Der EuGH ist überlastet. Daher möchte er die Richter des ihm beigeordneten EuG auf 56 verdoppeln und zugleich das einzige Fachgericht abschaffen. Aus praktischer Sicht erscheint dieser Vorschlag nachvollziehbar, mittelfristig wird das aber nicht reichen, meint Alexander Thiele.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) zeigte schon im Jahr 1989 an, dass er überlastet sei. Mit der Errichtung des "Gerichts erster Instanz" (EuG) im Jahre 1989 schien die Gefahr der Arbeitsüberlastung der europäischen Gerichtsbarkeit zunächst einmal abgewendet.
Das dem EuGH nachgeordnete Gericht, das seit dem Vertrag von Lissabon "Europäisches Gericht" genannt wird, entscheidet nun hauptsächlich über alle Klagen natürlicher und juristischer Personen, der EuGH wird hier nur noch als Rechtsmittelinstanz tätig. Erstinstanzlich beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs weitgehend auf Klagen der Organe, der Mitgliedstaaten und das Vorabentscheidungsverfahren.
Allerdings bedeutete die Erweiterung der EU bereits einen erheblichen Mehraufwand, der ab 2004 wieder zu einem Problem zu werden drohte. Diesen federte im Jahr 2006 jedoch die Errichtung des ersten Fachgerichts für den öffentlichen Dienst (EuGöD) ab, welches für Rechtsstreitigkeiten zwischen der Europäischen Union (EU) und ihren Beamten und sonstigen Bediensteten zuständig ist. Das Gericht befasst sich mit diesen Fällen in zweiter Instanz und nur in seltenen Ausnahmefällen gelangen diese Streitigkeiten danach noch an den Gerichtshof.
Vor allem Situation am EuG prekär
Inzwischen wurde die EU erneut um einige Mitgliedstaaten erweitert. Auch gewinnt das materielle Europarecht zunehmend an Bedeutung. Diese Veränderungen haben nun erneut zu kritischen Zuständen an den europäischen Gerichten geführt.
Als prekär erweist sich hier vor allem die Situation am EuG. Während noch im Jahr 2010 und 2011 "nur" 636 bzw. 722 neue Rechtssachen anhängig gemacht wurden, wird diese Zahl im Jahr 2014 voraussichtlich auf ca. 1.000 steigen. Insgesamt sind beim Gericht mittlerweile knapp 1.600 Rechtssachen anhängig – und damit fast doppelt so viele wie beim ebenfalls 28 Richterinnen und Richter umfassenden Gerichtshof.
Diese Auslastung wirkt sich zwangsläufig auch auf die durchschnittliche Verfahrensdauer aus. Im Bereich Wettbewerbsrecht erging eine Entscheidung des EuG im Jahr 2012 durchschnittlich erst nach 48,4 Monaten – also nach mehr als vier Jahren. Im Beihilfenrecht sieht es nur wenig besser aus.
Hier betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer im Jahr 2012 mit 31,5 Monaten mehr als zweieinhalb Jahre. Zum Vergleich: Ein Vorabentscheidungsurteil des EuGH erging im Jahr 2012 in durchschnittlich 15,7 Monaten. Konsequenterweise sind mittlerweile bereits die ersten Schadensersatzklagen anhängig, in denen dem Gericht eine Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer vorgeworfen wird.
Diese praktisch unbestrittene Feststellung einer drohenden, wenn nicht gar schon bestehenden Überlastung des EuG beantwortet allerdings noch nicht die Frage, auf welchem Wege dieser begegnet werden sollte. Sieht man von einer förmlichen Vertragsänderung ab, bietet der AEU-Vertrag insoweit zwei Möglichkeiten: Entweder die Erhöhung der Zahl der Richterinnen und Richter oder die Errichtung weiterer Fachgerichte zu dessen Entlastung.
Verdopplung der Richter, Abschaffung des Fachgerichts?
Der EuGH hat sich in seinem an den Rat gerichteten Vorschlag nun dafür ausgesprochen, den ersten Weg zu gehen und die Zahl der Richterstellen des EuG in drei Stufen zu verdoppeln. Ab 2019 wären damit 56 Richterinnen und Richter und damit zwei pro Mitgliedstaat dort tätig. Doch damit nicht genug. Nach Ansicht des EuGH sollte in diesem Zusammenhang auch das einzige Fachgericht, das EuGöD, wieder aufgelöst und in das EuG integriert werden.
Während der erste Teil des Vorschlags durchaus nachvollziehbar erscheint, überrascht vor allem dessen zweiter Teil, der – soweit ersichtlich – in dieser Form auch in der bisherigen Literatur keine Vorläufer findet. Bisher sahen Europarechtler das EuGöD vielmehr als Vorreiter einer funktionell dreistufigen europäischen Gerichtsbarkeit, bestehend aus Gerichtshof, Gericht und Fachgericht.
Angesichts der positiven Erfahrungen mit diesem Dreigestirn diskutierte man bisher allein über die Ausweitung der Fachgerichte, etwa im Bereich des geistigen Eigentums. Deren Abschaffung hingegen war bislang noch nie Gegenstand der Diskussion.
Der Grund für den Vorschlag des EuGH liegt aber auch nicht in einer kritischen Sicht auf die konkrete Arbeit des EuGöD. Durch die Abschaffung des Fachgerichts könnte nach Ansicht des EuGH vielmehr der Gerichtsaufbau der EU in seiner Komplexität reduziert werden. Es gäbe ja mit Gerichtshof und EuG nur noch zwei europäische Gerichte. Das wiederum sei zugleich der Kohärenz der Rechtsprechung förderlich. Nicht zuletzt bliebe der Gerichtshof dadurch "normale" Rechtsmittelinstanz für sämtliche Bereiche des Europarechts, einschließlich des Rechts des öffentlichen Dienstes.
2/2: Dogmatisch nur partiell überzeugend
Überzeugend ist dieser Begründungansatz nicht. Man wird ein dreistufiges Gerichtssystem kaum als überkomplex ansehen können, wie ein Blick auf praktisch sämtliche Mitgliedstaaten beweist.
Auch die Kohärenz des Unionsrechts muss dadurch keineswegs leiden. Prozessrechtlich ist nämlich sehr wohl sichergestellt, dass die wirklich entscheidenden Fragen auch bei der Errichtung weiterer Fachgerichte letztendlich beim EuGH landen können.
Zwar mag es seit Errichtung des EuGöD tatsächlich die Ausnahme sein, dass der Gerichtshof sich mit Fragen des öffentlichen Dienstrechts befasst. Das dürfte aber eher daran liegen, dass sich in diesem Bereich eben nur selten Fragen von allgemeiner Bedeutung für das gesamte Unionsrecht stellen. In anderen Bereichen wie etwa dem geistigen Eigentum dürfte der EuGH trotz Errichtung entsprechender Fachgerichte sehr viel häufiger angerufen werden.
Praktisch aber nachvollziehbar
Und dennoch gibt es ganz praktische Gründe, die für den Vorschlag des EuGH sprechen Sie dürften wohl auch der eigentliche Hintergrund für den Vorschlag des EuGH sein.
Der Gerichthof weist nämlich auf gewisse strukturelle Schwächen kleinerer Gerichte hin, die mit der Art und Weise ihrer Besetzung und ihrer Funktionsweise zusammenhängen.
Tatsächlich hat sich insbesondere die Neubesetzung des EuGöD immer wieder als außerordentlich schwierig erwiesen. In diesem sind eben nicht alle Mitgliedstaaten vertreten, denn dieses Fachgericht besteht aus lediglich sieben Richtern.
Die Mitgliedstaaten sehen nun ein besonderes Prestige darin, einen dieser sieben Richterposten zu besetzen. Schlägt aber jedes Land einen eigenen Kandidaten vor, führt das notwendig zu Verzögerungen bei der Besetzung vakanter Richterstellen. Gerade auf kleinere Gerichte und ihre Funktionsfähigkeit kann sich das ganz erheblich auswirken.
Werden die Vorschläge des Gerichtshofs umgesetzt, dürfte sich freilich das von den EU-Verträgen ermöglichte und letztlich auch angestrebte dreistufige europäische Gerichtssystem erledigt haben. Das ist zweifellos bedauerlich, angesichts des bisweilen äußerst kleinlichen Verhaltens der Mitgliedstaaten aber wohl vorerst nicht zu ändern.
Überlastungsfrage damit aber nicht endgültig gelöst
Vor allem aber könnte es nun dazu kommen, dass wiederum der EuGH bald überlastet ist. Denn auch dieser stößt ja bereits aktuell an gewisse Belastungsgrenzen. Durch die Abschaffung des EuGöD dürfte sich aber einerseits die Zahl der Rechtsmittelentscheidungen, für die bisher das EuG zuständig war, deutlich erhöhen. Andererseits steigt auch die Zahl der Vorabentscheidungsverfahren, nicht zuletzt aus neuen Mitgliedstaaten der EU, kontinuierlich an.
Die Richterstellen am EuGH zu erhöhen, ist aber nicht so einfach, denn anders als beim EuG setzt dies eine förmliche Vertragsänderung voraus. Daher kommt eine Entlastung des EuGH letztlich wohl nur in Betracht, indem man dem EuG die Zuständigkeit für bestimmte Vorabentscheidungsverfahren zuweist. Eine Gefahr für die Kohärenz des Unionsrechts wäre damit nicht verbunden, da auch dieses bedeutende Fragen jederzeit an den EuGH verweisen könnte. Es erscheint allerdings mehr als fraglich, ob sich der EuGH auf eine solche Änderung einlassen würde, da er damit ja sein innerinstitutionelles "Vorabentscheidungsmonopol" aufgeben müsste.
Damit ist also bereits abzusehen, dass das Überlastungsproblem durch den Vorschlag des EuGH nicht endgültig gelöst wird. Immerhin: Für die nächsten Jahre dürfte das Thema vorerst vom Tisch sein. Und ein weiterer positiver Effekt lässt sich ebenfalls nicht leugnen: Die Chance, als Richterin oder Richter am EuG tätig zu werden, würde sich durch den Vorschlag verdoppeln. Sie ist allerdings, das sei ebenfalls nicht verschwiegen, immer noch sehr, sehr klein.
Der Autor Priv.-Doz. Dr. Alexander Thiele ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften der Universität Göttingen. Sein Lehrbuch zum Europäischen Prozessrecht ist soeben bei C.H. Beck in zweiter Auflage erschienen.
Alexander Thiele, EuGH und EuG sind überlastet: Europäisches Riesengericht als Lösung? . In: Legal Tribune Online, 26.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13925/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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