Zur Rechtsprechung bei den Cum/Ex-Deals hat das BVerfG den BFH nun rechts überholt. Christoph Knauer und Sören Schomburg erklären die steuerlichen Konstrukte und den rechtlichen Diskussionsstoff.
Steuergetriebene Aktiengeschäfte rund um den Dividendenstichtag erhitzen seit Jahren nicht nur die juristische Fachwelt. Mehrere Staatsanwaltschaften ermitteln gegen die Beteiligten wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Die politische Aufarbeitung durch den 4. Untersuchungsausschuss des Bundestags hat das mediale Interesse an dem Thema nochmals befeuert.
Der Vorwurf: Bei den umstrittenen Cum/Ex-Geschäften sollen die Beteiligten den deutschen Fiskus angeblich um ca. zwölf Milliarden Euro gebracht haben. Zum Teil ist die Rede vom größten Steuerskandal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; die Empörung ist groß.
Lange wurde in der juristischen Diskussion auf das Fehlen höchstrichterlicher Rechtsprechung verwiesen. Ein Kammer-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 02.03.2017 könnte dies nun – jedenfalls vorläufig – ändern, auch wenn damit immer noch keine tragende höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt. Denn das Gericht verwarf eine Verfassungsbeschwerde gegen Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen im Zusammenhang mit Aktienkäufen über den Dividendenstichtag, die so genannten Cum-/Ex-Geschäfte, als unbegründet (Az: 2 BvR 1163/13). Die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts der besonders schweren mittäterschaftlichen Steuerhinterziehung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Verkaufen, was man nicht besitzt
Doch worum geht es? Mit den Cum/Ex-Geschäften konnte es bis Ende 2011 zu einer mehrfachen Erstattung von Kapitalertragsteuer auf Dividenden inländischer Aktien kommen, obwohl die Steuer nur einmal abgeführt wurde.
Ausgangspunkt war dabei ein Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH, Urt. v. 15.12.1999, Az. I R 29/97). Darin bejahte der BFH den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an Aktien auf den Erwerber schon mit dem Vertragsschluss; die Belieferung der Aktie sei nicht erforderlich. Der Erwerber, der wirtschaftlich Berechtigte, war also zur Geltendmachung von Kapitalertragsteuer berechtigt, obwohl die Aktie am Dividendenstichtag noch nicht in sein Depot eingeliefert worden war.
Dieses Grundmodell wurde in der Folge offenbar teilweise abgewandelt. Voraussetzung war, dass der Verkäufer der Aktien diese zum Verkaufszeitpunkt nicht in seinem Depot hatte. In der Fachsprache sagt man, der Verkäufer habe einen Leerverkauf getätigt, er war "short".
Damit war nicht nachvollziehbar, wer von wem Aktien bezogen hatte. Es konnte ein und dieselbe Aktie am Dividendenstichtag zwei Eigentümern zugerechnet werden: dem ursprünglichen, der erst nach dem Stichtag an den Leerverkäufer lieferte, und dem wirtschaftlich berechtigten Erwerber, der zwar die Aktien mit Dividendenanspruch (cum) vom Leerverkäufer bereits vor dem Dividendenstichtag erworben hatte, diese aber erst nach dem Stichtag (ex) erhielt.
Problematisch waren die Absprachen
Beide, ursprünglicher Eigentümer und Erwerber, beanspruchten nun die Dividende für sich – und tatsächlich bekamen beide die (Netto-) Dividende. Der ursprüngliche Eigentümer vom Aussteller der Aktie, dem Emittenten – also einer deutschen Aktiengesellschaft. Der Erwerber bekam eine Ausgleichszahlung, die manufactured dividend, in Höhe der Nettodividende, vom Leerverkäufer und später von Clearstream, dem Sammelverwahrer der Deutschen Börse.
Vergleichbares galt für die Kapitalertragsteuer: Der Emittent der Aktie führte die Kapitalertragsteuer an das Finanzamt ab. Der ursprüngliche Eigentümer erhielt von seiner Depotbank eine Steuerbescheinigung, ebenso wie der wirtschaftlich Berechtigte wiederum von seiner eigenen Depotbank. Beide machten die Steuer geltend, obgleich diese nur einmal einbehalten und abgeführt worden war. Dies konnte aufgrund der technischen Gegebenheiten schlicht passieren. Problematisch wurde es, wenn beide, also Eigentümer und wirtschaftlich Berechtigter voneinander wussten oder gar ihr Vorgehen vorab miteinander abgesprochen hatten.
Die Strukturen unterschieden sich im Einzelnen gravierend. Flankiert wurden die Aktiengeschäfte regelmäßig durch Derivatgeschäfte wie Swaps, Optionen oder Futures, also solche Termingeschäfte, bei denen üblicherweise z.B. auf bestimmte Kursentwicklungen von Aktien spekuliert wird.
Diese Derivatgeschäfte dienten dabei nicht nur der Besicherung von Kursschwankungen. Sie waren offenbar teils auch Vehikel zur Verteilung der mehrfach erstatten Steuer. Denn der Gewinn entstand zunächst beim Leerverkäufer, der den vollen Kaufpreis erhielt, aber im Gegenzug nur die Aktie und die Nettodividende weitergab. Sein Gewinn, die nicht abgeführte Steuererstattung in Höhe von 21,1%, wurde regelmäßig über die Derivate an die übrigen Beteiligten verteilt. Da der Gewinn also pro Aktie lediglich 21,1% der Dividende betrug, mussten die Aktien im großen Volumen gehandelt werden, um signifikante Gewinne zu erzielen.
2/3: Späte Gegenmaßnahmen
Ende 2002 informierte der Bankenverband selbst das Bundesfinanzministerium (BMF) über die Situation. Dennoch dauerte es etwas mehr als vier Jahre, bis der Gesetzgeber erstmals mit dem Jahressteuergesetz 2007 den - nicht wirklich erfolgreichen - Versuch machte, gegen die Geschäfte vorzugehen: Die Ausgleichszahlung wurde der (Original-)Dividende gleichgestellt und die Depotbank des Leerverkäufers dazu verpflichtet, die Kompensationszahlungen mit einem Steuerabzug zu belasten.
War bei der Transaktion jedoch ein Ausländer der (Leer-)Verkäufer, konnte dieser nicht zur Abführung der Steuer verpflichtet werden. Es war bei Verkäufen aus dem Ausland also weiter möglich, für eine Aktie zwei Steuererstattungen zu beanspruchen, obwohl diese nur einmal abgeführt worden war. Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, erkannte der Gesetzgeber diese Möglichkeit, sah sich aber offenbar zunächst außerstande, das Problem zu lösen – deshalb argumentieren viele Juristen mit einer Gesetzeslücke.
Erst 2009 wurde das BMF erneut tätig und veröffentlichte im Mai ein Rundschreiben, in denen es die Anrechnungsvoraussetzungen der Kapitalertragsteuer verschärfte. Ein Anspruch auf Steuererstattung sollte nur bestehen, wenn dem Finanzamt die Bescheinigung eines unabhängigen Berufsträgers vorgelegt würde, wonach zwischen Verkäufer und Käufer keine Absprachen über Leerverkäufe stattgefunden haben (sog. Berufsträgerbescheinigung).
Endgültig geschlossen wurde die “Gesetzeslücke“ durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW-IV-Umsetzungsgesetz). Dieses verlagerte ab 2012 die Steuerabzugsverpflichtung vom Emittenten auf die Depotbanken. Steuerbescheinigung und -abzug sind seitdem an einer Stelle gebündelt.
Strafbarkeit weitgehend ungeklärt
Die steuerlichen und strafrechtlichen Fragen zu den Cum/Ex-Geschäften sind geblieben – angefangen mit der Frage, ob die Grundsätze des eingangs erwähnten BFH-Urteils zum wirtschaftlichen Eigentum auf den Erwerb vom Leerverkäufer überhaupt übertragbar sind. Gilt es nur für Börsengeschäfte oder auch bei außerbörslichen Transaktionen, den over the counter-Deals? Soll der Erwerber allein schon deshalb zur Steueranrechnung berechtigt sein, weil man einen Leerverkauf normalerweise nicht erkennen kann? Darf er somit auf die Belastung der erhaltenen Gutschrift mit Kapitalertragsteuer vertrauen?
Zur strafrechtlichen Relevanz der Cum/Ex-Geschäfte war bisher nur ein Beschluss des Landgerichts (LG) Köln öffentlich (Beschl. v.16.07.2015, Az: 106 Qs 1/15). Es wies eine Beschwerde gegen Durchsuchungsmaßnahmen im Zusammenhang mit Cum/Ex-Geschäften zurück. Zugleich bestätigte es die Annahme eines Anfangsverdachts der Steuerhinterziehung und des Betruges in einem besonders schweren Fall mit der Begründung, dass nach der Systematik des Gesetzes nur Kapitalertragsteuer erstattet werden kann, die zuvor auch abgeführt wurde.
3/3: Hoffnungen in den BFH nicht erfüllt
Große Hoffnungen im Sinne einer Klarstellung diverser Rechtsfragen erweckte ein Verfahren, das in einem Urteil des BFH mündete (BFH, Urt. v. 16.04.2016, Az. I R 2/12). Der BFH ließ jedoch die relevanten Streitfragen weitestgehend offen; lediglich der Hinweis, dass der Übergang wirtschaftlichen Eigentums bei OTC-Verkäufen nicht ausgeschlossen sei, ließ sich dem Urteil entnehmen. Im konkreten Fall wurde der Übergang des wirtschaftlichen Eigentums jedoch abgelehnt, da dem Geschäft ein "modellhaft aufgelegte[s] Gesamtvertragskonzept" zugrunde gelegen habe.
Die Geschäfte waren zudem Gegenstand diverser finanzgerichtlicher Entscheidungen. So wies unter anderem das Hessische Finanzgericht (FG) einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung von Körperschaftsteuerbescheiden zurück (FG Kassel, Beschl. v. 08.10.2012, Az.: 4 V 1661/11). Mit drastischen Formulierungen erklärte es, dass die Einbehaltung der Kapitalertragsteuer Grundvoraussetzung für deren Anrechnung sei. Die Ansicht, Kapitalertragsteuer könne doppelt angerechnet werden, obwohl sie nur einmal abgeführt wurde, sei "abwegig" und widerspreche dem "Grundverständnis der Kapitalertragsteuer als Abzugssteuer". Eine Auslegung dahingehend, dass "eine Anrechnung erfolgen kann, ohne dass Abzugssteuern einbehalten wurden [sei] nicht vertretbar".
Zwischenhändler und Verkaufsauftrag führende Stellen
Seitdem hat sich das FG Hessen wiederholt mit der Materie auseinandergesetzt, ohne jedoch zu einem anderen Ergebnis zu kommen. So lehnte es die Anrechnung von Kapitalertragsteuer für Cum/Ex-Geschäfte ab (FG Kassel, Urt. v. 10.02.2016, Az.: 4 K 1684/14). Anders als in der Entscheidung aus dem Jahr 2012 ging es hier jedoch um Streckengeschäfte, d.h. Transaktionen, bei denen die Aktien nicht direkt aus dem Ausland erworben wurden. Vielmehr waren in der zugrundeliegenden Fallgestaltung (deutsche) Zwischenhändler eingeschaltet. Gerade diese Konstellation bietet juristischen Diskussionsstoff. Denn wer in concreto "die Verkaufsauftrag ausführende Stelle" sein soll und damit zum Einbehalt der Steuer verpflichtet wäre, ist bisher wenig beleuchtet worden.
Die Entscheidungen des Hessischen FG sind in der Literatur massiv kritisiert worden. Es wurden Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Richter laut und die Verantwortung für die Geschäfte dem Gesetzgeber zugeschrieben. Fehlerhafte Gesetze dürften nicht zu Lasten des Bürgers gehen. Gehe der Gesetzgeber nicht ausreichend und rechtzeitig gegen Lücken vor, müsse er auch mit den Folgen leben. Jedenfalls dürfe in so einem Fall Strafrecht als ultima ratio nicht angewendet werden.
Andererseits wird etwa darauf verwiesen, dass jedenfalls bei abgesprochenen Leerverkäufen die zweifache Anrechnung nicht zulässig sein könne, dies teils unter Verwies auf den Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 Abgabenordnung (AO).
BVerfG überholt den BFH
Das BVerfG hat mit seinem Beschluss vom März 2017 nun die steuerrechtliche Diskussion gewissermaßen strafrechtlich überholt. Die Entscheidung dürfte die Strafverfolgungsbehörden in ihrer Rechtsauffassung in den diversen anhängigen Verfahren bestärken. Eine nähere Begründung enthält der Beschluss jedoch nicht. Lediglich die zitierte Normenkette von Art. 103 Abs. 1, Art. 103 Abs. 2, Art. 13 Abs. 1 und 2, Art. 12 Grundgesetz (GG) lässt erkennen, dass das BVerfG jedenfalls keine Zweifel an der Bestimmtheit der zugrundeliegenden Gesetze und seiner Auslegung durch die Strafverfolgungsbehörden hegt. Weitere Ermittlungsverfahren sind daher zu erwarten.
Der Aufwand, die Transaktionen aufzuklären, ist allerdings enorm. Auch dies wohl ein Grund, warum es ein rechtskräftiges klärendes Strafurteil bisher nicht gibt. Diverse Rechtsfragen bedürfen der Klärung, so bspw. zu den Streckengeschäften, den Anforderungen an den Vorsatz bezüglich der häufig hoch komplexen Geschäftsstrukturen und zum Verbotsirrtum. Auch wenn die Geschäfte seit 2012 beendet sind, wird Cum/Ex die Finanzgerichte und die Strafjustiz sowie die betroffenen Kreditinstitute daher noch viele Jahre beschäftigten.
Professor Dr. Christph Knauer ist Partner der Münchener Kanzlei Ufer Knauer und Honorarprofessor für Wirtschaftsstrafrecht und strafrechtliche Revision an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sören Schomburg ist Salary Partner der Kanzlei Ufer Knauer und leitet das Berliner Büro. Beide vertreten diverse Finanzinstitute und Manager in Cum-Ex-Verfahren.
Dr. Christph Knauer und Sören Schomburg , Wirtschaftskrimi Cum/Ex-Geschäfte: Wenn die Verfassung die Steuer überholt . In: Legal Tribune Online, 12.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22650/ (abgerufen am: 02.12.2023 )
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