Polens Justizreform, die Zukunft des europäischen Vereinsfußballs und der Datenschutz von Mietern und Facebook-Usern – all das lag 2023 in den Händen des EuGH. Was er entschieden hat und wie er seinen Workload künftig reduzieren will.
Polens "Maulkorbgesetz" nicht rechtsstaatlich
Polen hat im Oktober 2023 neu gewählt. Die nationalkonservative PiS-Partei wurde zwar stärkste Kraft, fand aber keine mehrheitsfähige Regierungskoalition. De-facto-Wahlsieger ist damit Donald Tusk, der seit Mitte Dezember eine pro-europäische Regierung aus seiner Bürgerkoalition, Drittem Weg und Linke leitet. Polen solle ein Anführer innerhalb der EU werden, sagte Tusk kurz vor seiner Vereidigung als Ministerpräsident im Parlament. Um in Brüssel mit gutem Beispiel voranzugehen, muss Warschau den Blick aber zunächst nach innen richten und die Justizreformen der PiS-Regierung korrigieren.
Wegen dieser hatte die Kommission Polen in mehreren Verfahren wegen Verletzung der Europäischen Verträge verklagt, gleich mehrfach hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) der PiS-Regierung daraufhin auf die Finger geklopft. Er hatte 2021 etwa in einem System zur Disziplinierung von Richtern durch eine Disziplinarkammer einen Verstoß gegen Unionsrecht gesehen.
Die PiS-Regierung reagierte – wenn auch erst nach einer Zwangsgeld-Anordnung durch den EuGH und einer Auszahlungssperre für Corona-Hilfen –, andere Reformelemente blieben aber in Kraft. Zum Beispiel ein Gesetz, das die (damalige) Opposition "Maulkorbgesetz" nannte. Dieses erklärte der EuGH im Juni für unionsrechtswidrig (Urt. v. 05.06.2023, Az. C-204/21).
Das Gesetz hatte polnischen Gerichten untersagt, die Unabhängigkeit anderer polnischer Richter zu überprüfen. Die ausschließliche Zuständigkeit für diese Prüfung wurde einer Kontrollkammer am Obersten Gericht übertragen. Hintergrund war, dass die Regierung in den ersten Justizreformen zahlreiche neue Richter über den von ihr kontrollierten Landesjustizrat ernannt hatte. Das "Maulkorbgesetz" sollte nun verhindern, dass die "alten" Richter die "neuen" auf ihre Unabhängigkeit überprüfen können. Für den Fall, dass sie dies doch täten oder die Frage dem EuGH vorlegten, sah das Gesetz ein Verfahren vor der Disziplinarkammer vor, die der EuGH 2021 beanstandet hatte. Diese Rechtsprechung führten die Luxemburger Richter nun fort. Allein die Aussicht auf Disziplinarstrafen bei Anwendung von Unionsrecht gefährde die richterliche Unabhängigkeit.
Mit dem Urteil vom Juni 2023 ist der Streit zwischen Kommission und Polen nicht zu Ende. Das eine oder andere beim EuGH zur Justizreform noch anhängige Verfahren könnte sich erledigen, soweit Tusk den angekündigten Plan zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit umsetzt und die Reformen rückgängig macht. Inwiefern das möglich und realistisch ist, haben David Gregosz und Thomas Behrens für LTO aus politikwissenschaftlicher Sicht analysiert – ihr Fazit: "Eine Umsetzung rascher, tiefgreifender Reformen ist nicht absehbar."
Auch wenn Richtern in Deutschland kein Disziplinarverfahren droht, wenn sie den EuGH um Hilfe bitten, kommt es vor, dass ein Gericht eine Rechtsfrage entscheidet, die es eigentlich dem EuGH hätte vorlegen müssen. Das passiert auch dem höchsten deutschen Zivilgericht – wie 2021 im Zusammenhang mit der Haftung von VW, Mercedes & Co. für illegale Abschalteinrichtungen. Dafür lässt der EuGH Karlsruhe nun nachsitzen.
Dieselgate-Haftung I: BGH muss bei Thermofenstern nachjustieren
Das Thema Abschalteinrichtungen hat die nationalen Gerichte und den EuGH in den vergangenen Jahren häufiger beschäftigt; das Oberlandesgericht Stuttgart arbeitet mittlerweile sogar mit Künstlicher Intelligenz, um der Klageflut gegen Mercedes Herr zu werden.
Viele zentrale Rechtsfragen der Herstellerhaftung sind inzwischen geklärt. So haftet VW gegenüber Autokäufern für seine berüchtigte Abschalteinrichtung mit Prüfstandserkennung wegen vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Für sog. Thermofenster hingegen sind diese Voraussetzungen nach einem BGH-Urteil von 2021 nicht gegeben. Ob Thermofenster illegale Abschalteinrichtungen sind, sei so unklar gewesen – der EuGH bejahte dies 2022 aber schließlich –, dass dem Hersteller nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden könne. Und der reicht eben nicht für § 826 BGB. Anders bei § 823 Abs. 2 BGB, der Haftung wegen Verletzung eines Schutzgesetzes. Hier stellt sich aber die Frage: Sind die einschlägigen EU-Regelungen* über die Genehmigung von Kraftfahrzeugen "Schutzgesetze", d.h. bezwecken sie den Schutz des Vermögens der Fahrzeugkäufer?
Das hielt der BGH 2021 für so abwegig, dass er den Fall nicht dem EuGH vorlegte, obwohl es um die Auslegung von Unionsrecht geht. Für den dortigen Fahrzeugkäufer niederschmetternd: Er bekam kein Geld vom Hersteller und musste auch noch die Gerichtskosten für drei Instanzen zahlen.
Auf anderem Weg – durch eine Vorlage des Landgerichts Ravensburg – gelangte die Rechtsfrage doch noch nach Luxemburg. Hier entschieden die EuGH-Richter im März, dass die einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften* sehr wohl Individualschutz zugunsten der Käufer bezwecken (Urt. v. 21.03.2023, Az. C-100/21). Wie der BGH in einem weiteren Haftungsfall auf dieses Urteil reagiert hat, können Sie in unserem BGH-Jahresrückblick 2023 nachlesen.
Dafür, dass VW Diesel-Fahrzeuge mit illegalen Abschalteinrichtungen in Verkehr gebracht hat, haftet das Unternehmen nicht nur zivilrechtlich. Vielmehr zieht der Abgasskandal auch verwaltungsrechtliche Konsequenzen, nämlich Bußgelder, nach sich. Auch dazu hat der EuGH 2023 wichtige Entscheidungen gefällt.
* Das betrifft u.a. die EG-Verordnung 715/2007 über die Typgenehmigung von Fahrzeugen. Diese war hier zunächst als EG-FGV abgekürzt. Das war missverständlich, weil auch eine deutsche Rechtsverordnung zur Umsetzung der EG-Regelungen diese Abkürzung trägt. Geändert auf Leserhinweis am 04.01.2023, 11:20 Uhr (Red.).
Dieselgate-Haftung II: kein doppeltes Bußgeld für VW
Dass VW, Mercedes und andere Hersteller in vielen Diesel-Modellen serienmäßig unzulässige Abschalteinrichtungen verbauten, verletzte nicht nur europäisches Sekundärrecht*. Es zerstörte auch das Vertrauen der Käufer, täuschte Aufsichtsbehörden und schadete Umwelt und Klima. Die rechtliche Konsequenz: Die Hersteller müssen nicht nur den Autokäufern Schadensersatz leisten, sondern auch Bußgelder an den Staat zahlen.
Aber geht das zweimal wegen derselben unerlaubten Handlung, also zweimal in derselben Sache? Nein, sagte der EuGH im Herbst zugunsten von VW (Urt. v. 14.09.2023, Az. C-27/22).
Das Unternehmen war von Italien und Deutschland doppelt zur Kasse gebeten worden: Die italienische Wettbewerbsbehörde forderte 2016 fünf Millionen Euro für das Inverkehrbringen der mit der manipulierten Schadstoffsoftware ausgestatteten Fahrzeuge. Gegen diese Entscheidung ging VW vor dem regionalen Verwaltungsgericht vor. Währenddessen kassierte der Hersteller auch in Deutschland einen Bußgeldbescheid in Höhe von einer Milliarde Euro, ebenfalls wegen des Einbaus und Inverkehrbringens der Schadstoff-Software. VW zahlte in Deutschland, ohne den hiesigen Bescheid anzufechten, hielt aber den italienischen Bescheid wegen Verstoßes gegen das in Art. 50 der EU-Grundrechte-Charta (GRCh) verankerte Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem) für rechtswidrig. Nur: Gilt dieser strafprozessuale Grundsatz auch im Verwaltungsrecht?
Ja, antwortete der EuGH auf die entsprechende Vorlagefrage des italienischen Staatsrats (Consiglio di Stato). Geldbußen seien strafrechtlicher Natur und Art. 50 GRCh daher anwendbar. Dass der italienische Bescheid vor dem deutschen ergangen war, spielt laut EuGH keine Rolle. Entscheidend sei nur, welcher Bescheid zuerst rechtskräftig geworden sei, denn damit sei das Verfahren dort unanfechtbar abgeschlossen. Dass VW die Geldbuße in Deutschland anstandslos gezahlt hat, hat somit den italienischen Bescheid nachträglich rechtswidrig werden lassen. Gut zu wissen!
Auch im nächsten Urteil geht es um ein Bußgeld gegen ein deutsches Unternehmen, den Vermieter mit den meisten Mietern hierzulande: Deutsche Wohnen.
* Das betrifft u.a. die EG-Verordnung 715/2007 über die Typgenehmigung von Fahrzeugen. Diese war hier zunächst als EG-FGV abgekürzt. Das war missverständlich, weil auch eine deutsche Rechtsverordnung zur Umsetzung der EG-Regelungen diese Abkürzung trägt. Geändert auf Leserhinweis am 04.01.2023, 11:20 Uhr (Red.).
Bußgeld gegen Unternehmen nur bei Verschulden des Unternehmens
Die zwei Aussagen des EuGH-Urteils vom 5. Dezember im Fall "Deutsche Wohnen" (Az. C-807/21) sind zentral: Für Datenschutzverletzungen muss eine juristische Person nur bei Verschulden ein Bußgeld zahlen. Ein schuldhaftes Fehlverhalten muss aber nicht bei einer identifizierten natürlichen Person als Repräsentant des Unternehmens nachgewiesen sein; vielmehr genügt ein Unternehmens- bzw. Organisationsverschulden.
Das stellte der EuGH zu Art. 83 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) fest und beantwortete damit zwei Vorlagefragen des Kammergerichts (KG).
Hintergrund des Ausgangsfalls in Berlin waren verschiedene DSGVO-Verstöße der Deutsche Wohnen SE. Der Wohnungsgesellschaft wird insbesondere vorgeworfen, Mieterdaten länger als zulässig gespeichert zu haben. Die Berliner Datenschutzbeauftragte erließ einen Bußgeldbescheid in Höhe von 14,5 Millionen Euro, der die juristische Person zur Kasse bat, ohne zu benennen, wer im Unternehmen genau Fehler begangen hat. Das Landgericht Berlin erklärte den Bescheid deshalb für unwirksam, die Voraussetzungen von Geldbußen gegen juristische Personen nach § 30 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) seien nicht dargelegt. Das KG muss nun über die hiergegen von der Berliner Staatsanwaltschaft eingelegte Beschwerde entscheiden. Wie das KG die Vorgaben des EuGH zur Bußgeldhaftung von Unternehmen für DSGVO-Verstöße ins System der §§ 30, 130 OWiG integriert, wird durchaus spannend.
Interessanterweise verbuchten sowohl Datenschützer als auch Vertreter der Deutsche Wohnen das EuGH-Urteil als Erfolg. Kann das sein oder zeichnet eine Seite hier ein geschöntes Bild? Dieser Frage ist Datenschutzrechtler Dr. Markus Wünschelbaum nachgegangen. Er zeigt dabei auf, dass der EuGH hier keine gänzlich neuen Grundsätze der Unternehmenshaftung entwickelt, sondern vor allem seine Rechtsprechung aus dem Kartellrecht ins Datenschutzrecht übertragen hat.
Das liegt schon deshalb nahe, weil Nutzerdaten Vermögenswerte sein und Marktmacht begründen können – ein Gedanke, der auch die nächsten beiden Verfahren prägt.
Schufa-Scoring verstößt gegen Datenschutz-Vorgaben
Wie im Fall Deutsche Wohnen geht es auch im folgenden Fall um den Datenschutz von (angehenden) Mietern, aber auch von Bankkunden und Käufern, die in Raten zahlen wollen. Es geht um das Schufa-Scoring, das im schnelllebigen Rechtsverkehr eine fixe und vertrauenswürdige Bonitätsprüfung potenzieller Vertragspartner ermöglicht. Aus dem Rechtsverkehr ist das Schufa-Scoring eigentlich nicht wegzudenken. Nach einem Urteil des EuGH vom 7. Dezember (Az. C-634/21) muss die Wirtschaftsauskunftei ihre Praxis nun allerdings anpassen.
Die Vorlage des Verwaltungsgerichts (VG) Wiesbaden betraf die Frage, ob das Scoring eine "ausschließlich auf einer automatisierten [Daten-]Verarbeitung beruhende Entscheidung" ist, die dem Betroffenen gegenüber "rechtliche Wirkung entfaltet oder [ihn] in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt". Denn eine solche ist nach Art. 22 Abs. 1 DSGVO regelmäßig nur zulässig, wenn das Gesetz sie ausdrücklich erlaubt oder der Betroffene einwilligt. Der Gedanke dahinter: Verbraucher sollen negative (Rechts-)Folgen nicht allein aufgrund einer automatisierten Datenverarbeitung erleiden – oder noch zugespitzter: Ihr Schicksal im Rechtsverkehr soll nicht allein von Künstlicher Intelligenz (KI) abhängen.
Die Schufa hielt die Regelung für nicht anwendbar. Sie setze voraus, dass der Akteur, der die Datenverarbeitung verantwortet (hier die Schufa), und derjenige, der die darauf beruhende "Entscheidung" trifft (Kreditgeber, Vermieter, Verkäufer), identisch sind.
Das allerdings sah der EuGH anders: Er bejahte einen Verstoß gegen die DSGVO, wenn das Scoring eine maßgebliche Rolle bei der Entscheidung über einen Vertragsschluss spielt. Das VG muss nun prüfen, ob das deutsche Recht eine gültige Ausnahme gemäß Art. 22 Abs. 2 DSGVO enthält und ob auch die übrigen DSGVO-Vorschriften eingehalten worden sind. Stefan Schmidbauer hat die Urteilsgründe und Reaktionen zusammengefasst. Da Verbraucherschützer das Urteil begrüßten und sich die Schufa zugleich gelassen zeigte, hat LTO die Prozessvertreter beider Seiten zu den praktischen Folgen zu Wort kommen lassen. Worin Schufa-Vertreter Prof. Dr. Gregor Thüsing ein "Problem" für KI-basierte Entscheidungen sieht, das begrüßt Klägervertreter Dr. Raphael Rohrmoser als "Stärkung des Faktors Mensch".
Die 2018 in Kraft getretene DSGVO macht dem EuGH viel Arbeit: Auch im nächsten Fall spielen der Datenschutz und die auf der Sammlung von Daten beruhende wirtschaftliche Macht eine Rolle. Es geht – na klar – um Facebook.
Pleite für Meta/Facebook gegen Bundeskartellamt
Wer sich auf Facebook anmeldet, muss den Nutzungsbedingungen und den Daten-Richtlinien zustimmen. Diese gestatten es dem Betreiber Meta, Nutzerdaten über die Aktivitäten innerhalb und außerhalb von Facebook zu erfassen und sie den User-Konten zuzuordnen. Wenn Nutzer also zeitgleich auf anderen Websites surfen, verwendet Meta diese Daten, um Werbung, die die Nutzer auf Facebook angezeigt bekommen, auf deren Präferenzen zuzuschneiden.
Das Bundeskartellamt (BKartA) untersagte diese Praxis 2019 als unzulässige Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung. Unzulässig deshalb, weil die Datenverarbeitung gegen die DSGVO verstoße. Doch durfte sie als Wettbewerbsbehörde überhaupt Datenschutzrecht prüfen?
Ja, entschied im Sommer der EuGH – und stärkte damit die Befugnisse der Wettbewerbsaufsicht erheblich (Urt. v. 04.07.2023, Az. C-252/21). Der EuGH wies einerseits darauf hin, dass die beherrschende Stellung auf dem deutschen Markt für soziale Online-Netzwerke ein wichtiger Aspekt für die Prüfung sei, ob die Einwilligung in die Datenverarbeitung überhaupt freiwillig war. Andererseits betonte er, dass sich ein Missbrauch dieser Marktmacht auch aus DSGVO-Verstößen ergeben könne. Damit machten die Luxemburger Richter einmal mehr deutlich, dass Kartellrecht und Datenschutz nicht (mehr) getrennt zu denken sind. Die Wechselwirkungen der beiden Rechtsgebiete sind insbesondere im Bereich sozialer Netzwerke wie Facebook oder Instagram zu beobachten, wo Nutzer die Account-Bereitstellung mit ihren Daten "bezahlen".
Im Kartellrecht spielt auch der nächste Fall dieser Best-of-Serie. Es geht um Fußball.
European Super League – UEFA 1:0?
Ein Knaller kurz vor Weihnachten: Der EuGH entschied im Fall der "European Super League" zu Ungunsten der Fußballverbände UEFA und FIFA (Urt. v. 21.12.2023, Az. C-333/21). Durchaus überraschend, da der Generalanwalt ein Jahr zuvor noch umgekehrt plädiert hatte.
Hintergrund des Verfahrens ist, dass zwölf Top-Clubs im April 2021 die Gründung einer Superliga verkündet hatten. Der Plan wurde nach starken Protesten von Ligen, Verbänden und Fans sowie der Androhung scharfer Sanktionen durch UEFA und FIFA schnell wieder verworfen. Aber nicht von allen Vereinen: Real Madrid, Juventus Turin und FC Barcelona wollen weiterhin eine Super League als Konkurrenz zur UEFA Champions League gründen. Die European Super League Company (ESLC) hatte daher Klage gegen die Europäische Fußball-Union UEFA und den Weltverband FIFA bei einem Gericht in Madrid eingereicht. Dieses wiederum rief den EuGH an, um klären zu lassen, ob die Verbände durch ihre Sanktionsandrohung gegen Kartellrecht verstoßen haben.
Das bejahte der EuGH auf Grundlage der geltenden Statuten der Verbände. Zunächst stellte er fest, dass die Veranstaltung von Fußballwettbewerben und die Verwertung der Medienrechte eindeutig wirtschaftliche Tätigkeiten seien, für die das Wettbewerbsrecht gelte. Daraus ergebe sich für UEFA und FIFA als Inhaber einer marktbeherrschenden Stellung die Pflicht, die Bedingungen für den Zugang potenzieller Konkurrenten "transparent, objektiv, nicht-diskriminierend und verhältnismäßig" auszugestalten. Und genau das, so der EuGH, sei nicht der Fall, die Statuten der Verbände seien deshalb missbräuchlich.
Inwiefern der EuGH damit einer Revolution des europäischen Vereinsfußballs die Tür öffnete, wird unterschiedlich beurteilt: Während die ESLC sogleich einen Plan für eine noch umfassendere Superliga aus der Schublade zog und große Visionen verkündete, wies die UEFA gelassen darauf hin, ihre Statuten bereits angepasst zu haben.
Der EuGH stellte ausdrücklich klar, dass UEFA und FIFA nicht zwangsläufig verpflichtet seien, den Teilnehmern ihrer Fußballligen die parallele Teilnahme an einer Konkurrenzliga zu genehmigen. Auch machten die Luxemburger Richter deutlich, nicht über die Zulässigkeit des konkreten Projekts European Super League entschieden zu haben. Das endgültige Urteil darüber obliege dem Handelsgericht in Madrid. Dieses wird auch die Frage klären müssen, ob das von FIFA und UEFA derzeit unterhaltene System der Verwertung von TV-Übertragungsrechten wettbewerbsschädigend ist. Der EuGH beanstandete in seinem Urteil, dass die monopolistische Verwertung Zuschauern den Genuss "neuer und potenziell innovativer oder interessanter Wettbewerbe" verwehre. Das spanische Gericht müsse nun prüfen, ob die Gewinne der Fußballgemeinschaft durch eine "solidarische Umverteilung" doch zugutekommen.
Den Abschluss der Best-of-Liste bildet eine vielbeachtete Entscheidung aus dem Arbeitsrecht, die zu einer Rechtsprechungsänderung beim Bundesarbeitsgericht führen dürfte.
EuGH leitet BAG-Kurswechsel zu Massenentlassungen ein
Sind Entlassungen in größerem Umfang geplant, müssen Unternehmen vor Ausspruch der Kündigungen ein Massenentlassungsverfahren mit zahlreichen formellen Hürden durchlaufen. Der Arbeitgeber muss die Massenentlassung bei der zuständigen Agentur für Arbeit anzeigen und zuvor den Betriebsrat beteiligen. In diesem Konsultationsverfahren sollen Arbeitgeber und Betriebsrat darüber beraten, ob Entlassungen vermieden bzw. die Folgen gemindert werden können.
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) führen auch kleinere Fehler im vorgeschriebenen Verfahrensablauf zur Nichtigkeit der Kündigung. Das könnte sich nun ändern, denn der Sechste BAG-Senat kündigte im Dezember einen Kurswechsel an, nachzulesen hier sowie in unserem BAG-Jahresrückblick 2023. Dieser geht zurück auf ein EuGH-Urteil vom 13. Juli (Az. C-134/22). Hier hatten die Luxemburger Richter auf BAG-Vorlage zu entscheiden: Bezweckt die Pflicht zur Anzeige der Massenentlassung gegenüber der Arbeitsagentur Individualschutz der Arbeitnehmer?
Das verneinten die Richter. Die Anzeigepflicht diene allein der Information der Behörde, damit diese sich auf die Folgen der Massenentlassung vorbereiten könne. Die Hintergründe erläutert Rechtsanwalt Dr. Thomas Köllmann.
Der EuGH hatte 2023 also wieder vor allem mit der Verfahrensart des Vorabentscheidungsverfahrens zu tun. Hierfür gab es 2023 Neuerungen, weitere wurden beschlossen. Dazu der letzte Teil unseres Jahresrückblicks.
EuG soll EuGH entlasten und die Fallnamen geben ein Comeback
Vorabentscheidungen sind für etwa zwei Drittel der EuGH-Verfahren verantwortlich. Gerade weil sich der EuGH selbst die Deutungshoheit über das Unionsrecht zuerkannt hat, müssen nationale Gerichte ihm Fälle immer dann vorlegen, wenn deren Entscheidung von der Auslegung des Unionsrechts abhängt und der EuGH die Fragen bislang noch nicht geklärt hat. Je mehr EU-Richtlinien und -Verordnungen erlassen werden, desto häufiger werden Vorlagen in Luxemburg. Die Fallzahl steigt daher seit Jahren stetig an.
Um diesen Workload nicht mehr allein stemmen zu müssen, schlug der EuGH im Februar vor, Zuständigkeiten für Vorabentscheidungsverfahren in bestimmten Bereichen auf das Europäische Gericht (EuG) zu verlagern. Konkret geht es u.a. um die Rechtsbereiche Mehrwertsteuer, Fahrgast- und Fluggastrechte, Zollkodex und Zertifikate für CO2-Emissionen. Laut einer Mitteilung des Rats vom Dezember stimmten Parlament und Rat einem entsprechenden Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung des Gerichtshofs der EU zu. Demnach sollen künftig zudem Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten öffentlich zugänglich gemacht werden.
Vorabentscheidungsverfahren liegt stets ein Ausgangsverfahren vor dem nationalen Gericht zugrunde. Dort streiten Beteiligte gegeneinander, die nicht selten klangvolle (Firmen-)Namen wie van Gend en Loos, Francovich oder Dassonville haben, nach denen die EuGH-Urteile benannt werden. Oder besser: worden sind. Der Weiterführung dieser Praxis steht seit 2018 die DSGVO im Weg. Um den Datenschutz zu wahren, versah der EuGH die Fälle nur noch mit den Initialen. D.Z., A.S. – das ist dann nicht mehr so eingängig. Seit Januar 2023 erhalten die Fälle aber doch wieder – wenn auch fiktive – Namen.
Sollte man kennen: Acht wichtige EuGH-Entscheidungen 2023 . In: Legal Tribune Online, 03.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53541/ (abgerufen am: 09.05.2024 )
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