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Eine Frage an Thomas Fischer: Ist das „Juden­sau“-Relief in Wit­ten­berg eine Belei­di­gung?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

06.06.2022

Das Bild zeigt Thomas Fischer mit einem reliefartigen Hintergrund, das Fragen zur antisemitischen Symbolik aufwirft.

Relief an sich ist eine Herabwürdigung von Juden, was ändert die Kommentierung daran? Foto: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt / LTO-Collage

Der BGH wird in Kürze urteilen, ob ein Juden verächtlich machendes Relief an der Stadtkirche Wittenberg entfernt werden muss. Thomas Fischer sieht hierin eine beleidigende Manifestation des Judenhasses, die allenfalls ins Museum gehört.  

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In der vergangenen Woche hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) über das Rechtsmittel eines revisionsführenden Klägers gegen ein Berufungsurteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 4. Februar 2020 verhandelt (Az: 9 U 54/19; Erstgericht: Landgericht Dessau-Roßlau). In der Sache geht es um die Forderung des Klägers, eines Juden, gegen die Eigentümerin der Stadtkirche in Wittenberg, diese solle ein in vier Metern Höhe an der Außenmauer der Kirche angebrachtes Relief aus dem 13. Jahrhundert entfernen, das ein auf der Seite liegendes weibliches Schwein (Sau) zeigt, an dessen Zitzen verkleinert dargestellte, an ihrer Kleidung als Juden erkennende Menschen saugen. Die Plastik trägt eine Inschrift, die sich auf eine judenfeindliche Schrift Martin Luthers bezieht. In der Presseberichterstattung ist sie unter der Bezeichnung "Judensau" bekannt geworden.  Die Beklagte hat auf dem Boden unterhalb der Plastik eine Bodenplatte mit einem distanzierenden (aber schwer verständlichen) Text sowie eine Stele mit einem distanzierendem und historisch einordnenden Informationstext angebracht. Das Werk ist seit Jahren auch Gegenstand einer breit ausgetragenen öffentlichen Debatte über die Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit sowie die Kollektivbeleidigung. Die Entscheidung des BGH soll am 14. Juni verkündet werden.  

Auch Kunst kann strafbar sein 

Das Werk ist eine kommunikative Meinungsäußerung, zugleich ein Werk der Kunst. Das Bundesverfassungsgericht hat einen früher vertretenen "materiellen" Kunstbegriff aufgegeben, der eine normativ-kommunikationsrechtliche Bewertung einer gestalteten Gedankenäußerung schon bei der Frage berücksichtigte, ob überhaupt der Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 eröffnet sei. Die Rechtsprechung folgt heute einem "offenen", auch "formal" genannten Kunstbegriff, der darauf abstellt, ob ein Werk nach immanenten Maßstäben der Kunst einen eigenständigen formal-inhaltlichen Gehalt aufweist. "Kunst" und Strafbarkeit schließen sich daher nicht aus. Nach diesen Maßstäben ist die "Judensau"-Plastik von Wittenberg Kunst. Ob sie wertvoll, "gut" oder künstlerisch bedeutend ist (was man bezweifeln kann), spielt dafür keine Rolle. 

Juden wegen Shoa unter besonderem Beleidigungsschutz

Der Tatbestand der Beleidigung (§ 185 Strafgesetzbuch (StGB)), deren Bedeutung im Gesetzestext vorausgesetzt und nicht aus bestimmten Tatbestandsmerkmalen erschließbar ist, schützt die Ehre. Diese ist nicht mit "Menschenwürde" im Sinne des Art. 1 GG identisch, sondern stellt im Wesentlichen auf den sozialen Achtungsanspruch und kommunikativen "Wert" einer Person ab. Die Ehre ist also ein von vornherein auf den sozialen Austausch ausgerichtetes Rechtsgut, auch wenn es in der Regel in einen "inneren" und einen "äußeren" Anteil unterschieden wird. Aus diesem Grund ist das Rechtsgut Ehre auf das Engste mit der Verfassung und Entwicklung von sozialen Gruppen und Gesellschaften verbunden und spiegelt diese wider. 

Ehre kommt auch überindividuellen Institutionen, Verbänden und juristischen Personen zu.  Von Verletzungen einer solchen "Kollektivehre", die Verbänden als selbständigen Rechtsträgern zukommt, sind Beleidigungen zu unterscheiden, die sich gegen eine Vielzahl von individuellen Personen richten, die in dem beleidigenden Inhalt mit einer Sammelbezeichnung bestimmt werden (sog. Kollektivbeleidigungen). In diesem Fall ist nicht (jedenfalls nicht notwendig) eine überindividuelle Verbands-Person angegriffen, sondern jede Einzelperson, die der Gruppe der kollektiv Bezeichneten angehört. Die strafrechtlichen Grenzen des so verstandenen Tatbestandsmerkmals "Beleidigen" richten sich danach, ob unter einer Kollektivbezeichnung noch eine ausreichend überschaubare, abgegrenzte Gruppe beschrieben wird. Eine Ausnahme wird hinsichtlich der Bevölkerungsgruppe der "in Deutschland lebenden Juden" gemacht, die aufgrund der historisch singulären Ereignisse der Shoa als abgrenzbare Gruppe zu betrachten sind, deren einzelne Mitglieder von Kollektivbeleidigungen verletzt sein können. Der Kläger des Verfahrens kann daher durch tatbestandsmäßige Äußerungen über Juden als Bevölkerungsgruppe auch individuell-persönlich im Sinne von § 185 StGB beleidigt werden.

Relief an sich ist eine Herabwürdigung von Juden, was ändert die Kommentierung daran?

Dass die Wittenberger Plastik einen beleidigenden, herabwürdigenden und ehrverletzenden inhaltlichen Sinn haben sollte, als sie geschaffen wurde, ist evident. Sie hatte eine Herabwürdigung der Juden als Teil der Bevölkerung ausdrücklich zum Ziel. Diesen kommunikativen Inhalt hat sie auch während der gesamten Zeit behalten, in welcher sie "unkommentiert" öffentlich zur Schau gestellt wurde. Die Frage ist also ("nur"), ob dieser Sinn und die daraus sich ergebende Wirkung "aufgehoben" sind, indem das Relief in einen neuen Zusammenhang als "Ensemble" gestellt und mit Bekundungen der Ablehnung versehen wurde. So sah es etwa die Vorinstanz das OLG Naumburg.

Hier muss man ernsthaft fragen, welchen berechtigten sozialen Sinn es haben soll, einzelne – und zudem noch besonders abstoßende – Manifestationen erniedrigender, abwertender und beleidigender Gedankeninhalte im öffentlichen Raum auszustellen, um den Bürgern mittels beigefügter Informationstexte – die man lesen kann oder auch nicht – vorzuführen, welch schlimme, entmenschlichende Beleidigungen einzelner Bevölkerungsgruppen früher vorgekommen sind. Diese Frage gewinnt hier, im Unterschied zur allgemeinen Denkmalpflege, ganz besondere Bedeutung, weil die Frage, welche Folgen die zur Schau gestellte Beschimpfung für die Ausgrenzung der Gruppenmitglieder hatte, eindeutig und beantwortet und im Weltgedächtnis verankert ist. Zusammenhanglose, nicht erwartbare und nicht in weitere Zusammenhänge gestellte "Ausstellungen" von Manifestationen des Judenhasses im öffentlichen Raum sind, so meine ich, abwegig und verlieren diesen Charakter auch nicht dadurch, dass der Eigentümer sie zu privaten "Gedenkstätten" oder zu Illustrationen vergangener Verirrungen erklärt. Das unterscheidet solche Werke von Darstellungen und Exponaten, die sich im Rahmen von Gedenkstätten und musealen Einrichtungen finden. 

Fassade einer Kirche wird durch Kommentierung weder zu Museum noch Gedenkstätte   

Insoweit muss auch berücksichtigt werden, dass dem bloßen Umstand, dass die Plastik an der Außenmauer einer Kirche hängt, kein für die Erkenntnis bestimmender Gehalt zukommt; es ist für jemanden, der Manifestationen früheren Judenhasses betrachten und bewerten will, nicht erforderlich, sie Plastik im "Ensemble" der Stadtkirche zu erleben. Vielmehr ließe sich derselbe pädagogische Effekt vermutlich deutlich besser dadurch erzielen, dass das Werk abgenommen und in einem musealen Zusammenhang unter Hinweis auf die Herkunft präsentiert wird. Dass gilt auch im Hinblick auf den historischen Zusammenhang gerade mit der Kirche in Wittenberg; er könnte unschwer und wirkungsvoller etwa durch eine kritische Ausstellung im Inneren des Gebäudes gewürdigt werden. 

Die Überlegung des OLG Naumburg, wonach bei Annahme einer Beleidigung trotz Kommentierung des Reliefs "konsequenterweise (…) auch eine Ausstellung des Reliefs in einem Museum, wie sie der Kläger befürwortet, abgelehnt werden" müsse, übersieht die unterschiedliche kommunikative Wirkung zwischen der Manifestation einer Herabwürdigung als integraler Bestandteil der Außenfassade einer Kirche und einer musealen Kontextualisierung, der ja der Akt der tatsächlichen Distanzierung, nämlich Abnahme des Reliefs, vorangegangen ist. Mit einer Herausnahme gegenständlicher Manifestationen ehrverletzender, hetzerischer Bekundungen aus dem öffentlichen Lebens- und Alltagsraum, in welchem sie ihren Zweck erfüllen sollten, ergibt sich eine Isolierung und Verfremdung, die durch eine bloß verbale "Distanzierung" nicht erreichbar ist und eine solche Sache zum Gegenstand der historisch-politischen Auseinandersetzung macht und ihm dadurch die ursprünglich intendierte Wirkung abschneidet. 

Das Argument des OLG Naumburg stellt insoweit zu sehr auf den "Kunst"-Charakter der Plastik ab, der aber, wie ausgeführt, einer Beleidigung nicht entgegensteht. Dies wird deutlich, wenn man sich statt des konkreten Objekts etwa eine judenfeindliche Schmiererei oder Wandmalerei aus der Zeit des Nationalsozialismus vorstellt. Es erschiene fernliegend, eine solche Äußerung über Jahrzehnte im Straßenbild einer deutschen Innenstadt zu belassen und daneben ein Hinweisschild mit einer "Distanzierung" aufzustellen. 

Kommentierung des Reliefs hat Zweck jedenfalls verfehlt

Der Rechtsstreit trägt nach meiner Meinung ungute Züge der Prinzipienreiterei auf Seiten der Beklagten. Schon die für erhebliche Unruhe, Irritation und Unklarheit sorgende öffentliche Diskussion der Vergangenheit über die Plastik zeigt, dass die fortgesetzte Präsentation gerade nicht zum öffentlichen Frieden beiträgt; vielmehr wird das kritische Gedenken zusätzlich dadurch gestört, dass das Werk – zwangsläufig – zum Gegenstand einer "Sensation" gemacht wird. 

Selbstverständlich ist das rechtsdogmatisch eine Grenzfrage. Bei der Entscheidung, ob ein beleidigender Inhalt diesen Charakter aufgrund einer beigefügten Distanzierung verliert, kommt es aber auf den konkreten sozialen Kontext an, weil der beleidigende Charakter einer Gedankenäußerung nicht allein auf Wortlaut und unmittelbarem Erklärungsgehalt beruht, sondern zur Beurteilung der gesamte Kontext, das Empfinden der Rezipienten und die Lage der verletzten Rechtsgutsinhaber berücksichtigt werden müssen. 

Antwort, im Ergebnis: 

Nach meiner Ansicht ist das Werk in seiner jetzigen Präsentation beleidigend. Diesen Charakter würde es verlieren, wenn es in einen musealen, dem Gedenken gewidmeten Zusammenhang gestellt würde. 

Geht der BGH von einer Beleidigung des Klägers aus, müsste noch geklärt werden, ob die Entfernung des Reliefs der Kirche aus Gründen des Denkmalschutzes unmöglich ist. § 10 Abs. 2 Nr. 2 des Denkmalschutzgesetzes Sachsen-Anhalt lässt Eingriffe in Kulturdenkmale zu, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse den Eingriff verlangt. Denkmalschutz ist wichtig, stellt aber keine "Unmöglichkeits"-Schranke für die Beseitigung beleidigender und verhetzender öffentlicher Äußerungen dar, ebenso wie auch eine "künstlerische" öffentliche Verherrlichung der Judenverfolgung nicht geschützt wäre.  

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Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48666 (abgerufen am: 10.11.2025 )

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