Wegen der Migrationskrise hatte Österreich 2015 Grenzkontrollen eingerichtet. Der Schengener-Grenzkodex erlaubt dies eigentlich nur für sechs Monate, Österreich verlängerte seine aber mehrfach. Das ist auch möglich, findet der Generalanwalt.
Die mehrfache Verlängerung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum verstößt nicht gegen den Schengener Grenzkodex. Es müssen aber bei jeder Verlängerung die Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit besonders streng geprüft werden. Dieser Ansicht ist der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen (v. 06.10.2021, Az. C-368/20 und C-369/20)
Der Generalanwalt hat sich mit dem Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark (Österreich) beschäftigt. Diesem liegt der Fall eines Mannes vor, der im Jahr 2019 gleich zweimal die slowenisch-österreichische Grenze ohne gültiges Reisedokument überschritten hatte. Er musste deshalb eine Geldstrafe von 36 Euro zahlen. Er berief sich jedoch auf die Unionsrechtswidrigkeit von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraums und foch die Geldstrafe an.
Gefahr von "unannehmbaren oder absurden Ergebnissen"
Hintergrund der Grenzkontrollen ist laut EuGH, dass Österreich im Zusammenhang mit der Migrationskrise ab September 2015 die Grenzkontrollen zu Slowenien hin einführte. Später seien diese Kontrollen auf der Grundlage von verschiedenen Ausnahmen im Schengener Grenzkodex fortgesetzt worden, so auch zu dem streitigen Zeitpunkt 2019. Die damals angewandte Ausnahme gestattet den Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen, in denen die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit ernsthaft bedroht ist, die Kontrollen an Binnengrenzen wieder einzuführen. Die Höchstdauer beträgt jedoch sechs Monate. Österreich hatte die Anwendung der Ausnahme aber immer wieder verlängert, weil die Voraussetzungen weiterhin vorgelegen hätten.
Ob dies mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar ist, will das Landesverwaltungsgericht nun vom EuGH wissen. Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe ist nun in seinen Schlussanträgen der Ansicht, dass dies der Fall ist. Allerdings müssten für eine solche Anwendung, bei der die frühere ernsthafte Bedrohung fortbesteht, an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders strenge Kriterien angelegt werden. So müssten unter anderem konkrete, objektive und umfassende Analysen erläutern, warum eine Verlängerung der Kontrolle angemessen sei. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass es zu "unannehmbaren oder sogar absurden Ergebnissen" kommt. Schließlich seien ernsthafte Bedrohungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit nicht notwendigerweise zeitlich begrenzt.
Der Generalanwalt führt zudem aus, dass der Schengener Grenzkodex nicht nur sicherstellen soll, dass Personen beim Überschreiten von Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Es sei eben auch bezweckt, dass sämtliche Bedrohungen der öffentlichen Ordnung bekämpft werden. Daher dürften die Befugnisse und Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten dahingehend auch nicht durch absolute Fristen begrenzt werden.
pdi/LTO-Redaktion
EuGH-Schlussanträge: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46224 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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