sind auch als Autoren vertreten.

Das Reichsgericht als Schrittmacher einer neuen Rechtsordnung 

Ungeachtet einer eher schwierigen Quellenlage vermitteln die Beiträge der beiden Wissenschaftler ein erfreulich prägnantes und klares Bild. Den Schwerpunkt von Roths Untersuchung bilden Urteile der Zivil- und Strafsenate des Reichsgerichts, an denen die inhaftierten Richter nachweislich beteiligt waren. Sie sind vielfach erhalten geblieben und zum Teil auch schon wissenschaftlich ausgewertet.  

Im Gegensatz zu den gedruckten Fassungen, die in der Regel keine Namensnennungen enthalten, sind die ungedruckten Urteile in der BGH-Bibliothek zugänglich und mit den Namen der zuständigen Richter versehen. Da eine Zuordnung der Entscheidungsgründe zu einzelnen Personen aufgrund des Kollegialprinzips nicht zu leisten ist, spricht Roth von einer "Verstrickung" der Richter sowie einer "nationalsozialistisch gefärbten" Rechtsprechung.

Solche vagen Umschreibungen werden der historischen Rolle des Gerichts allerdings nur bedingt gerecht. Denn gerade das Reichsgericht verstand sich von Anfang an als selbsternannter Schrittmacher und Hüter einer neuen, völkisch-rassistischen Rechtsordnung.

Anfechtung der Ehe bei "nichtarischen" Großeltern des Partners 

Die von Roth ausgewählten Fallbeispiele illustrieren die (selbst-)radikalisierenden Wirkungen seiner Rechtsprechung. Der 2. Zivilsenat vertrat etwa im Februar 1939 die Auffassung, das "deutsche Publikum" habe bei Vertragsabschlüssen ein Recht darauf, über die "jüdische Rassezugehörigkeit" des Vertragspartners aufgeklärt zu werden. Mitverantwortlich für das Urteil war Heinrich Frings, der 1945 im Speziallager Mühlberg umgekommene Bruder des Kölner Erzbischofs Josef Frings.   

Noch verheerender waren die Entscheidungen im Familienrecht. Um zu dem gewünschten Ergebnis einer "blutmäßigen" Abstammungsgemeinschaft im Sinne der NS-Ideologie zu kommen, scheuten die Richter nicht davor zurück, den Gesetzeswortlaut umzuinterpretieren. Dementsprechend hielten sie 1938 dem Berufungsgericht selbstbewusst entgegen, die Anfechtung einer 1918 (!) geschlossenen Ehe mit einem Partner mit "nichtarischem" Großelternteil sei gerechtfertigt, könne diese doch trotz anderslautender Gesetzeslage nicht als "rassepolitisch" unbedenklich gelten.

Für die Strafrechtsprechung kommt Roth zu dem Gesamturteil, die auf der Gedenktafel Geehrten seien wesentlich an einer Verschärfung der NS-Rassegesetze beteiligt gewesen, indem sie etwa das so genannte Blutschutzgesetz gegen dessen Wortlaut ausgelegt hätten. Zudem hätten sich die meisten an der NS-Terrorjustiz beteiligt, indem sie auch in weniger schwerwiegenden Fällen aus Abschreckungsgründen für die Todesstrafe votiert hätten. Laut Roth ging es den Richtern dabei nicht um die Verhinderung von Straftaten, sondern um die regelrechte Vernichtung der Delinquenten.

Aktivitäten einer justizinternen "pressure group"

Kißeners akribisch recherchierter Beitrag zeichnet nach, wie ein einfacher Sprechakt im amnestie- und täterfreundlichen Klima der frühen Adenauer-Republik eine ganze Kaskade gedenkpolitischer Initiativen ins Rollen brachte. So hatte FDP-Justizminister Thomas Dehler den BGH schon anlässlich der Eröffnung 1950 in eine direkte Linie zum Reichsgericht gerückt.

Gut sechs Jahre später, als die westdeutsche Justiz wegen personeller Altlasten nicht nur von der DDR attackiert wurde, meldete sich ein früherer Leipziger Kollege bei BGH-Präsident Hermann Weinkauff. Walther Uppenkamp präsentierte sich als Sprecher einer achtköpfigen Gruppe von Senatspräsidenten und fünfzig weiteren ehemaligen Reichsgerichtsräten. Mit seinem – historisch nicht haltbaren  – Argument, es handele sich bei den toten Richtern um unschuldige Kriegsopfer und Widerstandskämpfer, denen man ein würdiges Gedenken schulde, rannte er bei Weinkauff offene Türen ein.

Kaum hing die Tafel, weckte sie weitere Begehrlichkeiten. Dass der BGH, seit 1960 unter Leitung von Bruno Heusinger, dem nachgab, indem er das ohnehin auffällige Stück durch eine Art Gedenkschrein aufwertete, hing laut Kißener mit dem nicht nachlassenden Druck der justizinternen "pressure group" zusammen. Auch als sich 1979 anlässlich des 100-jährigen Reichsgerichtsjubiläums erstmals massive öffentliche Kritik an dem morbiden Ensemble aus Tafel, Marmoraltar, Totenbuch und Kunstblumen regte, blieb BGH-Präsident Gerd Pfeiffer unbeeindruckt. Zwar verpasste er der Tafel nun einen menschenrechtlichen Anstrich, indem er anstelle der toten "Märtyrer" und "Männer des Rechts" die Opfer staatlicher Repression in den Vordergrund rückte.

Statt über eine Entfernung der Tafel nachzudenken, hielt Pfeiffer es aber für angebracht, mit der Aufstellung einer Büste für den ersten deutsch-jüdischen Gerichtspräsidenten Eduard von Simson ein zusätzliches, vermeintlich zeitgemäßeres Identifikationsangebot zu schaffen.

Wie die behördliche Erinnerungskultur ins 21. Jahrhundert überführen?

Abgesehen von einigen kleineren Veränderungen in den 1990er und 2000er Jahren liefen die großen erinnerungspolitischen Debatten der vereinigten Bundesrepublik, in denen um eine "doppelte Vergangenheit" gerungen wurde, weitgehend an Karlsruhe vorbei. Die Tafel hängt heute an derselben Stelle wie 1957, erst seit Kurzem ergänzt durch einige Erläuterungen zum Hintergrund der laufenden Untersuchung. Eine Ausstellungswand mit dem Titel "Eine Gedenktafel im Wandel der Bedeutungszuschreibung" stellt die unterschiedlichen Bewertungen Weinkauffs, Pfeiffers und Limpergs nebeneinander, verzichtet aber auf eine weitergehendere Einordnung. Entsprechend unmissverständlich laut die Forderung von Vorwerk: Die unsägliche Tafel müsse endlich weg!

Die vorliegende Band, den es ohne Vorwerks Intervention vermutlich gar nicht gäbe, vermittelt einen Eindruck von anhaltenden Schwierigkeiten der höchsten Gerichte im Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Tatsächlich geht es bei dem Gedenktafelstreit um nichts weniger als die Frage, wie es gelingen kann, eine in Jahrzehnten gewachsene behördliche Erinnerungskultur, die vielfach noch den Geist der beiden vergangenen Jahrhunderte atmet, in das  21. Jahrhundert zu überführen. Nach dem Mauerfall wurde der Mythos vom "großen Sterben am Reichsgericht" von rechten Publizisten aufgegriffen und gegen das politische System der Bundesrepublik in Stellung gebracht. Die Tatsache, dass die toten Reichsgerichtsräte inzwischen fester Bestandteil revisionistischer und rechtsextremer Opfererzählungen sind, macht deutlich, dass die Justiz die erinnerungskulturelle Erneuerung  nur in einem breiten gesellschaftlichen Dialog meistern kann.

Präs'in BGH Bettina Limperg, Prof. Dr. Michael Kißener, Prof. Dr. Andreas Roth, Entsorgung der Vergangenheit? Die Gedenktafel zur Erinnerung an 34 Reichsgerichtsräte und Reichsanwälte im Bundesgerichtshof, Nomos, 2023, 125 S., ISBN 978-3-7560-0242-9, 44,00 EUR. 

Die Autorin Dr. Annette Weinke ist Professorin am Historischen Seminar der Friedrich-Schiller-Universität Jena und stellvertretende Leiterin des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Bis zum 30. Juni 2023 ist sie als Stavenhagen-Gastprofessorin am Richard Koebner Minerva Center for German History an der Hebrew University of Jerusalem (Israel).

Zitiervorschlag

Studie zum Gedenktafelstreit am BGH: Schwierigkeiten mit der eigenen Vergangenheit . In: Legal Tribune Online, 02.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51908/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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