Mit dem "Pakt für den Rechtsstaat" wollten Bund und Ländern die Gerichte endlich besser ausstatten. Doch nun heißt es, das reicht nicht. Ist die Justiz dauerhaft überlastet? Und würde ein zweiter Rechtsstaatspakt helfen?
Seit Jahren beklagt der Deutsche Richterbund (DRB) vor allem eins: Richterinnen und Richter kommen mit der Arbeit einfach nicht mehr hinterher. Die Staatsanwaltschaften erst recht nicht. Zu viele Verfahren, zu wenig Stellen, die Justiz gilt als massiv überlastet.
Es ist ein Thema, mit dem der Berufsverband immer wieder Schlagzeilen macht. Und eines, das den Bürgerinnen und Bürgern nicht egal ist: 74 Prozent der Bevölkerung halten die Gerichte für überlastet, 83 Prozent meinen, dass viele Verfahren zu lange dauern, das zeigte gerade erst der "Rechtsreport 2021" der Roland-Rechtsschutzversicherung.
Dem DRB ging es nicht nur um ein Gefühl, sondern um eine konkrete Zahl: 2.000 neue Stellen brauche es bundesweit, mindestens, forderte der Berufsverband immer wieder. 2019 sah es dann so aus, als könnte dieses Ziel erreicht werden: Bund und Länder einigten sich auf einen "Pakt für den Rechtsstaat". Die Länder sagten zu, insgesamt 2.000 neue Stellen zu schaffen, der Bund versprach 220 Millionen Euro in zwei Tranchen zu überweisen, um die Länder zu unterstützen.
Bis Mitte dieses Jahres wollen Bund und Länder erklären, wie weit sie gekommen sind. Eine LTO-Umfrage bei allen 16 Justizministerien zeigt: Alle Länder gehen davon aus, dass sie ihren Teil erfüllt haben und ausreichend Stellen geschaffen – in den meisten Fällen sogar mehr als das.
Dennoch werden nun schon Rufe nach einer Verlängerung des Rechtsstaatspaktes laut. Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) fordert erneut mindestens 220 Millionen vom Bund, um die Justiz in den Ländern zu finanzieren. Der DRB unterstützt das und auch die Neue Richtervereinigung, der zweitgrößte Berufsverband, hält den Rechtsstaatspakt für nicht ausreichend. Sind die Gerichte und Staatsanwaltschaften immer noch unterbesetzt? Und wie lässt sich überhaupt ermitteln, wie viele Richter und Staatsanwältinnen gebraucht werden?
Lässt sich die Belastung der Justiz berechnen?
Tatsächlich gibt es dafür ein System, das Personalbedarfberechnungssystem, kurz Pebbsy oder auch Pebb§y. Dabei werden für sämtliche Aufgaben Standardbearbeitungszeiten festgelegt – je nachdem wie viele Verfahren an den Gerichten und Staatsanwaltschaften eingehen, lässt sich so ein bestimmter Personalbedarf ermitteln. Vergleicht man diesen errechneten Personalbedarf mit dem tatsächlichen Personalbestand, zeigt sich, ob eine Personallücke besteht. So kam auch die Zahl von rund 2.000 fehlenden Vollzeitstellen zustande, die dann maßgeblich für den Rechtsstaatspakt wurde.
Das Pebbsy-System ist in der Justiz umstritten. Zum einen ist die Frage, wie realistisch die standardisierten Bearbeitungszeiten sind. Zum anderen wird der Personalbedarf dabei lediglich an den Eingangszahlen gemessen, auf die bestehenden Akten kommt es dagegen nicht an. "Wenn man ein Dezernat hat, das völlig übergelaufen ist, dann ist man damit beschäftigt, die Bestände abzuarbeiten, nicht die Eingänge", erklärt Dr. Charlotte Rau, Richterin am OLG Frankfurt am Main und stellvertretende Vorsitzende des Richterbundes Hessen. "Diese tatsächliche Belastung aufgrund hoher Bestände wird in Pebbsy nicht abgebildet, müsste aber als Parameter für den Personalbedarf berücksichtigt werden."
Dennoch dürfte das System, das regelmäßig überprüft wird, zumindest grob abbilden, wie hoch der Personalbedarf ist. Rau betont: "Wenn man den Personalbedarf nach Pebbsy berechnet, dann sollten die Justizverwaltungen zumindest die Zielvorgabe einer Pebbsy-Belastung von 100 Prozent verfolgen", wie es auch in einigen Bundesländern der Fall ist. Zumindest den selbst errechneten Bedarf sollten die Länder also abdecken. "Eine bedarfsgerechte personelle Ausstattung der Gerichte ist unabdingbar, um deren Funktionsfähigkeit zu sichern", so Rau.
Bisher ist nicht absehbar, dass mit den 2.000 Stellen, die im Zuge des Rechtsstaatspakts geschaffen werden, diese Personallücke tatsächlich geschlossen wird. Die meisten Länder melden derzeit Deckungsgrade um die 90 bis 95 Prozent. Bei den Staatsanwaltschaften sind es oft unter 90 Prozent. Etwas besser sieht es in einigen ostdeutschen Bundesländern aus, so in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Allerdings kommt auf den Osten eine Pensionierungswelle zu – hier wurde die Justiz nach der Wende aufgestockt und es ist absehbar, dass bald viele Richterinnen und Staatsanwälte ersetzt werden müssen.
Hinzu kommen womöglich schon bald neue Aufgaben für die Justiz. Sollte die große Koalition sich doch noch auf zwei Prestigeprojekte einigen – nämlich auf ein Gesetz gegen Hass und Hetze im Netz und auf Sanktionen für Unternehmen –, dann bräuchte es allein 500 neue Richter- und Staatsanwaltsstellen, um diese Gesetzesvorhaben umzusetzen, so der DRB.
Kommt jetzt die Corona-Verfahrenswelle?
Unklar ist auch, wie sich die Corona-Pandemie auf die Gerichte auswirken wird. Rau geht davon aus, dass sie zu einer deutlich höheren Belastung an den Strafgerichten führen wird: "Wir sehen jetzt schon mehr Ordnungswidrigkeiten wegen Verstößen gegen die Corona-Verordnungen und wir gehen auch davon aus, dass die Strafverfahren wegen Betrugs bei den Corona-Soforthilfen zunehmen werden."
Auch auf die Zivilgerichte kämen mehr Verfahren zu, so Rau: "Es gibt mehr Nachlasssachen, weil eben wirklich mehr Menschen sterben. Und obwohl viel weniger Menschen verreisen, haben die reiserechtlichen Verfahren zugenommen, da geht es oft um Corona-bedingte Stornierungen. Im Mietrecht gibt es auch viele Streitigkeiten, auch das hängt oft mit der Pandemie zusammen, die dazu geführt hat, dass Mieter in Zahlungsschwierigkeiten geraten – solche Fälle müssen oft dringlich verhandelt werden." Die Zivilgerichte rechnen außerdem mit einer Welle von Insolvenzverfahren. Noch ist die Zahl der Insolvenzen erstaunlich niedrig, aber das kann auch daran liegen, dass die Unternehmen das Ende des Lockdowns abwarten.
Auch auf die Arbeits- und Sozialgerichte und auf Verwaltungsgerichte könnte sich die Corona-Pandemie auswirken. Damit rechnet etwa Dr. Helmut Nause, Präsident des Landesarbeitsgerichts Hamburg, der ebenfalls die Hamburger Forderung nach einer Verlängerung des Rechtsstaatspakts unterstützt: "Unsicherheiten führen dazu, dass sich mehr Bürgerinnen und Bürger an die Gerichte wenden", sagte er bei der Hamburger Online-Pressekonferenz im Februar.
Es gibt aber auch Richterinnen und Richter, die davon berichten, dass sie im Corona-Jahr 2020 endlich Aktenstapel abarbeiten konnten – etwa weil weniger mündliche Verhandlungen anfielen als die Gerichte in den Notbetrieb schalteten. Noch lässt sich statistisch nicht nachvollziehen, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Gerichte haben wird. Und es ist auch nicht klar, ob es womöglich an anderer Stelle Entlastung geben wird.
Mehr Geld vom Bund?
Die Gelder aus dem Rechtsstaatspakt können die neu geschaffenen Stellen nicht dauerhaft finanzieren – sie sind dafür auch nicht gedacht. Die vom Bund zugesagten 220 Millionen sind lediglich eine Anschubfinanzierung, es handelt sich dabei um Festbeträge im Rahmen der vertikalen Umsatzsteuerverteilung.
Grundsätzlich bleiben die Länder dafür zuständig, ihre Justiz auszustatten und zu finanzieren. Geld vom Bund ist aber angesichts knapper Haushalte, die durch Corona-Maßnahmen erst recht belastet sind, immer willkommen. Dennoch wollen sich nicht alle Bundesländer dem Hamburger Vorschlag ohne Weiteres anschließen.
Auf Anfrage von LTO betonen mehrere Länder, dass es ihnen vor allem auf eine dauerhafte Perspektive ankommt. So teilt das rheinland-pfälzische Justizministerium mit: "Wichtiger als immer neue Almosen des Bundes wäre eine dauerhaft verbesserte Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern und die Verankerung des Konnexitätsprinzips im Grundgesetz."
Auch aus dem hessischen Justizministerium heißt es, eine finanzielle Beteiligung des Bundes sei grundsätzlich willkommen, sie müsse "jedoch völlig anders ausgestaltet sein als der Pakt für den Rechtsstaat und auf eine tragfähige Grundlage gestellt werden". Auch Baden-Württemberg, Bremen und Niedersachsen betonen, dass es ein längerfristiges Engagement des Bundes geben müsse. Das Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen wollen sich jedenfalls dem Hamburger Vorschlag anschließen. Bayern hingegen will den Bericht über die Umsetzung des Rechtsstaatspaktes abwarten, auch Brandenburg prüft noch, wie es sich zu dem Vorschlag verhalten wird.
Es geht den Ländern dabei nicht nur um Personalkosten. So schlägt das nordrhein-westfälische Justizministerium einen "Stärkungspakt Justiz" vor, in dem "vor allem die Digitalisierung der Justiz und der Erhalt der Justizgebäude aus Bundesmitteln sichergestellt wird". Auch viele andere Länder erklären, dass sie Hilfe insbesondere bei der technischen Ausstattung brauchen könnten – in der Coronakrise sei klar geworden, dass die Justiz schnell mehr Möglichkeiten anbieten muss, aus dem Homeoffice zu arbeiten und Verhandlungen an allen Gerichten auch per Videokonferenz zu führen.
Nur: Auch das ist – grundsätzlich – Aufgabe der Länder, nicht des Bundes.
Personalmangel in der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 10.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44465 (abgerufen am: 16.10.2024 )
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