Der EuGH will einen Teil der Vorabentscheidungsverfahren auf das EuG verlagern, zum Beispiel in Bereichen wie dem Fluggastrecht. Christian Rath stellt den entsprechenden Antrag des EuGH vor.
Der Gerichtshof der Europäischen Union besteht aus zwei selbständigen Gerichten: Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Europäischen Gericht (EuG). Zwischen beiden Gerichten sollen nun die Zuständigkeiten neu justiert werden, um den EuGH zu entlasten. Erstmals soll das EuG auch über Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte aus den 27 EU-Mitgliedstaaten entscheiden, weil deren Zahl stetig steigt.
So gingen im Jahr 2021 beim EuGH 838 Rechtssachen ein, darunter waren 567 Vorabentscheidungsersuchen. Sie machten damit 67,7 Prozent, also rund zwei-Drittel, aller EuGH-Verfahren aus.
Ein Vorabentscheidungsverfahren ist erforderlich, wenn ein nationales Gericht bei der Bearbeitung eines Falles Zweifel an der Auslegung von EU-Recht hat. Es legt den Fall dann dem EuGH vor, der eine EU-einheitliche Auslegung des EU-Rechts sicherstellt. Das Vorabentscheidungsverfahren gilt somit als Kernelement des EU-Rechts- und Justizsystems.
Zahl der Vorarbentscheidungsverfahren steigt immer weiter an
Dabei steigt die Zahl der Vorabentscheidungsverfahren kontinuierlich an. Waren es 2003 erst 210 Verfahren, so stieg die Zahl 2016 bereits auf 470 (auch wegen der vielen neuen EU-Staaten). Mit den 567 Verfahren im Jahr 2021 gab es noch einmal eine Steigerung um rund 20 Prozent.
Dementsprechend stieg auch die Bearbeitungszeit: Dauerte ein Vorabentscheidungsverfahren am EuGH 2016 noch 15 Monate, waren es 2021 schon 16,7 Monate, eine Steigerung um elf Prozent in fünf Jahren.
Der neue Vorschlag des EuGH
Der EuGH schlägt nun vor, dass die Vorabentscheidungsersuchen in sechs Materien grundsätzlich vom EuG und nicht mehr vom EuGH entschieden werden. Konkret geht es um folgende sechs Rechtsbereiche:
- Mehrwertsteuer,
- Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fahr- und Fluggäste,
- Zollkodex,
- zoll-tarifliche Einreihung,
- Verbrauchssteuern,
- Treibhausgasemmissionszertifikate.
Im Jahr 2021 gingen beim EuGH 138 Ersuchen zu diesen Materien ein. Das machte rund 24 Prozent aller Vorabentscheidungsersuchen aus. Bezogen auf einen etwas größeren Zeitraum (2017 bis September 2022) machen diese sechs Materien thematisch knapp zwanzig Prozent der Vorabentscheidungsersuchen aus.
Die Auswahl gerade dieser sechs Rechtsbereiche begründet der EuGH damit, dass es sich um klar definierte Materien handele und dass in diesen Feldern bereits relativ viel EuGH-Rechtsprechung vorliegt, die vom EuG dann angewandt werden kann. Vor allem aber mussten die Themenfelder auch praktisch relevant sein, um eine echte Entlastung für den EuGH zu erreichen. Dies gilt vor allem für Mehrwertsteuer-Fälle und Fluggastentschädigungen, die zusammen mehr als 80 Prozent des Entlastungsvolumens ausmachen.
Eine neue Herausforderung für das EuG
Bisher war das EuG vor allem für Individualklagen zuständig, etwa von Unternehmen gegen Rechtsakte von EU-Organen und -Agenturen oder von EU-Beschäftigten gegen ihren Arbeitgeber. Die Vorabentscheidungsverfahren sind dagegen von anderer Bedeutung. Weil es um die Auslegung des gemeinsamen EU-Rechts geht, können sich hier alle Mitgliedstaaten beteiligen und die Verfahrensdokumente müssen in alle Amtssprachen übersetzt werden.
Für die Vorabentscheidungsverfahren sollen am EuG nun spezialisierte Kammern eingerichtet werden, so der Vorschlag des EuGH. Diese Kammern sollen alle Verfahren eines bestimmten Themenfeldes bearbeiten, um eine kohärente Rechtsprechung zu gewährleisten. In geeigneten Fällen soll auch am EuG eine Generalanwält:in Schlussanträge formulieren.
Die Folgen für die deutsche Justiz
Deutschland ist von der geplanten Reform mehr betroffen als andere Mitgliedstaaten. So beruhten im Jahr 2021 immerhin 106 der 567 neuen Vorabentscheidungsverfahren auf Ersuchen deutscher Gerichte, keine andere Justiz legt mehr vor. Der konkrete EuGH-Vorschlag betrifft die Justizzweige aber in unterschiedlichem Maße. Während Vorlagen der Finanzgerichte relativ häufig beim EuG landen dürften, sind zum Beispiel Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit gar nicht betroffen.
Deutsche Gerichte müssen für den Fall, dass der EuGH-Vorschlag umgesetzt wird, aber nicht lange prüfen, welchem Gericht sie ein Ersuchen vorlegen müssen. Empfänger der Vorlage soll - wie bisher - immer noch der EuGH sein, der die Fälle dann an das EuG weitergibt, wenn sie ausschließlich eine der sechs aufgezählten Materien betrifft.
EuG unterstützt die geplante Änderung
Der Reformvorschlag des EuGH wurde im vergangenen November an den EU-Ministerrat und das Europäisches Parlament übermittelt. Zuvor hatte ihn das Plenum des EuGH beschlossen. Auch das EuG hatte in Vollsitzung zugestimmt; das Gericht wird hier also nicht gegen seinen Willen mit einer neuen Aufgabe beglückt. Die Initiative zu diesem Plan kam aber vor allem aus dem EuGH.
Konkret soll in der Satzung des EuGH ein neuer Artikel 50b eingefügt werden. Die EuGH-Satzung kann gem. Artikel 281 EU-Arbeitsvertrag (AEUV) mit einfacher Mehrheit von EU-Ministerrat und Europäischem Parlament geändert werden.
Eine lange gereifte Idee
Die Verlagerung eines Teils der Vorabentscheidungsverfahrens ans EuG ist keine völlig neue Idee. Sie ist schon seit der Regierungskonferenz von Nizza 2001 in den EU-Verträgen als Option vorgesehen. "Das Gericht ist in besonderen in der Satzung festgelegten Sachgebieten für Vorabentscheidungen nach Artikel 267 zuständig", heißt es inzwischen in Art. 256 AEUV (ehemals Art. 225 EGV).
Doch diese Option wurde erstaunlich lange nicht in die Tat umgesetzt. Dies deutet darauf hin, dass der EuGH den vollen Zugriff auf alle Vorabentscheidungserfahren nur ungern aufgegeben hat. Noch 2017 hat er eine Übertragung bestimmter Verfahren in einem Bericht an das EP sogar ausdrücklich abgelehnt, damals auch mit dem Argument, dass das EuG noch nicht leistungsfähig genug sei. Jetzt aber ist das EuG voll ausgebaut, seit 2019 entsendet jeder EU-Staat zwei Richter:innen. Damit hat sich die Zahl der EuG-Richter:innen seit 2015, als diese Reform beschlossen wurde, auf 54 Personen verdoppelt.
Immerhin verliert der EuGH nicht völlig den Zugriff auf die übertragenen Vorabentscheidungs-Materien. Schon 2001 war festgelegt worden, dass das EuG Fragen von grundsätzlicher Bedeutung dann doch dem EuGH zurücküberweisen muss. Außerdem ist ein Überprüfungsverfahren für Vorabentscheidungsurteile des EuG vorgesehen, "wenn die ernste Gefahr besteht, dass die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berührt wird". Den Antrag muss ggf. der Erste Generalanwalt stellen, so Art. 194 der EuGH-Verfahrensordnung.
Der EuGH hofft, dass die Beschlussfassung in Rat und EP im Laufe des Jahres 2023 erfolgt. Die Beratungen in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe beginnen in diesem Februar. Wie die Bundesregierung zu dieser Initiative steht, ist noch nicht bekannt. Die Meinungsbildung des Kabinetts sei noch nicht abgeschlossen, heißt es. Der EuGH würde es jedenfalls begrüßen, wenn die Reform Anfang 2024 in Kraft tritt.
Reformvorschlag des EuGH: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51035 (abgerufen am: 07.12.2024 )
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