50 Jahre Lehrbuchfall zum Anstellungsbetrug: Als das Betrügen noch geholfen hat – vorerst jedenfalls

von Martin Rath

14.04.2012

Zu den klassischen Fällen, mit denen bis heute strafrechtliche Probleme gepaukt werden, zählt ein Urteil des Bundesgerichtshofs zum Anstellungsbetrug. Die Entscheidung aus dem Frühjahr 1962 gibt Anlass, von der großen Vergangenheit und zweifelhaften Zukunft dieser Form des Betrugs zu erzählen. Ein Essay von Martin Rath.

Selten dürfte ein Prozessvertreter der Bundesrepublik Deutschland vor einem Landgericht (LG) so gerüffelt worden sein. Geklagt hatte der Staat gegen einen früheren Soldaten der Bundeswehr, der zwischen 1956 und 1958 als Feldwebel besoldet worden war. Den Differenzbetrag zur geringeren Besoldung als Unteroffizier forderte der Staat zurück, als herauskam, dass der Mann vor seiner Einstellung bei der Bundeswehr gelogen hatte, "er sei bei der Deutschen Wehrmacht zuletzt Sanitätsfeldwebel gewesen". In einem höheren Rang als "Uffz." wäre er nicht beschäftigt worden. Den Standpunkt der Klägerin, es sei der ordentliche Rechtsweg für den Schadensersatzanspruch der Bundesrepublik gegeben, kanzelte das LG Darmstadt mit dem juristischen F-Wort harsch ab: "Begriffsjurisprudenz und Förmelei" seien fehl am Platz (Urt. v. 03.02.1966, Az. 6 S 396/65).

Sich mit falschen Angaben zur Person oder Vorbildung einen besser bezahlten Job zu verschaffen, scheint damals, in den 1950er- oder frühen 1960er-Jahren, Konjunktur gehabt zu haben. Fraglich, ob sich daran etwas wirklich Wesentliches geändert hat.

Anstellungsbetrug als Lehrbuchfall

In der juristischen Ausbildung spielt der Fall des Anstellungsbetrugs, der es in die halbamtliche Sammlung des Bundesgerichtshofs (BGH) brachte, bis heute eine Rolle, weil er das mitunter zweifelhafte Problem des Vermögensschadens bei einem strafrechtlich geahndeten Betrug illustriert. Abgedruckt ist das Urteil vom 4. Mai 1962 in der Entscheidungssammlung (BGHSt 17, 254-259, Az. 4 StR 71/62).

Nach den Feststellungen des LG Paderborn, auf die sich das BGH-Urteil stützt, hatte sich der Angeklagte "durch wahrheitswidrige Angaben über seine Ausbildung als Tiefbautechniker und durch Verschweigen seiner Vorstrafen die Anstellung bei zwei Stadtverwaltungen erschlichen".

Das LG Paderborn sprach den Mann, der offenbar als gescheiterter Bauunternehmer eine Anstellung als Bauingenieur erreicht hatte, vom Vorwurf des Betruges frei, weil kein Vermögensschaden entstanden sei: "Da die vom Angeklagten geleisteten Arbeiten dem entrichteten Entgelt entsprochen hätten, seien die Stadtgemeinden durch seine Anstellung nicht geschädigt worden."

Diesen Standpunkt bestätigte der BGH zwar mit der nicht sehr schmeichelhaften Feststellung, dass Angestellte des öffentlichen Dienstes im Gegensatz zu Beamten für ihre tatsächliche Leistung bezahlt würden. Die BGH-Richter monierten im Fall des falschen Bauingenieurs aber, dass das Vermögen der getäuschten Verwaltungen eventuell dadurch geschädigt worden sei, dass der Angestellte nur "für die gerade anfallenden Aufgaben" qualifiziert, gemessen an den allgemeinen Erwartungen an einen Bauingenieur aber unterqualifiziert gewesen sein könnte. Außerdem erklärten sie, dass in den Vorstrafen womöglich "eine einem Vermögensschaden gleichkommende Gefährdung des Vermögens lag".

Anstellungsbetrugsbetrug als zeittypische Tat?

Manche Entscheidung des BGH aus jenen Jahren mutet heute bizarr an, beispielsweise das bekannte Urteil vom 11. März 1960, demzufolge ein Obdachloser einen Betrug zu Lasten der Landeskasse begangen hatte, indem er sich durch eine falsche Selbstbezichtigung Unterkunft in der Untersuchungshaft verschaffte (BGHSt 14, 170-172, Az. 4 StR 588/59). Regt dieses Urteil heute Zweifel an der Menschenfreundlichkeit damaliger Richter an, hinterlässt der Fall des vermeintlichen Bauingenieurs pädagogisch wertvolle Zweifel an der zulässigen Ausdehnung strafrichterlicher Interpretation des reinen Wortlauts. Damit verdient "BGHSt 17, 254" den Rang als Lehrbuchfall.

Dass sich in den 1950er- bis 1960er-Jahren eine ganze Anzahl von Fällen zum sogenannten Anstellungsbetrug findet, wirft aber die über strafrechtliche Auslegungskünste hinausgehende Frage auf, ob die Betrugsfälle für ein bis heute unaufgearbeitetes Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte stehen.

Anlass zu dieser Frage gibt ein dramatischer Fall von akademischem Anstellungsbetrug, der sich fast zeitgleich zu den Fällen des falschen Feldwebels und des täuschenden Bauamtsangestellten abspielte, allerdings erst in den 1990er-Jahren aufgeklärt wurde: Ende April 1945 "starb" in den Ruinen der umkämpften Stadt Berlin ein gut vernetzter Literaturwissenschaftler namens Dr. Hans Schneider, um eine Woche später in Lübeck als Hans WernerSchwerte (1909-1999) wiederaufzuerstehen.

Unter dem Namen Schneider war er in der SS-Behörde "Ahnenerbe“ tätig gewesen, zuständig für NS-konforme "Wissenschaft". Ludwig Jäger dokumentiert in einer Analyse des Falls Schneider/Schwerte, dass der SS-Mann Schneider in den besetzten Niederlanden Geräte für Menschenexperimente im Konzentrationslager Dachau beschafft hat. Nach dem Identitätswechsel, einer neuen Promotion und der Habilitation wurde er schließlich 1965 auf den neu geschaffenen Germanistik-Lehrstuhl an der RWTH Aachen berufen. Der renommierten Hochschule stand er zwischen 1970 und 1973 als Rektor vor. Die SPD/FDP-Landesregierung von Nordrhein-Westfalen machte ihn zu ihrem akademischen Verbindungsmann. Unter anderem für die Niederlande.

Schneider/Schwerte konnte seinen Identitätswechsel trotz solcher grotesk wirkenden öffentlichen Aufgaben, in den Niederlanden hatte Schneider immerhin die Apparate für Dachau requirieren lassen, rund 50 Jahre aufrechterhalten. Bei allen Vorbehalten gegen "Dunkelfeldanalysen" im Allgemeinen: Was mag sich wohl am Arbeitsmarkt getummelt haben in den vergangenen 50, 60 Jahren – zwischen den früh entdeckten falschen Feldwebeln und Bauingenieuren und dramatischen Fällen wie Dr. Schneider/Schwerte?

Milder Anstellungsbetrug als neue soziale Pflicht

Dass Anstellungsbetrug von der frevelhaften Tat kleiner Hochstapler oder NS-belasteter Intellektueller zur sozialstaatlich geförderten Obliegenheit werden könnte, ist eine böse Pointe des an finsteren Gedanken reichen Romans "Schule der Arbeitslosen" von Joachim Zelter (erschienen, unterstützt vom Land Baden-Württemberg, 2006).

Der Roman spielt im Jahr 2016. Die Bundesagentur für Arbeit verbringt ihre "Kunden" für vier Monate in ein Trainingslager, die "Schule der Arbeitslosen". Dort erhalten sie in einem denglischen BWLer-Jargon "über viele Stunden, nahezu täglich" Unterricht im Fach Bewerbungstraining, dessen Inhalt im Wesentlichen darin besteht, einen für potenzielle Arbeitgeber "interessanten" Lebenslauf zurechtzufantasieren, um ihn anschließend rhetorisch geschickt zu "kommunizieren".

Wie nah diese böse Utopie der sozialen Realität schon kommt, verrät ein Blick in gängige, gut verkaufte Bewerbungshandbücher. So warnen die populären Ratgeberautoren Christian Püttjer und Uwe Schnierda vor "Lücken" im Lebenslauf – definiert als "Zeiträume über zwei Monate", für die keine Tätigkeiten angegeben sind. Ihre Empfehlung: "Versuchen Sie, eventuelle Lücken mit sinnvollen Tätigkeiten auszufüllen." Die Ratgeberkollegen Jürgen Hesse und Hans-Christian Schrader regen sogar ein "Lebenslauf-Tuning" an, mit überraschend detailreichen Tipps, wohin Bewerber mit dem Makel der Lebenslauflücke ihre Fantasie zur Befriedigung von Personalverantwortlichen schweifen lassen sollten.

Sollte zu allem Überfluss die Prognose des IBM-Vordenkers Gunther Dueck zutreffen, dass in der Arbeitswelt der Zukunft infolge fortschreitender Digitalisierung Fachwissen weiter an Wert verlieren wird, dürfte die substanzlose Selbstdarstellung noch an Bedeutung gewinnen.

Bis dahin muss man den Gedanken, dass eine staatliche Behörde wie die Bundesagentur für Arbeit die weichen Formen des Anstellungsbetrugs fördern könnte, als böses Phantasma verbuchen und der jetzt 50 Jahre zurückliegenden BGH-Entscheidung gedenken – an ein Urteil aus einer Zeit, in der Wahrheit und Fantasie noch würdig getrennt wurden.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, 50 Jahre Lehrbuchfall zum Anstellungsbetrug: Als das Betrügen noch geholfen hat – vorerst jedenfalls . In: Legal Tribune Online, 14.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5993/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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